3. Die Zwiebel
Gruschenka wohnte im belebtesten Stadtteil, nicht weit vom Kirchplatz, bei der Kaufmannswitwe Morosowa, von der sie ein kleines hölzernes Seitengebäude auf dem Hof gemietet hatte. Das eigentliche Haus der Witwe Morosowa war groß, aus Stein, zweistöckig, alt und sehr unansehnlich; darin wohnte nur sie selbst, eine alte Frau, mit ihren beiden, ebenfalls sehr bejahrten Nichten. Sie hatte es nicht nötig, ihr Seitengebäude zu vermieten; aber jeder wußte, daß sie schon vor vier Jahren Gruschenka aus einem ganz bestimmten Grund als Mieterin aufgenommen hatte, nämlich um ihrem Verwandten, dem Kaufmann Samsonow, Gruschenkas Beschützer, damit einen Gefallen zu tun. Es hieß, der eifersüchtige Alte habe, als er seine Favoritin bei Frau Morosowa einquartierte, ursprünglich damit gerechnet, die alte Frau würde auf ihre neue Mieterin aufpassen. Aber das erwies sich sehr bald als unnötig, und schließlich ergab es sich, daß Frau Morosowa nur selten mit Gruschenka zusammenkam und sie zuletzt gar nicht mehr mit irgendwelcher Aufsicht belästigte. Freilich waren auch schon vier Jahre vergangen, seit der Alte das achtzehnjährige Mädchen, ein schüchternes, unbeholfenes mageres, melancholisches Wesen, aus der Gouvernementsstadt in dieses Haus gebracht hatte, und seitdem war schon viel Wasser ins Meer geflossen.
Den Lebenslauf dieses jungen Mädchens kannte man bei uns in der Stadt übrigens nur mangelhaft, auch in der letzten Zeit hatte man nicht mehr erfahren, obgleich sich inzwischen viele für diese „Schönheit ersten Ranges« interessierten, in die sich Agrafena Alexandrowna im Laufe der vier Jahre verwandelt hatte. Es verlautete nur gerüchtweise, sie sei schon als siebzehnjähriges Mädchen angeblich von einem Offizier verführt und dann verlassen worden. Der Offizier sei versetzt worden und habe später irgendwo geheiratet, und Gruschenka sei in Schande und Armut zurückgeblieben. Man sagte übrigens noch, Gruschenka sei zwar tatsächlich von dem alten Samsonow aus der Armut gerettet worden, stamme aber aus einer achtbaren Familie, sozusagen aus dem geistlichen Stand; ihr Vater sei Hilfsdiakonus oder so etwas Ähnliches gewesen. Jedenfalls war nun im Laufe von vier Jahren aus der ängstlichen, betrogenen Waise eine rotwangige, üppige russische Schönheit geworden, eine Frau von entschlossenem Charakter, stolz und dreist und im Umgang mit Geldsachen so geschickt, daß sie es, so wurde behauptet, auf rechtmäßige oder unrechtmäßige Weise bereits fertiggebracht hatte, sich ein eigenes kleines Kapital zusammenzusparen. In einem Punkt waren sich alle einig: Es war schwer, zu Gruschenka Zutritt zu erlangen, und außer dem Alten, ihrem Beschützer, hatte sich in den ganzen vier Jahren kein Mensch ihrer Gunst rühmen können. Und diese Gunst zu erwerben, hatten sich nicht wenige Liebhaber bemüht, besonders in den letzten zwei Jahren. Doch alle Versuche hatten sich als vergeblich erwiesen, und manche Bewerber waren infolge des energischen, spöttischen Widerstandes seitens der charakterstarken jungen Frau sogar zu einem komischen und schimpflichen Rückzug gezwungen. Man wußte auch noch, daß sie sich vor allem im letzten Jahr auf sogenannte „profitable Geschäfte« gelegt und dabei hervorragende Fähigkeiten bekundet hatte, so daß viele sie schließlich als Jüdin bezeichneten. Nicht daß sie Geld auf Zinsen ausgeliehen hätte; aber es war zum Beispiel bekannt, daß sie sich zusammen mit Fjodor Pawlowitsch Karamasow eine Zeitlang tatsächlich damit beschäftigt hatte, Wechsel zu einem geringen Preis aufzukaufen, den Rubel für zehn Kopeken, und daß sie später mit manchen dieser Wechsel für zehn Kopeken einen Rubel erhalten hatte.
Der kranke Samsonow, dessen geschwollene Beine im letzten Jahr völlig steif geworden waren, ein Witwer, Tyrann seiner erwachsenen Söhne, Besitzer von vielen hunderttausend Rubeln, ein unerbittlicher Geizhals, war arg unter die Botmäßigkeit seines Schützlings geraten, obwohl er anfangs beabsichtigt hatte, sie kurz- und knappzuhalten, „bei Fastenöl«, wie Spottlustige sagten. Gruschenka hatte es jedoch verstanden, sich zu emanzipieren, wobei sie ihm ein grenzenloses Vertrauen zu ihrer Treue eingeflößt hatte. Dieser alte Mann, ein ausgezeichneter Geschäftsmann, besaß ebenfalls einen außerordentlich festen Charakter; vor allem war er geizig und hart wie Stein, und obgleich ihn Gruschenka so gefesselt hatte, daß er ohne sie nicht leben konnte — namentlich in den zwei letzten Jahren war das der Fall —, überwies er ihr doch kein größeres Kapital. Und selbst wenn sie gedroht hätte, völlig mit ihm zu brechen, er wäre auch dann unerbittlich geblieben. Wohl aber gab er ihr ein kleines Kapital; als das bekannt wurde, gerieten auch darüber alle in Erstaunen.
„Du bist ein kluges Frauenzimmer«, sagte er zu ihr, als er ihr ungefähr achttausend Rubel aushändigte. „Arbeite selbst mit dem Geld. Und merke dir, daß du außer deinem Jahresunterhalt wie bisher bis zu meinem Tode weiter nichts von mir bekommen wirst! Und auch in meinem Testament werde ich dir nichts weiter vermachen!«
Und er hielt Wort: Er starb und hinterließ alles seinen Söhnen, die er sein Leben lang in seinem Hause gehalten und mit den Dienern auf gleiche Stufe gestellt hatte, sowie deren Frauen und Kindern; Gruschenka war in dem Testament überhaupt nicht erwähnt. Alles das wurde erst später bekannt.
Mit Ratschlägen, wie sie mit ihrem eigenen Kapital arbeiten sollte, und mit dem Nachweis diesbezüglicher Geschäfte half er Gruschenka allerdings nicht wenig. Als sich Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der ursprünglich wegen eines zufälligen Geschäftes mit Gruschenka in Verbindung getreten war, schließlich zu seiner eigenen großen Überraschung sinnlos in sie verliebte und geradezu den Verstand darüber verlor, da lachte der alte Samsonow, damals schon ein Todeskandidat, gewaltig. Es ist bemerkenswert, daß Gruschenka während der ganzen Zeit ihrer Bekanntschaft ihrem Alten gegenüber vollkommen aufrichtig war, und zwar anscheinend von Herzen; offenbar war er der einzige Mensch auf der Welt, vor dem sie sich so benahm.
Als auf einmal auch Dmitri Fjodorowitsch mit seiner Liebe auf den Plan trat, hörte der Alte auf zu lachen. Vielmehr gab er Gruschenka in ernstem Ton folgenden Rat: „Wenn du glaubst, einen von beiden wählen zu müssen, Vater oder Sohn, so wähle den Alten! Aber nur unter der Bedingung, daß der alte Schuft dich unter allen Umständen heiratet und dir vorher wenigstens ein einigermaßen beträchtliches Kapital verschreibt. Doch mit dem Hauptmann gib dich nicht ab, dabei kommt nichts heraus!« Dies waren die Worte des alten Lüstlings, der damals schon seinen nahen Tod ahnte und wirklich fünf Monate danach starb.
