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5. Ein plötzlicher Entschluß

Fenja saß mit ihrer Großmutter in der Küche; sie waren gerade dabei, sich schlafen zu legen. Im Vertrauen auf Nasar Iwanowitsch hatten sie wieder nicht von innen abgeschlossen. Mitja kam herein, stürzte sich auf Fenja und packte sie fest an der Kehle.

»Jetzt sprich, wo ist sie, mit wem ist sie jetzt in Mokroje!« brüllte er wütend.

Die beiden Frauen kreischten auf.

»Ich werde es sagen, Täubchen Dmitri Fjodorowitsch! Ich werde gleich alles sagen, nichts werde ich verheimlichen!« schrie die zu Tode erschrockene Fenja hastig. »Sie ist zu einem Offizier nach Mokroje gefahren.«

»Zu was für einem Offizier?« brüllte Mitja.

»Zu ihrem früheren Offizier, zu ihrem früheren, zu dem, der sie vor fünf Jahren sitzenließ«, sagte Fenja mit derselben Eilfertigkeit.

Dmitri Fjodorowitsch nahm die Hände von ihrer Kehle. Leichenblaß, unfähig zu reden, stand er vor ihr; doch war an seinen Augen zu sehen, daß er alles mit einemmal verstanden, alles bis ins letzte erraten hatte. Die arme Fenja war in dieser Sekunde freilich nicht imstande, zu beobachten, ob er es verstanden hatte oder nicht. Sie blieb in der Haltung, in der sie auf dem Schlafkasten gesessen hatte, als er hereingestürzt kam; sie zitterte am ganzen Körper und hielt beide Hände von sich gestreckt, als wolle sie sich schützen. Mit angstvollen, geweiteten Augen starrte sie ihn an, ohne sich zu rühren. Hinzu kam noch, daß Mitjas Hände mit Blut befleckt waren. Unterwegs beim Laufen hatte er seine Stirn mit ihnen berührt, um sich den Schweiß abzuwischen, so daß auch auf der Stirn und auf der rechten Backe rote Flecke von verschmiertem Blut zurückgeblieben waren. Fenja war nahe daran, einen Weinkrampf zu bekommen; die alte Köchin war aufgesprungen und blickte ihn fast bewußtlos an. Dmitri Fjodorowitsch stand eine lange Zeit regungslos da und ließ sich dann plötzlich mechanisch neben Fenja auf einen Stuhl fallen.

Er saß da, ohne eigentlich zu denken; er befand sich vor Schreck eher in einem Starrkrampf. Aber ihm war alles sonnenklar: Dieser Offizier … Er hatte über ihn Bescheid gewußt, ganz genau, aus Gruschenkas eigenem Mund; er hatte gewußt, daß er vor einem Monat einen Brief geschickt hatte. Also einen ganzen Monat hatte dieses Spiel gedauert, und man hatte es vor ihm geheimgehalten, bis dieser neue Mann jetzt wirklich gekommen war — und er hatte mit keinem Gedanken an ihn gedacht! Wie war das nur möglich, daß er nicht an ihn gedacht hatte? Warum hatte er diesen Offizier damals so vollständig vergessen, kaum daß er von ihm gehört hatte? Das war eine Frage, die wie ein Ungeheuer vor ihm stand. Und er betrachtete dieses Ungeheuer voller Angst, und die Glieder waren ihm kalt geworden vor Schreck.