Ich bemerke noch nebenbei, daß bei uns in der Stadt damals zwar viele von der absurden Nebenbuhlerschaft zwischen den beiden Karamasows um Gruschenka wußten, daß aber kaum jemand etwas von den wahren Beziehungen Gruschenkas zu dem Alten und dem Sohn wußte. Selbst Gruschenkas Dienerinnen sagten später, nachdem die Katastrophe hereingebrochen war, von der noch die Rede sein wird, vor Gericht aus, Agrafena Alexandrowna habe Dmitri Fjodorowitsch nur aus Angst empfangen, weil er gedroht habe, sie zu töten. Dienerinnen hatte sie zwei: eine alte, kranke und beinahe taube Köchin, die noch aus ihrem Elternhaus stammte, und deren Enkelin, ein junges, munteres Ding von etwa zwanzig Jahren, das Stubenmädchen. Ansonsten lebte Gruschenka sehr sparsam, und auch ihre Einrichtung war nur dürftig. Sie hatte in dem Seitengebäude drei Zimmer, die von der Wirtin nach der Mode der zwanziger Jahre mit alten Mahagonimöbeln ausgestattet waren.
Als Rakitin und Aljoscha bei ihr eintraten, herrschte draußen schon Dämmerung, aber die Zimmer waren noch nicht erleuchtet. Gruschenka lag in ihrem Salon auf einem großen, plumpen, harten Sofa mit einer Rücklehne aus imitiertem Mahagoniholz, das mit stark abgewetztem und zerlöchertem Leder bezogen war. Unter dem Kopf hatte sie zwei weiße Federkissen aus ihrem Bett. Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen, beide Hände hinter den Kopf gelegt. Als ob sie Besuch erwartete, trug sie ein schwarzes Seidenkleid und auf dem Kopf ein leichtes Spitzenhäubchen, das ihr sehr gut stand; um die Schultern hatte sie ein Spitzentuch geworfen, das von einer massiv goldenen Brosche zusammengehalten wurde. Sie erwartete wirklich jemand und schien ungeduldig und erregt mit dem etwas blassen Gesicht und den brennenden Lippen und Augen; mit der Spitze des rechten Fußes klopfte sie ungeduldig gegen die Seitenlehne des Sofas.
Kaum erschienen Rakitin und Aljoscha, entstand ein kleiner Tumult. Vom Vorzimmer aus war zu hören, wie Gruschenka vom Sofa aufsprang und erschrocken rief : „Wer ist da?«
Aber das Mädchen, das die Besucher empfangen hatte, teilte ihrer Herrin sogleich mit: „Er ist es nicht, es sind andere.«
„Was mag sie nur haben?« murmelte Rakitin, während er Aljoscha an der Hand in den Salon führte.
Gruschenka stand neben dem Sofa und schien immer noch erschrocken. Eine dicke Flechte ihres dunkelblonden Haares löste sich plötzlich und fiel ihr auf die rechte Schulter; doch sie beachtete es nicht und brachte es nicht in Ordnung, bevor sie die Gäste angesehen und erkannt hatte.
„Ach, du bist es, Rakitka! Wie du mich erschreckt hast! Mit wem kommst du da? Wen hast du da bei dir? Herrgott, sieh mal einer an, wen er da mitgebracht hat!« rief sie, als sie Aljoscha erkannte.
„Laß doch Licht bringen!« sagte Rakitin mit der Ungeniertheit eines nahen Bekannten und intimen Freundes, der sogar berechtigt ist, im Haus Anordnungen zu treffen.
„Licht … Gewiß, Licht … Fenja, bring eine Kerze! Na, hast du es endlich möglich gemacht, ihn herzubringen!« rief sie wieder, mit einem Kopfnicken auf Aljoscha deutend; dann wandte sie sich zum Spiegel und begann mit beiden Händen rasch ihr Haar zu ordnen.
Sie schien mit irgend etwas unzufrieden zu sein.
„Bin ich ungelegen gekommen?« fragte Rakitin, der sich gleich beleidigt fühlte.
„Du hast mich erschreckt, Rakitka, weiter nichts«, erwiderte Gruschenka und wandte sich dann lächelnd an Aljoscha. „Fürchte dich nicht vor mir, Aljoscha, mein Täubchen. Ich freue mich furchtbar, daß du gekommen bist, du mein unerwarteter Gast. Aber du hast mich erschreckt, Rakitka! Ich dachte nämlich, Mitja wäre es: Siehst du, ich habe ihn vorhin belogen und ihm das Ehrenwort abgenommen, daß er mir glaubt. Ich habe ihm gesagt, ich bin den ganzen Abend bei Kusma Kusmitsch, meinem Alten, um mit ihm bis in die Nacht hinein Geld zu zählen. Ich gehe ja jede Woche einen ganzen Abend zu ihm, um mit ihm die Bilanz zu machen. Wir schließen uns dann ein, er klappert mit der Rechenmaschine, und ich trage die Zahlen ins Buch ein — ich bin der einzige Mensch, dem er Vertrauen schenkt. Mitja hat mir geglaubt, daß ich heute dort bin, doch ich habe mich hier zu Hause eingeschlossen — ich sitze hier und warte auf eine Nachricht. Wieso hat euch Fenja nur hereingelassen! Fenja, Fenja! Lauf ans Tor, mach auf und sieh dich um, ob nicht der Hauptmann da irgendwo ist. Vielleicht hat er sich versteckt und lauert, ich habe eine Todesangst!«
„Es ist niemand da, Agrafena Alexandrowna. Ich habe mich eben überall umgesehen. Ich gehe auch alle Augenblicke und sehe durchs Schlüsselloch, ich zittere selber vor Angst.«
„Sind auch die Fensterläden geschlossen, Fenja? Auch die Vorhänge müßten zugezogen sein — siehst du, so!« Sie zog selbst die schweren Vorhänge zu. „Sonst kommt er herein, wenn er Licht sieht. Vor deinem Bruder Mitja habe ich heute Angst, Aljoscha.«
Gruschenka sprach laut; sie war beunruhigt, aber doch auch irgendwie verzückt.
„Warum fürchtest du dich gerade heute so vor Mitenka?« erkundigte sich Rakitin. „Ich meine, du bist doch sonst nicht ängstlich ihm gegenüber? Er tanzt ja nach deiner Pfeife.«
„Ich sage dir doch, ich erwarte eine Nachricht, eine wunderschöne Nachricht, so daß ich Mitenka jetzt überhaupt nicht gebrauchen kann. Und ich ahne auch, er hat es mir nicht geglaubt, daß ich für den ganzen Abend zu Kusma Kusmitsch gegangen bin. Wahrscheinlich sitzt er jetzt in einem Garten in der Nähe von Fjodor Pawlowitschs Grundstück und lauert mir auf. Na, wenn er sich dort festgesetzt hat, kann er nicht hierherkommen, um so besser! Mitja hat mich ja selbst zu Kusma Kusmitsch begleitet; ich habe ihm gesagt, ich würde bis Mitternacht da bleiben und er solle unter allen Umständen um Mitternacht kommen, um mich nach Hause zu bringen. Ich habe aber nur etwa zehn Minuten bei dem Alten gesessen und bin dann wieder hierher zurückgekehrt. Ach, ich hatte solche Angst und bin so gelaufen, um ihm nur ja nicht zu begegnen.«
„Und wozu hast du dich so herausgeputzt? Sich mal an, was hast du für ein allerliebstes Häubchen auf dem Kopf?«
„Sei doch nicht so neugierig, Rakitin! Ich sage dir ja, ich erwarte eine gewisse Nachricht. Wenn die Nachricht eintrifft, springe ich auf und fliege davon und bin für euch hier verschwunden. Ich habe mich schöngemacht, um fix und fertig zu sein.«
„Wohin wirst du denn fliegen?«
„Zuviel wissen macht alt.«
„Sieh mal an, du bist ja ganz närrisch vor Freude! So habe ich dich noch nie gesehen. Du hast Toilette gemacht wie zu einem Ball«, sagte Rakitin, sie von oben bis unten betrachtend.
„Du verstehst ja besonders viel von Bällen!«
„Du etwa?«
„Ich habe wenigstens mal einen Ball mit angesehen. Vor zwei Jahren richtete Kusma Kusmitsch einem seiner Söhne die Hochzeit aus, da habe ich von der Galerie aus zugesehen. Aber es gehört sich nicht, daß ich mich mit dir unterhalte, Rakitka, wenn so ein Prinz daneben steht. Das ist wenigstens mal ein Gast! Aljoscha, Täubchen, ich sehe dich an und kann es gar nicht glauben! Herrgott, daß du zu mir gekommen bist! Die Wahrheit zu sagen, ich habe das nicht erwartet. Und auch früher habe ich es nie für möglich gehalten, daß du zu mir kommen würdest. Dein Besuch fällt zwar nicht auf den günstigsten Moment, aber ich freue mich doch gewaltig! Setz dich auf das Sofa, bitte hierher, so. Wahrhaftig, ich kann es noch gar nicht fassen! Ach, Rakitka, du hättest ihn gestern oder vorgestern herbringen sollen! Na, ich freue mich auch so. Vielleicht ist es auch besser, daß er heute gekommen ist, gerade in so einem Augenblick, und nicht vorgestern …«
Sie setzte sich übermütig zu Aljoscha auf das Sofa, dicht neben ihn, und sah ihn mit unverhohlener Freude an. Sie freute sich wirklich; sie log nicht, wenn sie das sagte. Ihre Augen leuchteten, ihr Mund lachte, lachte gutmütig und vergnügt. Aljoscha hatte so einen gutmütigen Gesichtsausdruck von ihr nicht erwartet. Er war ihr bis zum vorgestrigen Tage nur selten begegnet und hatte sich von ihr eine schreckliche Vorstellung gemacht. Vorgestern nun hatte ihn ihr boshafter, heimtückischer Ausfall gegen Katerina Iwanowna zutiefst erschüttert; und so war er jetzt um so mehr erstaunt, sie auf einmal unerwarteterweise so ganz anders zu sehen. Und wie sehr ihn auch sein eigener Kummer bedrückte, schaute er sie doch unwillkürlich mit Interesse an. Auch ihr äußeres Benehmen hatte sich seit dem vorigen Tag völlig zum Guten hin verändert: die Süßlichkeit der Aussprache, die manierierten Bewegungen waren fast vollständig verschwunden, alles an ihr wirkte schlicht und harmlos, ihre Bewegungen waren ungezwungen und zutraulich; nur war sie sehr aufgeregt.
„Herrgott, was heute aber auch alles passiert, wahrhaftig«, plapperte sie von neuem. „Und warum ich mich über dein Kommen so freue, Aljoscha, weiß ich eigentlich selbst nicht. Wenn du mich danach fragst, weiß ich es nicht.«
„So, nun weißt du nicht einmal mehr, worüber du dich freust?« sagte Rakitin lächelnd. „Warum hast du mir dann früher immer zugesetzt: ‚Bring ihn her, bring ihn her!‘ Du mußt doch eine Absicht dabei gehabt haben.«
„Früher hatte ich eine Absicht dabei, aber das ist jetzt vorüber, das verträgt sich nicht mit der jetzigen Lage … Wißt ihr, ich werde euch etwas vorsetzen. Ich bin jetzt großzügig geworden, Rakitka. Aber setz dich doch auch, Rakitka, was stehst du? Oder hast du dich bereits gesetzt? Da kann man unbesorgt sein, mein Rakituschka wird sich schon nicht vergessen. Siehst du, Aljoscha, da sitzt er uns nun gegenüber und fühlt sich gekränkt, weil ich ihn nicht eher als dich aufgefordert habe sich zu setzen. Ja, mein Rakitka ist empfindlich, sehr empfindlich!« sagte Gruschenka lachend. „Sei nicht ärgerlich, Rakitka, heute bin ich großzügig … Warum sitzt du so traurig da, Aljoschetschka? Hast du etwa Angst vor mir?« Sie blickte ihn mit lustigem Spott an.
„Er hat Kummer. Die erwartete Beförderung ist ausgeblieben«, sagte Rakitin.
„Was für eine Beförderung?«
„Sein Starez hat angefangen zu stinken.«
„Was heißt das? Du schwatzt irgendwelchen Unsinn, willst irgendwas Schändliches sagen. Sei still, du Dummkopf! Erlaubst du, Aljoscha, daß ich mich auf deinen Schoß setze? Siehst du, so!« Und sie sprang auf, setzte sich ihm lachend auf den Schoß wie ein schmeichelndes Kätzchen und legte den rechten Arm um seinen Hals. „Ich will dich aufheitern, mein frommer Junge! Nein, wirklich, erlaubst du, daß ich auf deinem Schoß sitze? Bist du auch nicht böse darüber? Wenn du befiehlst springe ich sofort wieder herunter.«
Aljoscha schwieg. Er saß da und wagte sich nicht zu rühren Er hörte ihre Worte. „Wenn du befiehlst, springe ich sofort wieder herunter.« Doch er antwortete nicht, als ob er erstarrt wäre. Aber er empfand etwas gänzlich anderes, als Rakitin jetzt bei ihm erwarten mochte, der von seinem Platz aus lüstern die Szene beobachtete. Der große Kummer seiner Seele übertäubte alle Gefühle, die sich in seinem Herzen hätten regen können, und wenn er sich selbst in diesem Augenblick volle Rechenschaft hätte geben können, hätte er selbst erkannt, daß er jetzt gegen jede Verführung und Versuchung auf das festeste gewappnet war. Doch trotz seines seelischen Zustandes, trotz seines bedrückenden Kummers wunderte er sich unwillkürlich über eine neue, seltsame Empfindung in seinem Herzen: Diese „furchtbare« Frau flößte ihm jetzt nicht mehr die Furcht ein, die ihn früher bei jedem flüchtigen Gedanken an eine Frau befallen hatte; nein, ganz im Gegenteil — diese Frau, die er mehr als alle anderen gefürchtet hatte und die jetzt auf seinem Schoß saß und ihn umarmte, erweckte in ihm plötzlich ein ganz anderes, unerwartetes, eigenartiges Gefühl, das einer ungewöhnlichen, übermächtigen, unschuldigen Anteilnahme für sie, das frei war von Furcht und Schrecken! Das war die Hauptsache und versetzte ihn unwillkürlich in Erstaunen.