Plötzlich aber begann er leise und sanft mit Fenja zu sprechen, wie ein stilles, freundliches Kind, als habe er ganz vergessen, daß er sie soeben erschreckt, beleidigt und gequält hatte. Er begann, sie auszufragen, und zwar mit einer außerordentlichen, für seine Lage sogar erstaunlichen Genauigkeit. Fenja sah zwar scheu auf seine blutigen Hände, antwortete ihm jedoch ebenfalls mit erstaunlicher Bereitwilligkeit und Eile auf jede Frage. Sie schien es sogar eilig zu haben, ihm die ganze »wahrhaftige Wahrheit« auseinanderzusetzen. Allmählich begann sie ihm beinahe freudig alle Einzelheiten darzulegen, und zwar durchaus nicht in der Absicht, ihn zu quälen, sondern als wollte sie ihm nach besten Kräften und von Herzen einen Dienst erweisen. Eingehend erzählte sie ihm auch den gesamten Verlauf des heutigen Tages: vom Besuch Rakitins und Aljoschas; wie sie, Fenja, auf der Lauer gestanden habe; wie das gnädige Fräulein weggefahren sei; wie sie Aljoscha aus dem Fenster einen Gruß an ihn, Mitenka, aufgetragen habe, und er solle sein Leben lang daran denken, daß sie ihn ein Stündchen geliebt habe. Als Mitja von diesem Gruß hörte, lächelte er plötzlich, und eine helle Röte trat auf sein blasses Gesicht. In diesem Augenblick sagte Fenja, ohne sich im geringsten wegen ihrer Neugier zu fürchten: »Aber wie sehen denn Ihre Hände aus, Dmitri Fjodorowitsch? Die sind ja ganz voll Blut!«

»Ja«, antwortete Mitja mechanisch, warf einen zerstreuten Blick auf seine Hände und vergaß sie und Fenjas Frage sofort wieder. Er versank wieder in Schweigen. Seitdem er hereingestürzt war, waren schon etwa zwanzig Minuten vergangen. Sein Schreck von vorhin war verflogen; offenbar hatte sich jetzt eine unbeugsame Entschlossenheit seiner bemächtigt. Er erhob sich auf einmal von seinem Platz und lächelte gedankenversunken.

»Gnädiger Herr, was ist denn bloß mit Ihnen geschehen?« fragte Fenja und zeigte wieder auf seine Hände. Sie sagte das mitfühlend, als sei sie dasjenige Wesen, das ihm jetzt in seinem Kummer am nächsten stände.

Mitja blickte wieder auf seine Hände.

»Das ist Blut, Fenja«, sagte er und sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Das ist Menschenblut … Und warum ist es vergossen worden? O Gott, Fenja! Da ist ein Zaun …« Er schaute sie an, als wollte er ihr ein Rätsel aufgeben. »Ein hoher Zaun, schrecklich anzusehen … Aber morgen, bei Tagesanbruch, wenn die Sonne in die Höhe fliegt, dann wird Mitenka über diesen Zaun springen … Du verstehst nicht, was das für ein Zaun ist, Fenja. … Nun, das schadet nichts … Ganz gleich, morgen wirst du es hören und alles verstehen … Und jetzt lebe wohl! Ich werde nicht stören, ich werde beiseite treten, ich werde es fertigbringen, beiseite zu treten. Lebe du nur, du meine Freude! Du hast mich ein Stündchen geliebt — so erinnere denn auch du dich dein Leben lang an Mitenka Karamasow … Sie nannte mich ja immer Mitenka, erinnerst du dich?«

Mit diesen Worten verließ er plötzlich die Küche. Fenja aber erschrak über sein Weggehen fast noch mehr als vorher, als er hereingekommen war und sich auf sie gestürzt hatte.

Genau zehn Minuten später betrat Dmitri Fjodorowitsch die Wohnung des jungen Beamten Pjotr Iljitsch Perchotin, bei dem er vor kurzem seine Pistolen versetzt hatte. Es war schon halb neun, und Pjotr Iljitsch, der zu Hause Tee getrunken hatte, war soeben wieder beim Ankleiden, um ins Restaurant »Zur Residenz« zu gehen und dort Billard zu spielen. Mitja traf ihn noch gerade vor dem Weggehen an. Als der Beamte ihn und sein blutbeflecktes Gesicht erblickte, schrie er laut auf.

»Herrgott! Was ist denn mit Ihnen geschehen?«

»Ich bin gekommen«, antwortete Mitja hastig, »um mir meine Pistolen wiederzuholen und Ihnen Ihr Geld zu bringen. Vielen Dank! Ich habe es sehr eilig, Pjotr Iljitsch. Bitte, machen Sie recht schnell!«