„Na, nun könntet ihr aber aufhören, Unsinn zu schwatzen!«, rief Rakitin. „Laß uns lieber Champagner bringen, das bist du uns schuldig, wie du selber wissen wirst.«
„Das ist richtig, ich bin es euch schuldig. Ich habe ihm nämlich außer allem anderen auch Champagner versprochen, falls er dich herbringt, Aljoscha. Also her mit dem Champagner, ich werde selbst mittrinken! Fenja, bring uns Champagner! Die Flasche, die Mitja hiergelassen hat, schnell. So geizig ich sonst bin — ich will euch eine Flasche spendieren! Nicht dir, Rakitka, du bist nur so eine Art Pilz, aber er ist ein Prinz! Und wenn meine Seele auch jetzt von etwas anderem voll ist, will ich doch meinetwegen mit euch mittrinken; ich habe Lust, einmal ausgelassen zu sein!«
„Was für ein wichtiger Augenblick ist denn jetzt für dich? Was ist das für eine Nachricht, die du erwartest? Darf man danach fragen, oder ist es ein Geheimnis?« mischte sich Rakitin wieder voll Neugier ein; er gab sich die größte Mühe, so zu tun, als beachte er die Seitenhiebe gar nicht, die ihm Gruschenka fortwährend versetzte.
„Ach was, ein Geheimnis ist es nicht, und du weißt ja auch selbst schon davon«, sagte Gruschenka plötzlich ganz ernst; sie drehte den Kopf zu Rakitin und wandte sich ein wenig von Aljoscha ab, obwohl sie auf seinem Schoß sitzen blieb und den Arm um seinen Hals geschlungen hielt. „Der Offizier kommt, Rakitin! Mein Offizier kommt!«
„Daß er kommen wird, habe ich gehört. Aber steht das schon so nahe bevor?«
„Er ist jetzt in Mokroje, und von dort wird er eine Stafette herschicken. So hat er selbst geschrieben, vorhin habe ich einen Brief von ihm erhalten. Nun sitze ich hier und warte auf die Stafette.«
„Ei sich mal an! Wieso ist er denn in Mokroje?«
„Es dauert zu lange, das zu erzählen! Und für dich genügt auch das, was ich gesagt habe.«
„Hm, hm, und Mitenka? O weh, o weh! Weiß er es denn oder nicht?«
„Wie sollte er es wissen? Gar nichts weiß er! Wenn er es wüßte, würde er mich ermorden. Aber davor fürchte ich mich jetzt gar nicht, ich fürchte mich jetzt nicht vor seinem Messer! Schweig, Rakitka, erinnere mich nicht an Dmitri Fjodorowitsch; er hat mir mein Herz müde und matt gemacht. Ich mag in diesem Augenblick an all diese Dinge nicht denken. Aber an Aljoschetschka hier kann ich denken, den sehe ich mit Vergnügen an. Ja, lächle du nur über mich, mein Täubchen, werde ruhig heiter, lächle über meine Dummheit und über meine Freude! Aber da hat er ja gelächelt, er hat gelächelt! Sieh nur, was für ein freundliches Gesicht er macht! Weißt du, Aljoscha, ich dachte immer, du bist mir wegen der Geschichte von vorgestern böse, wegen des vornehmen Fräuleins. Ich habe mich gemein benommen, das ist richtig. Und trotzdem ist es gut, daß es so gekommen ist. Es war schlecht und doch auch gut«, fügte Gruschenka mit einem nachdenklichen Lächeln hinzu, und für einen flüchtigen Augenblick zeigte sich ein Zug von Grausamkeit in ihrem Lächeln. „Mitja hat mit erzählt, sie hätte geschrien: ‚Ausgepeitscht müßte, sie werden!‘ Ich hatte sie aber auch zu sehr gekränkt. Sie hatte mich rufen lassen, wollte mich besiegen, mich mit ihrer Schokolade verführen … Nein, es war gut, daß es so kam«, sagte sie und lächelte wieder. „Aber da fürchte ich nun immer, daß du mir böse geworden bist …«
„Das ist wirklich so«, mischte sich, ernstlich erstaunt, Rakitin wieder in das Gespräch ein. „Sie fürchtet sich tatsächlich vor dir, Aljoscha. Vor dir harmlosem Hühnchen.«
„Für dich, Rakitka, mag er ein harmloses Hühnchen sein — warum? Weil du kein Gewissen hast, darum! Aber ich, siehst du, ich liebe ihn von Herzen, das ist der Grund! Glaubst du, Aljoscha, daß ich dich von ganzem Herzen liebe?«
„So etwas Schamloses! Da macht sie dir eine richtige Liebeserklärung!«
„Warum nicht? Ich liebe ihn ja.«
„Und der Offizier? Und die wunderschöne Nachricht aus Mokroje?«
„Das ist eine Sache für sich, etwas ganz anderes.«
„Da sieht man, wie es in einem Weiberkopf zugeht!«
„Mach mich nicht zornig, Rakitka! fiel Gruschenka scharf ein. „Das ist wirklich eine Sache für sich. Ich liebe Aljoscha auf eine andere Art und Weise. Allerdings hatte ich mir früher einen hinterlistigen Anschlag auf dich ausgesonnen, Aljoscha — ich bin ja ein gemeines, unberechenbares Geschöpf; doch zu anderen Zeiten sehe ich dich wieder als mein Gewissen an, Aljoscha. Ich denke immer: Wie muß so ein Mensch mich jetzt verachten! Auch vorgestern habe ich das gedacht, als ich von dem Fräulein wieder nach Hause lief. Schon seit langem habe ich mein Augenmerk auf dich gerichtet, Aljoscha! Auch Mitja weiß das, ich habe es ihm gesagt. Und Mitja hat dafür Verständnis. Wahrhaftig, Aljoscha, manchmal sehe ich dich an und schäme mich, vor mir selbst schäme ich mich … Aber wie es gekommen ist, daß ich so über dich denke, und seit wann ich das tue, weiß ich nicht, daran kann ich mich nicht erinnern.«
Fenja kam herein und stellte ein Tablett mit einer entkorkten Flasche und drei vollgegossenen Gläsern auf den Tisch.
„Da ist ja auch der Champagner gekommen!« rief Rakitin. „Du bist aufgeregt und außer dir, Agrafena Alexandrowna. Wenn du ein Glas trinkst, wirst du anfangen zu tanzen. O weh, nicht einmal das bringen sie ordentlich zustande!« fügte er nach einem Blick auf den Champagner hinzu. „Die Alte hat ihn in der Küche eingeschenkt, und Fenja hat die Flasche ohne den Korken hereingebracht, und der Wein ist nicht gekühlt. Na, trinken wir ihn halt so!«
Er trat an den Tisch, nahm ein Glas, trank es in einem Zug aus und goß sich ein zweites ein.
„Zu Champagner kommt man nicht oft«, sagte er, sich die Lippen leckend. „Na, nun zu, Aljoscha! Nimm ein Glas und zeig, was du kannst! Worauf wollen wir trinken? Auf die Pforten des Paradieses? Nimm auch ein Glas, Gruscha! Trink auch auf die Pforten des Paradieses!«
„Auf was für Pforten des Paradieses?«
Sie nahm ein Glas.
Aljoscha nahm seins, trank ein Schlückchen und stellte das Glas wieder hin.
„Nein, lieber nicht!« sagte er mit leisem Lächeln.
„Wo du dich doch so gerühmt hast!« rief Rakitin.
„Nun, dann werde ich auch nicht trinken«, fiel Gruschenka ein. „Ich habe auch gar keine Lust. Trink die ganze Flasche allein aus, Rakitka! Wenn Aljoscha trinkt, dann werde ich auch trinken.«
„Was sind das für kalbrige Zärtlichkeiten!« höhnte Rakitin. „Und dabei sitzt sie sogar auf seinem Schoß! Er hat nun wirklich seinen Kummer — und was hast du? Er hat sich gegen seinen Gott empört und wollte Wurst essen …«
„Was soll das heißen?«
„Sein Starez ist heute gestorben. Der Starez Sossima, der Heilige.«
„Ist der Starez Sossima tatsächlich gestorben?« rief Gruschenka. „Herrgott, und ich habe es nicht gewußt! Herrgott, was tue ich da, ich sitze jetzt auf seinem Schoß!« fuhr sie erschrocken fort, sprang auf und setzte sich aufs Sofa.
Aljoscha blickte sie lange erstaunt an, und sein Gesicht schien sich auf einmal zu erhellen.
„Rakitin!« sagte er plötzlich laut und fest. „Verhöhne mich nicht, als ob ich mich gegen meinen Gott empört hätte. Ich möchte dir nicht böse werden, darum sei auch du gütiger! Ich habe einen Schatz verloren, wie du ihn nie besessen hast, und du kannst jetzt nicht mein Richter sein. Schau lieber sie an! Hast du gesehen, welche zarte Rücksicht sie auf mich genommen hat? Ich kam her in der Erwartung, eine böse Seele zu finden. Es zog mich, weil ich selbst gemein und schlecht war. Doch ich fand eine aufrichtige Schwester, ich fand einen Schatz, eine liebende Seele … Sie hat mich soeben ganz zart geschont … Agrafena Alexandrowna, ich rede von dir. Du hast meine Seele soeben wieder aufgerichtet.«
Seine Lippen bebten, und er atmete nur mühsam. Dann hielt er inne.
„Das klingt ja, als ob sie dich gerettet hätte!« rief Rakitin boshaft lachend. „Und dabei hat sie dich verführen wollen, weißt du das?«
„Halt, Rakitka!« rief Gruschenka und sprang auf. „Schweigt alle beide! Jetzt werde ich alles sagen! Du, Aljoscha, schweig, weit ich mich schäme, wenn du so von mir sprichst — denn ich bin eine schlechte Person, jawohl, das bin ich. Und du, Rakitka, schweig, weil du die Unwahrheit sagst. Ich hatte den gemeinen Plan und wollte ihn verführen. Aber jetzt redest du die Unwahrheit, jetzt liegt die Sache ganz anders … Und ich will jetzt kein Wort mehr von dir hören, Rakitka!«
Alles dies sagte Gruschenka in größter Erregung.
„Nun sieh einer an, sie sind beide wütend geworden!« zischte Rakitin, der sie erstaunt ansah. „Wie die Verrückten sind sie! Es ist, als ob ich in ein Irrenhaus geraten wäre. Sie sind beide weich und schwach geworden und werden gleich anfangen zu weinen!«
„Ich werde auch anfangen zu weinen!« rief Gruschenka. „Er hat mich seine Schwester genannt, und das werde ich im Leben nicht vergessen! Nur das will ich noch sagen, Rakitka: Ich bin zwar schlecht, aber ich habe doch eine Zwiebel weggeschenkt!«
„Was für eine Zwiebel? Hol's der Teufel, die sind tatsächlich verrückt geworden!«
Rakitin war erstaunt über die exaltierte Stimmung der beiden, fühlte sich gekränkt und ärgerte sich; er hätte sich indessen sagen können, daß bei beiden alles, was ihre Seelen nur erschüttern konnte, auf eine Weise zusammengetroffen war, wie es im Leben nicht häufig vorkommt. Doch Rakitin, der ein sehr feines Verständnis für alles hatte, was ihn selbst betraf, war sehr ungeschickt, wo es sich darum handelte, die Gefühle und Empfindungen anderer Menschen zu verstehen; das lag teils an seiner jugendlichen Unerfahrenheit, teils auch an seinem großen Egoismus.
„Siehst du, Aljoschetschka«, sagte Gruschenka nervös lachend und wandte sich ihm wieder zu, „vor Rakitka habe ich mich damit gerühmt, daß ich eine Zwiebel weggeschenkt habe. Vor dir rühme ich mich nicht damit, ich will dir das in anderer Absicht erzählen. Es ist nur eine Legende, aber eine gute Legende; ich habe sie, als ich noch ein Kind war, von Matrjona gehört, die jetzt bei mir als Köchin dient. Hör zu. ‚Es war einmal eine böse, sehr böse Frau, und die starb. Und als sie gestorben war, wußte niemand von irgendeiner guten Tat, die sie getan hätte. Da ergriffen sie die Teufel und warfen sie in den feurigen See. Aber ihr Schutzengel stand da und dachte: An welche gute Tat von ihr könnte ich mich wohl erinnern, um sie Gott vorzutragen? Da fiel ihm etwas ein, und er sagte zu Gott: Sie hat einmal eine Zwiebel aus ihrem Gemüsegarten einer Bettlerin geschenkt. Und da antwortete ihm Gott: Nimm diese Zwiebel und strecke sie der im See Schwimmenden hin! Soll sie sie ergreifen und sich an ihr festhalten! Und wenn du sie so aus dem See herausziehen kannst, mag sie ins Paradies eingehen. Wenn aber die Zwiebel abreißt, soll das Weib da bleiben, wo sie jetzt ist. Der Engel lief zu ihr und streckte ihr die Zwiebel entgegen. Da, sagte er, ergreif sie und halte dich daran fest! Und er begann sie vorsichtig herauszuziehen und hatte sie schon fast herausgezogen; doch als die übrigen Sünder in dem See sahen, daß diese Frau herausgezogen wurde, da klammerten sie sich alle an sie, um ebenfalls herausgezogen zu werden. Sie aber wurde böse, sehr böse, stieß mit den Füßen nach ihnen und schrie: Ich werde herausgezogen, nicht ihr! Das ist meine Zwiebel, nicht eure! Kaum hatte sie das gesagt, zerriß die Zwiebel. Und die Frau fiel zurück in den See und brennt da noch bis auf den heutigen Tag. Der Engel aber weinte und ging fort.‘ Das ist die Legende, Aljoscha. Ich habe sie auswendig behalten, weil ich selbst diese böse Frau bin … Vor Rakitka habe ich mich gerühmt, daß ich eine Zwiebel weggeschenkt habe, aber vor dir rede ich anders! Ich habe in meinem ganzen Leben wohl auch nur eine einzige Zwiebel weggeschenkt, das ist meine einzige gute Tat. Und wo du das nun weißt, lobe mich nicht mehr, Aljoscha! Halte mich nicht für gut! Ich bin schlecht, böse, sehr böse, und wenn du mich noch weiter lobst, werde ich mich schämen müssen. Ach, jetzt werde ich nun wohl alles beichten … Hör zu, Aljoscha. Ich wollte dich so gern zu mir locken, daß ich Rakitin fünfundzwanzig Rubel versprach, wenn er dich zu mir bringt. Einen Moment, Rakitin!« Sie ging mit schnellen Schritten zum Tisch, öffnete die Schublade, holte ihr Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen Fünfundzwanzigrubelschein.
„So ein Unsinn, so ein Unsinn!« rief Rakitin verblüfft.
„Nimm, was ich dir schuldig bin, Rakitka. Du wirst es doch nicht ablehnen, du hast ja selbst darum gebeten.« Sie warf ihm die Banknote hin.