Pjotr Iljitsch staunte immer mehr. Er sah auf einmal in Mitjas Hand ein Päckchen Papiergeld; die Hauptsache aber war, daß Mitja dieses Päckchen hielt und mit ihm hereinkam, wie kein Mensch Geld hält und mit Geld hereinkommt: alle Banknoten trug er wie zur Schau in der rechten Hand, die er steif vor sich her hielt. Pjotr Iljitschs junger Diener, der Mitja im Vorzimmer empfangen hatte, sagte später aus, er sei so, mit dem Geld in der Hand, auch ins Vorzimmer hereingekommen, er mußte es also auch schon auf der Straße so vor sich her getragen haben. Es waren lauter regenbogenfarbene Hundertrubelscheine, die er in seinen blutbefleckten Fingern hielt. Als Pjotr Iljitsch später von interessierten Personen befragt wurde, wie viel Geld es gewesen sei, erklärte er, das habe sich damals nach dem Augenschein schwer beurteilen lassen, vielleicht zweitausend Rubel, vielleicht dreitausend; jedenfalls sei es ein großes, »kompaktes« Päckchen gewesen. »Dmitri Fjodorowitsch selbst«, sagte der Beamte später ebenfalls aus, »machte den Eindruck, als sei er nicht bei Sinnen. Er war jedoch nicht betrunken, sondern befand sich in einer gewissen Verzückung, er war sehr zerstreut, zugleich aber auch in sich gekehrt, als ob er über etwas nachdächte und sich klarzuwerden suchte, aber zu keinem Entschluß kommen könnte. Er hatte es sehr eilig, antwortete kurz und in seltsamem Ton; und manchmal schien er ganz und gar nicht traurig, sondern eher vergnügt zu sein.«

»Was ist denn mit Ihnen los? Was ist Ihnen denn passiert?« rief Pjotr Iljitsch wieder und betrachtete scheu seinen Gast. »Wie haben Sie sich denn so blutig gemacht? Sind Sie gefallen? Sehen Sie nur!«

Er faßte ihn am Ellenbogen und stellte ihn vor den Spiegel.

Als Mitja sein blutbeflecktes Gesicht sah, zuckte er zusammen und runzelte ärgerlich die Augenbrauen.

»Pfui Teufel! Das fehlte noch!« murmelte er zornig, nahm schnell die Banknoten aus der rechten Hand in die linke und zog mit einer krampfhaften Bewegung sein Taschentuch aus der Tasche. Aber auch das Tuch war ganz voll Blut, denn mit ihm hatte er Grigori den Kopf und das Gesicht abgewischt, fast kein einziges Fleckchen war weiß geblieben, und das Tuch war nicht nur getrocknet, sondern hatte sich zu einem Ballen verhärtet und wollte sich nicht auseinanderfalten lassen.

Mitja schleuderte es wütend auf den Fußboden.

»Zum Teufel! Haben Sie nicht irgendeinen Lappen, damit ich mich abwischen kann?«

»Also haben Sie sich nur beschmiert und sind gar nicht verwundet? Dann waschen Sie sich doch lieber!« antwortete Pjotr Iljitsch. »Da ist der Waschtisch, ich werde Ihnen behilflich sein.«

»Der Waschtisch? Ja, das ist gut … Aber wo soll ich denn hiermit hin?« fragte er, deutete dabei in seltsamer Ratlosigkeit auf sein Päckchen Hundertrubelscheine und blickte Pjotr Iljitsch fragend an, als ob der zu entscheiden hätte, wo Mitja sein eigenes Geld lassen sollte.

»Stecken Sie es doch in die Tasche, oder legen Sie es hier auf den Tisch, es wird nicht fortkommen.«

»In die Tasche? Ja, in die Tasche. Das ist gut … Ach, wissen Sie, das ist ja alles dummes Zeug!« rief er, als streifte er auf einmal seine Zerstreutheit ab. »Sehen Sie, wir wollen erst dieses Geschäft erledigen. Das mit den Pistolen, meine ich. Geben Sie sie mir zurück, da ist Ihr Geld. . . Ich brauche sie sehr, sehr dringend … Und ich habe nicht eine Minute Zeit …«

Er nahm den obersten Hundertrubelschein von dem Päckchen und reichte ihn dem Beamten.

»Aber ich werde nicht herausgeben können«, bemerkte der. »Haben Sie kein kleineres Geld?«

»Nein«, antwortete Mitja, wobei er wieder das Päckchen ansah. Dann blätterte er mit den Fingern die obersten zwei oder drei Scheine durch, als ob er seinem eigenen Wort nicht traute. »Nein, alles dieselbe Sorte«, fügte er hinzu und blickte wieder Pjotr Iljitsch fragend an.