„Ablehnen, das fehlte noch!« erwiderte Rakitin. Er war offenbar verlegen, verbarg als forscher junger Mann jedoch seine Beschämung. „Das wird mir jetzt sehr zupaß kommen. Die Dummköpfe sind ja dazu da, daß ein kluger Mann von ihnen profitiert.«
„Und jetzt schweig, Rakitka! Alles, was ich jetzt sage, ist eigentlich nicht für deine Ohren bestimmt. Setz dich dort in die Ecke und schweig! Du liebst uns beide nicht, also schweig wenigstens!«
„Wofür sollte ich euch denn lieben?« antwortete Rakitin grob, der seinen Ärger nicht mehr verbarg. Den Fünfundzwanzigrubelschein steckte er in die Tasche; zweifellos schämte er sich vor Aljoscha. Er hatte damit gerechnet, diesen Lohn erst später zu erhalten, so daß der andere nichts davon erfuhr; jetzt aber war er wütend vor Scham. Bis zu diesem Augenblick hatte er es für klüger gehalten, Gruschenka trotz aller Seitenhiebe, die sie ihm versetzte, nicht so sehr zu widersprechen, weil es ihm klar war, daß sie über ihn eine gewisse Macht besaß. Doch jetzt brauste auch er auf: „Man liebt zum Dank für empfangenes Gut. Ihr beide, was habt ihr mir Gutes getan?«
„Liebe ohne eine Ursache! So wie Aljoscha liebt!«
„Wieso liebt er dich denn? Und wie hat er dir seine Liebe gezeigt, daß du damit prahlst?«
Gruschenka stand mitten im Zimmer. Sie sprach in starker Erregung, mit hysterischem Schluchzen in der Stimme.
„Schweig, Rakitka! Du hast für uns kein Verständnis! Und erlaube dir nicht, künftig noch ‚Du‘ zu mir zu sagen! Ich gestatte dir das nicht! Wie hast du dir überhaupt eine solche Dreistigkeit herausnehmen können? Hörst du? Setzt dich in die Ecke und schweig, als ob du mein Lakai wärst! Und jetzt will ich dir allein die ganze reine Wahrheit sagen, Aljoscha, damit du siehst, was ich für ein Geschöpf bin! Ich spreche nicht zu Rakitka, sondern zu dir … Ich wollte dich zugrunde richten, Aljoscha — das ist die volle Wahrheit! Ich hatte es mir fest vorgenommen. Mein Verlangen war so groß, daß ich Rakitka mit Geld bestach, damit er dich zu mit brächte. Und wodurch war dieses Verlangen in mir entstanden? Du wolltest von mir nichts wissen, Aljoscha, du wandtest dich von mir ab, gingst mit niedergeschlagenen Augen an mir vorbei. Ich aber sah dir wohl hundertmal nach und begann alle Leute über dich auszufragen. Dein Gesichtsausdruck hatte sich meinem Herzen eingeprägt: ‚Er verachtet mich!‘ dachte ich. ‚Er will mich nicht einmal ansehen!‘ Und da überkam mich schließlich ein Gefühl, daß ich über mich selbst erstaunt war. Ich sagte mir: ‚Warum fürchte ich mich vor so einem Knaben? Ich will ihn verführen und dann auslachen!‘ Ich war geradezu wütend geworden. Ob du es glaubst oder nicht: Niemand hier wagt zu sagen oder auch nur zu denken, er könnte Agrafena Alexandrowna in unehrenhafter Weise nähertreten; ich habe nur meinen Alten, an den bin ich gebunden, dem bin ich verkauft, sonst habe ich niemand. Doch als ich dich sah, nahm ich mir vor: ‚Den will ich verführen, erst verführen und dann auslachen!‘ Da siehst du, was ich für ein gemeines Wesen bin, ich, die du deine Schwester genannt hast! Jetzt ist nun mein erster Verführer gekommen, und ich sitze hier und warte auf Nachricht. Weißt du aber, was dieser Verführer für mich bedeutet hat? Vor fünf Jahren, als Kusma mich hierhergebracht hatte, saß ich manchmal hier und versteckte mich vor den Leuten, damit niemand etwas von mir sah und hörte. Ich dummes kleines Wesen saß da und schluchzte, ganze Nächte konnte ich nicht schlafen. Ich grübelte: ‚Wo mag er jetzt sein, mein Verführer? Er lacht sicherlich mit einer anderen über mich. Wenn ich ihn nur einmal wiedersehen könnte!‘ dachte ich. ‚Dann würde ich es ihm heimzahlen, ja, dann würde ich es ihm heimzahlen!‘ Nachts schluchzte ich in mein Kissen und überdachte das immerzu; ich zerfleischte mein Herz absichtlich und sättigte es mit meinem Zorn: ‚ich werde es ihm schon noch heimzahlen, ich werde es ihm schon noch heimzahlen!‘. So schrie ich manchmal im Dunkeln. Und wenn mir plötzlich zu Bewußtsein kam, daß ich ihm nichts, gar nichts tun konnte und daß er in jenem Augenblick wahrscheinlich über mich lachte und mich vielleicht ganz vergessen hatte, dann warf ich mich vom Bett auf die Dielen und weinte bis zum Morgengrauen ohnmächtige Tränen. Wenn ich am Morgen aufstand, war ich wütend wie eine Bestie und hätte am liebsten die ganze Weit in Trümmer geschlagen. Später begann ich mir ein gewisses Kapital zusammenzuraffen, ich wurde erbarmungslos, ich wurde fülliger — meinst du, ich wäre vielleicht klüger geworden, ja? Ich sage dir: nein. Kein Mensch auf der Welt sieht und weiß es, aber sobald die nächtliche Dunkelheit kommt, liege ich manchmal genauso da wie vor fünf Jahren als kleines Mädchen, knirsche mit den Zähnen und weine die ganze Nacht. ‚Ich werde es ihm schon noch heimzahlen, ich werde es ihm schon noch heimzahlen!‘ denke ich. Hast du das alles gehört? Nun hör zu, wie wirst du mich jetzt begreifen? Vor einem Monat erhielt ich plötzlich einen Brief. Er sei Witwer geworden und möchte mich gern wiedersehen. Der Atem stockte mir damals, Herr du mein Gott, ich dachte auf einmal: ‚Wenn er jetzt kommt und mir pfeift und mich ruft, dann werde ich wie ein Hündchen, das Schläge bekommen hat und um Verzeihung bittet, zu ihm kriechen!‘ So dachte ich und glaubte mit selbst nicht: ‚Bin ich ein unwürdiges Geschöpf oder nicht? Werde ich zu ihm laufen oder nicht?‘ Und den ganzen Monat bin ich auf mich so wütend gewesen, daß es noch schlimmer war als vor fünf Jahren. Siehst du jetzt, Aljoscha, was ich für eine verrückte, unberechenbare Frau bin? Ich habe dir die volle Wahrheit gesagt! Mit Mitja habe ich nur Spaß getrieben, um nicht zu dem anderen zu laufen … Schweig, Rakitka, es steht dir nicht zu, über mich zu richten; mit dir habe ich nicht gesprochen. Bevor ihr kamt, habe ich hier gelegen und gewartet und nachgedacht und einen entscheidenden Beschluß über mein weiteres Schicksal gefaßt! Und ihr werdet niemals erfahren, was in meinem Herzen vorgegangen ist. Sag deinem Fräulein, Aljoscha, sie möchte wegen des Vorfalls von vorgestern nicht böse sein! Und niemand in der ganzen Welt weiß, wie mir jetzt zumute ist, und es kann auch niemand wissen … Denn vielleicht nehme ich heute ein Messer mit; darüber bin ich noch zu keinem festen Entschluß gekommen …«
Als Gruschenka das ausgesprochen hatte, konnte sie sich plötzlich nicht mehr beherrschen. Sie redete nicht weiter, verbarg das Gesicht in den Händen, warf sich aufs Sofa in die Kissen und schluchzte wie ein kleines Kind.
Aljoscha stand von seinem Platz auf und trat zu Rakitin.
„Mischa«, sagte er, „sei nicht zornig! Du bist von ihr beleidigt worden, aber sei nicht zornig! Hast du mit angehört, was sie soeben gesagt hat? Man darf von der Seele eines Menschen nicht gar zuviel verlangen: man muß Mitleid haben.«
Aljoscha hatte aus einem unbezwinglichen Drang seines Herzens so gesprochen. Es war ihm ein Bedürfnis gewesen, sich auszusprechen, und so hatte er sich an Rakitin gewandt. Wenn Rakitin nicht dagewesen wäre, hätte er es für sich allein ausgerufen. Doch Rakitin blickte ihn spöttisch an, und Aljoscha brach plötzlich ab.
„Du bist immer noch mit der Weisheit deines Starez geladen und schießt nun diese Weisheit auf mich ab, Aljoschenka, du kleiner Gottesmann!« erwiderte Rakitin mit haßerfülltem Lächeln.
„Lache nicht, Rakitin. Lächle nicht, sprich nicht so von dem Verstorbenen! Er stand höher als alle, die auf Erden leben!« rief Aljoscha mit tränenerstickter Stimme. „Nicht als Richter wollte ich zu dir sprechen, sondern selbst als der niedrigste von denen, die gerichtet werden. Wer bin ich im Vergleich mit ihr? Ich kam hierher, um zugrunde zu gehen, und sagte: Meinetwegen, meinetwegen! Das war eine Folge meines Kleinmuts. Sie aber hat nach fünf Jahren der Qual alles verziehen, alles vergessen und weint, sobald nur jemand kommt und ein aufrichtiges Wort zu ihr sagt! Ihr Verführer ist zurückgekehrt und ruft sie, und sie verzeiht ihm alles und wird voller Freude zu ihm eilen und kein Messer mitnehmen, nein, das wird sie nicht tun! Ich bin kein solcher Mensch! Ich weiß nicht ob du so ein Mensch bist, Mischa — ich bin jedenfalls kein solcher Mensch. Ich habe soeben eine Lektion erhalten … Sie überragt uns an Liebe … Hattest du vorher das von ihr gehört, was sie jetzt erzählt hat? Nein, du hattest es noch nicht gehört; denn sonst hättest du schon längst alles verstanden … Möge ihr auch jene andere verzeihen, die von ihr beleidigt worden ist! Und sie wird ihr verzeihen, wenn sie alles erfährt … Und sie wird alles erfahren … Diese Seele ist noch nicht zum Frieden gelangt, man muß Nachsicht mit ihr haben … In dieser Seele liegt vielleicht ein Schatz verborgen …«
Aljoscha verstummte, er rang nach Atem. Rakitin sah ihn trotz seines Ärgers erstaunt an. Nie hätte er von dem stillen Aljoscha so eine lange Rede erwartet.
„Du entpuppst dich ja als ein gewaltiger Advokat! Du hast dich wohl in sie verliebt, wie? Agrafena Alexandrowna, unser Faster hat sich in dich verliebt, du hast gesiegt!« rief er mit frechem Lachen.
Gruschenka hob den Kopf von dem Kissen, lächelte und blickte Aljoscha gerührt an. Ihr Gesicht war von den Tränen noch geschwollen, wurde aber durch das Lächeln aufgehellt.
„Laß ihn, Aljoscha. Du siehst, was er für ein Mensch ist. Du bist mit deiner Rede an den Unrechten gekommen … Michail Ossipowitsch«, wandte sie sich an Rakitin, „ich wollte dich eigentlich um Verzeihung bitten dafür, daß ich dich beschimpft habe, doch jetzt bin ich von dieser Absicht abgekommen … Aljoscha, komm zu mir, setz dich hierher!« Sie winkte ihn mit fröhlichem Lächeln heran. „So, setz dich hierher! Und nun sag du mir«, sie ergriff seine Hand und sah ihm lächelnd ins Gesicht, „sag du mir, liebe ich diesen Menschen oder nicht? Ich meine den Verführer: Liebe ich ihn oder nicht? Ehe ihr herkamt, habe ich hier im Dunkeln gelegen und immerzu mein Herz gefragt: Liebe ich ihn oder nicht? Beantworte du mir diese Frage, Aljoscha. Die Zeit drängt — was du bestimmst, soll geschehen. Soll ich ihm verzeihen oder nicht?«
„Du hast ihm ja schon verziehen«, erwiderte Aljoscha lächelnd.
„Ja, ich habe ihm wirklich verziehen«, sagte Gruschenka nachdenklich. „Was für ein nichtswürdiges Herz ich habe! Ich trinke auf mein nichtswürdiges Herz!« rief sie, griff plötzlich nach einem Glas, trank es, ohne abzusetzen, aus, hob es hoch und schleuderte es mit einem Schwung auf den Boden. Das Glas zerbrach klirrend. Ein leiser Zug von Grausamkeit tauchte flüchtig in ihrem Lächeln auf. „Aber vielleicht habe ich ihm doch noch nicht verziehen«, sagte sie in beinahe drohendem Ton. Sie senkte die Augen und redete wie im Selbstgespräch. „Vielleicht bereitet sich mein Herz nur erst darauf vor, ihm zu verzeihen. Ich ringe noch mit meinem Herzen … Siehst du, Aljoscha, ich habe die Tränen, die ich in diesen fünf Jahren geweint habe, furchtbar liebgewonnen … Vielleicht liebe ich nur das Unrecht, das er mir angetan hat, und gar nicht ihn?«
„Na, ich möchte nicht in seiner Haut, stecken!« zischte Rakitin.
„Du wirst auch niemals in seiner Haut stecken, Rakitka. Du wirst Schuhe für mich machen, Rakitka! Zu so einem Dienst werde ich dich verwenden. Aber so eine Frau wie ich wird dir nie zufallen. Und ihm vielleicht auch nicht … „
„Ihm auch nicht? Wieso hast du dich dann so herausgeputzt?« höhnte Rakitin boshaft.
„Halte mir nicht meine Kleidung und meinen Schmuck vor, Rakitka — du kennst mein ganzes Herz noch nicht! Wenn ich will, reiße ich sofort alles vom Körper, augenblicklich!« schrie sie laut. „Du weißt nicht, wozu das alles dienen soll, Rakitka! Vielleicht werde ich zu ihm gehen und zu ihm sagen: ‚Hast du mich schon so gesehen oder noch nicht?‘ Er hat mich ja als siebzehnjähriges schmächtiges, weinerliches Mädchen verlassen. Und dann werde ich mich zu ihm setzen, ihn bezaubern und wild machen. ‚Siehst du, was ich jetzt für eine Frau bin?‘ werde ich dann zu ihm sagen. ‚Na, und nun laß dir den Appetit vergehen, werter Herr! Ich habe dir nur den Mund wässerig machen wollen, bekommen wirst du mich nicht!‘ Siehst du, dazu soll das alles vielleicht dienen, Rakitka«, schloß Gruschenka mit boshaftem Lachen. „Ich bin ein wütendes, jähzorniges Weib, Aljoscha. Ich werde meine Kleider zerreißen, mich verstümmeln, meine Schönheit vernichten, mein Gesicht verbrennen und mit dem Messer zerschneiden und dann betteln gehen. Wenn es mir einfällt, werde ich jetzt nirgendwohin und zu niemand gehen. Wenn es mir einfällt, werde ich gleich morgen dem alten Kusma all seine Geschenke und all sein Geld zurückschicken und mein restliches Leben als Tagelöhnerin arbeiten! Denkst du, ich würde das nicht tun, Rakitka? Ich würde nicht wagen, das zu tun? Ich werde es tun, ich werde es tun, in diesem Augenblick kann ich es tun, reizt mich nur nicht! Und den andern werde ich wegjagen und ihm eine lange Nase machen! Der soll mich nicht bekommen!«
Diese letzten Worte schrie sie fast hysterisch; wiederum verlor sie die Herrschaft über sich, bedeckte das Gesicht mit den Händen, warf sich auf das Kissen und schluchzte wieder, daß ihr ganzer Körper zuckte.