»Woher sind Sie denn so reich geworden?« fragte der Beamte. »Warten Sie, ich werde meinen Burschen zu den Plotnikows schicken. Die schließen ihr Geschäft erst spät und werden wohl wechseln können. He, Mischa!« rief er ins Vorzimmer.

»Zum Laden von Plotnikow — das ist ja herrlich!« rief Mitja. Ein neuer Gedanke schien ihn erleuchtet zu haben. »Mischa!«

sagte er zu dem Burschen. »Weißt du was, lauf doch mal zu Plotnikows und sag, Dmitri Fjodorowitsch läßt grüßen und kommt gleich selber hin. Und noch etwas. Sie sollen, bis ich dort bin, Champagner bereitstellen, so etwa drei Dutzend Flaschen, und sie so einpacken wie damals, als ich nach Mokroje gefahren bin … Ich habe damals vier Dutzend bei ihnen genommen«, sagte er auf einmal zu Pjotr Iljitsch. Und wieder an den Burschen gewandt: »Sie wissen schon Bescheid, sei unbesorgt, Mischa. Weiter. Ich möchte auch Käse haben und Straßburger Pasteten und geräucherte Schnäpel und Schinken und Kaviar — na, kurz alles, was sie haben, ungefähr für hundert oder hundertzwanzig Rubel, wie voriges Mal … Und sie sollen auch die Süßigkeiten nicht vergessen, Konfekt und Birnen und zwei oder drei oder vier Wassermelonen … Nein, Wassermelonen, da reicht eine, aber Schokolade, Kandiszucker, Montpensier, Sahnebonbons — na, alles, was sie mir damals für Mokroje eingepackt haben. Mit dem Champagner soll es ungefähr dreihundert Rubel kosten … Behalte alles richtig, Mischa, wenn du Mischa bist … Er heißt doch Mischa?« wandte er sich wieder an Pjotr Iljitsch.

»Halt, halt!« unterbrach ihn Pjotr Iljitsch, der ihn beunruhigt anhörte und ansah. »Es ist schon besser, wenn Sie selbst hingehen und alles sagen; er wird es durcheinanderbringen!«

»Er wird es durcheinanderbringen, ja, das sehe ich. Ach, Mischa, ich wollte dir schon einen Kuß geben für dieses Bestellung. Wenn du nichts durcheinanderbringst, bekommst du zehn Rubel, mach schnell! Champagner, das ist die Hauptsache, und Kognak auch, und Rotwein und Weißwein auch, alles wie damals … Sie wissen schon, wie es damals war.«

»Aber hören Sie doch!« unterbrach ihn Pjotr Iljitsch, der nun schon ungeduldig wurde. »Ich sage, er soll nur zum Wechseln hinlaufen und bestellen, sie möchten den Laden nicht zumachen. Und dann gehen Sie hin und geben Ihre Aufträge! Geben Sie Ihre Banknote her … Und nun marsch, Mischa! Lauf, was du kannst!«

Pjotr Iljitsch hatte seinen Burschen offenbar absichtlich schnell weggeschickt, denn dieser hatte die ganze Zeit vor Mitja gestanden und mit weit aufgerissenen Augen dessen blutiges Gesicht und die blutbefleckten Hände mit dem Geldpäckchen in den zitternden Fingern angestarrt und wahrscheinlich nur wenig von dem begriffen, was ihm Mitja auftrug.

»Na, jetzt kommen Sie, waschen Sie sich!« sagte Pjotr Iljitsch mürrisch. »Legen Sie das Geld auf den Tisch. Oder stecken Sie es in die Tasche! So ist es gut, kommen Sie! Aber ziehen Sie doch den Rock aus!«

Er half ihm beim Ausziehen des Rockes und schrie auf einmal wieder auf. »Sehen Sie nur, auch Ihr Rock ist blutig!«

»Das … das ist nicht der Rock. Nur hier am Ärmel ein bißchen. Und nur da, wo das Taschentuch gesteckt hat. Das Blut ist aus der Tasche durchgesickert. Ich habe mich bei Fenja auf die Tasche mit dem Tuch gesetzt, und da ist das Blut durchgesickert«, erläuterte Mitja mit erstaunlicher Zutraulichkeit.

Pjotr Iljitsch hörte mit finsterer Miene zu.

»Da haben Sie aber Pech gehabt. Sie haben sich wohl mit jemand geprügelt?« brummte er.

Die Prozedur des Waschens begann. Pjotr Iljitsch hielt die Kanne und goß Mitja Wasser auf die Hände. Mitja hatte es sehr eilig und seifte sich die Hände schlecht ein. Die Hände zitterten ihm, wie Pjotr Iljitsch sich später erinnerte. Pjotr Iljitsch schlug ihm sogleich vor, sich besser einzuseifen und kräftiger abzureiben. Er gewann in diesem Augenblick über Mitja die Oberhand, und das wurde mit der Zeit immer deutlicher. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, der junge Mann war durchaus nicht schüchtern.

»Sehen Sie nur, Sie haben sich unter den Nägeln nicht eingeseift. So, jetzt reiben Sie sich das Gesicht ab, sehen Sie da, an der Schläfe, am Ohr … Wollen Sie etwa in diesem Hemd fahren? Wohin fahren Sie eigentlich? Sehen Sie nur, am rechten Ärmel ist die ganze Manschette blutig!«

»Ja, sie ist blutig«, bemerkte Mitja, während er die Manschette betrachtete.

»Wechseln Sie doch die Wäsche!«

»Ich habe keine Zeit. Aber wissen Sie was, ich werde …«, fuhr Mitja mit derselben Zutraulichkeit fort; dabei trocknete er sich bereits Gesicht und Hände ab und zog sich den Rock an. »Ich werde das untere Ende des Ärmels umschlagen, dann wird es unter dem Rock nicht zu sehen sein … Sehen Sie, so!«

»Jetzt sagen Sie mir endlich, wie Ihnen das passiert ist! Haben Sie sich mit jemand geschlagen, ja? Vielleicht wieder im Restaurant wie damals? Haben Sie wieder etwas mit dem Stabskapitän gehabt? Haben Sie ihn wieder geprügelt und am Bart gezogen?« fragte Pjotr Iljitsch vorwurfsvoll. »Wen haben Sie denn sonst noch geprügelt … oder am Ende gar getötet?«

»Unsinn!« versetzte Mitja.

»Wieso Unsinn?«

»Das brauchen Sie nicht zu wissen«, erwiderte Mitja und lächelte plötzlich. »Ich habe eben auf dem Marktplatz eine alte Frau totgedrückt.«

»Totgedrückt? Eine alte Frau?«

»Einen alten Mann!« schrie Mitja und lachte Pjotr Iljitsch so laut ins Gesicht, als ob der taub wäre.

»Hol' Sie der Teufel, einen alten Mann, eine alte Frau … Haben Sie wirklich jemand totgeschlagen?«

»Wir haben uns wieder versöhnt. Wir sind aneinandergeraten und haben uns wieder versöhnt. Auf der Stelle. Wir sind als Freunde auseinandergegangen. Ein Dummkopf … Er hat mir verziehen … Jetzt hat er mir gewiß verziehen … Wenn er aufgestanden wäre, hätte er mir gewiß nicht verziehen«, fügte Mitja plötzlich hinzu und zwinkerte dazu mit den Augen. »Ach wissen Sie, hol' ihn der Teufel! Hören Sie mal, Pjotr Iljitsch! Zum Teufel, das brauchen Sie nicht zu wissen! In diesem Augenblick will ich es nicht sagen!« schloß Mitja kurz und entschieden.

»Ich frage ja nur deswegen, weil es Ihre besondere Vorliebe ist, sich mit jedem anzulegen. So wie damals aus ganz unbedeutendem Anlaß mit diesem Stabskapitän … Sie haben sich geprügelt und fahren nun zu einem Trinkgelage — da sieht man Ihren ganzen Charakter! Drei Dutzend Flaschen Champagner wozu denn so viel?«

»Bravo! Geben Sie nun die Pistolen her! Bei Gott, ich habe keine Zeit. Ich würde gern ein bißchen mit dir schwatzen, Täubchen, aber ich habe keine Zeit. Und es ist auch gar nicht nötig! Es ist zu spät, um noch lange zu schwatzen. Halt, wo ist das Geld geblieben, wo habe ich es gelassen?« rief er und begann in den Taschen zu wühlen.