Rakitin stand auf.
„Es wird Zeit«, sagte er. „Es ist schon spät, man läßt uns sonst nicht mehr ins Kloster hinein.« Gruschenka sprang hastig auf. „Willst du wirklich weggehen, Aljoscha?« rief sie erstaunt und betrübt. „Was tust du mir an? Du hast mich zur Besinnung gebracht, hast mich gequält — und jetzt kommt wieder die Nacht, und ich soll wieder allein bleiben!«
„Er kann doch nicht bei dir übernachten? Aber wenn du willst, meinetwegen! Dann werde ich eben allein weggehen!« neckte Rakitin sie boshaft.
„Schweig, du schlechter Mensch!« schrie Gruschenka ihn zornig an.«Nie hast du mir solche Worte gesagt wie er.«
„Was hat er denn so Besonderes gesagt?« brummte Rakitin gereizt.
„Ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht. Er hat zu meinem Herzen gesprochen, das Herz hat er mir umgekehrt … Er ist der erste und einzige Mensch, der mit mir Mitleid gehabt hat, das ist es! Warum bist du nicht früher gekommen, mein Engel?« Sie fiel plötzlich wie verzückt vor ihm nieder auf die Knie. „Mein ganzes Leben habe ich auf einen solchen Menschen wie dich gewartet! Ich wußte, daß ein solcher kommen und mir verzeihen wird! Ich glaubte, daß auch mich, so gemein ich bin, jemand liebgewinnen wird, und nicht für einen schändlichen Preis!«
„Was habe ich dir denn Gutes getan?« antwortete Aljoscha gerührt, wobei er sich zu ihr hinabbeugte und zärtlich ihre Hand ergriff. „Ich habe dir eine Zwiebel gereicht, eine einzige winzige Zwiebel, weiter nichts, weiter nichts!«
In diesem Augenblick ertönte plötzlich Lärm auf dem Flur; jemand kam ins Vorzimmer. Gruschenka sprang erschrocken auf. Laut kam Fenja ins Zimmer gelaufen.
„Gnädiges Fräulein, Täubchen, gnädiges Fräulein! Die Stafette ist da!« rief sie außer Atem. „Ein Reisewagen aus Mokroje will Sie abholen, der Kutscher Timofej mit einer Troika, es werden schon Pferde angespannt … Ein Brief, gnädiges Fräulein, hier ist ein Brief!«
Sie hatte den Brief in der Hand und schwenkte ihn die ganze Zeit in der Luft umher. Gruschenka entriß ihr den Brief und trug ihn an die Kerze. Es war nur ein Zettelchen mit wenigen Zeilen, sie hatte es im Nu durchgelesen.
„Er hat mich gerufen!« schrie sie. Sie war ganz blaß geworden, und ihr Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln. „Er hat gepfiffen. Krieche hin, Hündchen!«
Aber nur einen Augenblick schien sie unentschlossen. Mit einem mal stieg ihr das Blut in den Kopf und färbte ihre Wangen dunkelrot.
„Ich werde fahren!« rief sie plötzlich. „Ihr meine fünf Jahre, lebt wohl! Lebe wohl, Aljoscha, mein Schicksal ist entschieden! Geht weg, geht jetzt alle von mir weg, damit ich euch nie mehr sehe! Gruschenka ist zu einem neuen Leben davongeflogen … Behalt auch du mich nicht in schlechter Erinnerung, Rakitka! Vielleicht gehe ich in den Tod! Ich bin wie betrunken!«
Sie verließ die beiden unvermittelt und lief in ihr Schlafzimmer.
„Na, um uns kümmert die sich jetzt nicht mehr!« brummte Rakitin. „Wir wollen gehen, sonst fängt womöglich dieses Weibergeschrei wieder an. Dieses Weinen und Schreien hängt mir schon zum Halse heraus!«
Aljoscha ließ sich mechanisch hinausführen. Auf dem Hof stand ein Reisewagen, die Pferde wurden ausgespannt, Leute liefen mit Laternen, es war ein geschäftiges Treiben. Durch das geöffnete Tor wurde ein frisches Dreigespann hereingeführt.
Doch kaum waren Aljoscha und Rakitin aus der Haustür getreten, öffnete sich ein Fenster in Gruschenkas Schlafstube, und sie rief Aljoscha mit lauter Stimme nach: „Aljoschetschka, grüß deinen Bruder Mitenka und sag ihm, er möchte, obwohl ich ihm Übles angetan habe, nicht im Bösen an mich denken! Und bestell ihm von mir mit meinen Worten: Gruschenka ist einem Schuft zugefallen und nicht dir edeldenkendem Menschen! Und füge noch hinzu, daß Gruschenka ihn ein Stündchen lang geliebt hat, nur ein Stündchen lang, und er soll sich an dieses Stündchen von nun an sein Leben lang erinnern! Sag ihm, mit diesen Worten habe Gruschenka es dir aufgetragen: ‚Sein Leben lang‘ …«
Sie konnte zuletzt kaum noch reden. Das Fenster wurde wieder zugeschlagen.
„Hm, hm!« brummte Rakitin lachend. „Sie hat deinem Bruder Mitenka den Todesstoß versetzt und bittet ihn nun noch, sein Leben lang an sie zu denken. So eine raffinierte Grausamkeit!«
Aljoscha gab keine Antwort, als ob er nichts gehört hätte. Wie in großer Eile lief er neben Rakitin; er schien alles um sich vergessen zu haben und ging nur mechanisch.
Rakitin fühlte plötzlich einen Stich, als hätte man seine frische Wunde mit dem Finger berührt. Als er vorhin Gruschenka mit Aljoscha zusammenbrachte, hatte er etwas ganz anderes erwartet.
„Er ist ein Pole, ihr Offizier«, begann er wieder, sich mit Mühe beherrschend. „Aber er ist jetzt überhaupt nicht Offizier. Er war Zollbeamter in Sibirien, irgendwo da an der chinesischen Grenze, sicher ist er so ein kläglicher kleiner Polacke. Es heißt, er hat seine Stelle verloren. Nun hat er gehört, daß Gruschenka in den Besitz eines Kapitals gelangt ist, und da ist er zurückgekehrt — das ist das ganze Wunder.«
Aljoscha schien wieder nichts gehört zu haben. Rakitin konnte sich nun nicht mehr beherrschen: „Na, hast du eine Sünderin bekehrt?« fragte er Aljoscha boshaft. „Hast du eine Hure auf den Weg der Wahrheit zurückgeführt? Hast du sieben Teufel ausgetrieben, he? Da haben sich ja unsere vorhin vergeblich erwarteten Wunder nun doch vollzogen!«
„Hör auf, Rakitin«, erwiderte Aljoscha schmerzerfüllt.
„Du verachtest mich wohl jetzt wegen der fünfundzwanzig Rubel von vorhin? Ich habe nach deiner Auffassung einen wahren Freund verkauft, wie? Aber du bist ja nicht Christus, und ich bin nicht Judas!«
„Ach, Rakitin, ich versichere dir, ich hatte das schon vergessen«, rief Aljoscha. „Du hast mich erst wieder daran erinnert …«
Rakitin jedoch kannte in seiner Wut keine Grenzen mehr.
„Hol‘ euch samt und sonders der Teufel!« brüllte er plötzlich. „Warum, zum Teufel, habe ich mich bloß mit dir abgegeben? Von nun an will ich dich nicht mehr kennen. Geh du allein, da ist dein Weg!«
Er bog mit einer kurzen Wendung in eine andere Straße ein und ließ Aljoscha in der Dunkelheit stehen.
Aljoscha verließ die Stadt und ging über das Feld zum Kloster.