»Auf den Tisch haben Sie es gelegt … Sie selbst. Da liegt es ja. Haben Sie das vergessen? Wahrhaftig, Sie achten das Geld nicht höher als Unrat oder Wasser. Da sind Ihre Pistolen. Sonderbar, vorhin haben Sie sie für zehn Rubel als Pfand gegeben, und jetzt haben Sie auf einmal Tausende in Händen. Es sind doch wohl zwei- oder dreitausend?«

»Seien Sie unbesorgt, dreitausend«, erwiderte Mitja lachend und steckte das Geld in die Hosentasche.

»So werden Sie es verlieren. Sie besitzen wohl Goldbergwerke wie?«

»Goldbergwerke? Jawohl, Goldbergwerke!« schrie Mitja aus voller Kehle und brach in schallendes Gelächter aus. »Wollen Sie in die Goldbergwerke, Perchotin? Dann wird Ihnen eine Dame von hier dreitausend Rubel geben, damit Sie nur hinfahren. Mir hat sie sie gegeben — so sehr liebt sie die Goldbergwerke! Kennen Sie Frau Chochlakowa?«

»Nein, ich bin nicht mit ihr bekannt, aber ich habe von ihr gehört und sie gesehen. Hat die Ihnen wirklich die dreitausend Rubel gegeben? So einfach gegeben?« fragte Pjotr Iljitsch mit ungläubiger Miene.

»Gehen Sie doch morgen, wenn die Sonne in die Höhe fliegt, wenn der ewig junge Phöbus, Gott lobend und preisend, in die Höhe fliegt, zu Frau Chochlakowa, und fragen Sie sie selbst, ob sie mir dreitausend Rubel gegeben hat oder nicht. Fragen Sie sie doch!«

»Ich kenne Ihre Beziehungen nicht … Wenn Sie es so bestimmt sagen, wird sie die Ihnen schon gegeben haben … Sie aber … Kaum haben Sie das Geld in die Pfoten bekommen, fahren Sie statt nach Sibirien mit den ganzen dreitausend zu einem Gelage … Wohin fahren Sie jetzt eigentlich, he?«

»Nach Mokroje.«

»Nach Mokroje? Aber es ist doch Nacht!«

»Wanja war einst stolz und reich, jetzt ist er dem Bettler gleich«, sagte Mitja plötzlich.

»Wieso einem Bettler gleich? Wenn man so viele Tausende hat, ist man nicht einem Bettler gleich.«

»Ich rede nicht von den Tausenden. Zum Teufel mit den Tausenden! Ich rede vom Charakter der Weiber:

Denn das Weib ist falscher Art,
und die Arge liebt das Neue.

Ich bin mit Odysseus einverstanden, der sagt das irgendwo bei Schiller.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Bin ich etwa betrunken?«

»Nein, nicht betrunken, schlimmer als das.«

»Ich bin seelisch betrunken, Pjotr Iljitsch, seelisch betrunken! Aber genug davon, genug!«

»Was machen Sie denn da? Wollen Sie die Pistole laden?«

»Ja, das will ich.«

Mitja hatte in der Tat den Pistolenkasten geöffnet, er machte das Pulverhorn auf, schüttete sorgfältig die Ladung hinein und drückte sie fest. Darauf nahm er eine Kugel und hielt sie zwischen zwei Fingern, vor sich nahe an die Kerze, bevor er sie in den Lauf schob.

»Warum betrachten Sie denn die Kugel so?« fragte Pjotr Iljitsch, der mit Neugier und Unruhe Mitjas Bewegungen verfolgte.

»Nur so ein Einfall. Wenn du vorhättest, dir diese Kugel ins Gehirn zu jagen, würdest du sie dir dann beim Laden der Pistole genauer ansehen oder nicht?«

»Was für einen Sinn sollte das haben?«

»Sie wird in mein Gehirn eindringen — daher ist es interessant zu erfahren, wie sie beschaffen ist … Übrigens ist das Unsinn, bloß ein dummer Gedanke … So, fertig«, fügte er hinzu, nachdem er die Kugel hineingeschoben und mit Werg festgestopft hatte. »Lieber Pjotr Iljitsch, das ist ja alles nur Unsinn! Wenn du wüßtest, was für ein schrecklicher Unsinn! Bitte, gib mir jetzt ein Stückchen Papier!«

»Da ist welches.«

»Nein, glattes, reines, um darauf zu schreiben. So, schön!«

Mitja nahm eine Feder vom Tisch, schrieb schnell zwei Zeilen auf das Papier, faltete es vierfach zusammen und steckte es in seine Westentasche. Die Pistolen legte er in den Kasten, schloß ihn mit einem Schlüsselchen zu und nahm ihn in die Hand. Darauf blickte er Pjotr Iljitsch an und lächelte lange nachdenklich.

»Jetzt wollen wir gehen!« sagte er.

»Wohin denn? Nein, warten Sie … Am Ende wollen Sie sich die Kugel selbst ins Gehirn jagen?« sagte Pjotr Iljitsch beunruhigt.

»Unsinn! Ich will leben, ich liebe das Leben! Das sollst du wissen! Ich liebe den goldlockigen Phöbus und sein flammendes Licht … Lieber Pjotr Iljitsch, verstehst du, beiseite zu treten?«

»Beiseite zu treten, was soll das heißen?«

»Jemandem den Weg freigeben. Einem geliebten Wesen und einem verhaßten Menschen den Weg freigeben. Und zwar muß man den Weg so freigeben, daß einem auch der verhaßte Mensch lieb wird! Und man muß zu ihnen sagen: Gott sei mit euch, bitte, geht vorbei, ich aber …«

»Sie aber?«

»Genug, wir wollen gehen!«

»Mein Gott, ich werde jemand sagen, man soll Sie nicht dahin lassen. Was wollen Sie denn jetzt in Mokroje?«

»Eine Frau ist dort. Eine Frau, laß dir das genug sein, Pjotr Iljitsch. Basta!«

»Hören Sie mal, wenn Sie auch ein wilder Geselle sind, so haben Sie mir doch immer gefallen … deshalb mache ich mir jetzt Sorgen um Sie.«

»Ich danke dir, Bruder. Ich bin ein wilder Geselle, sagst du. Jawohl, die wilden Gesellen. Ich wiederhole nur das eine: die wilden Gesellen! Ah, da ist ja Mischa, ich hatte gar nicht mehr an ihn gedacht.«

Mischa kam eilig mit einem Päckchen eingewechselten Geldes herein und meldete, bei den Plotnikows seien alle in Bewegung und schleppten Flaschen und Fisch und Tee zusammen; gleich werde alles bereit sein. Mitja nahm einen Zehnrubelschein und reichte ihn Pjotr Iljitsch; einen zweiten warf er Mischa hin.

»Nein, tun Sie das nicht!« rief Pjotr Iljitsch. Bei mir zu Hause, das lasse ich nicht zu, das ist üble Verwöhnung! Stecken Sie Ihr Geld ein! Sehen Sie, hier stecken Sie es hin … Wozu wollen Sie es aus dem Fenster werfen? Morgen brauchen Sie es doch und kommen wieder zu mir zehn Rubel borgen. Warum stecken Sie denn alles in die Seitentasche? Sie werden es noch verlieren!«

»Hör mal, lieber Mensch, wollen wir nicht zusammen nach Mokroje fahren?«

»Was soll ich denn da?«

»Hör mal, wenn es dir recht ist, mache ich gleich eine Flasche auf, und wir trinken auf das Leben! Ich möchte trinken, und ganz besonders mit dir trinken! Ich habe noch nie mit dir getrunken, wie?«

»Meinetwegen, im Restaurant können wir das ja tun. Gehen wir hin, ich wollte sowieso gerade hingehen.«

»In ein Restaurant zu gehen, dazu habe ich keine Zeit. Aber wir könnten es bei den Plotnikows im Laden tun, im Hinterzimmer. Wenn es dir recht ist, werde ich dir gleich ein Rätsel aufgeben.«

»Gib es auf.«

Mitja zog ein Zettelchen aus der Westentasche, faltete es auseinander und zeigte es dem Beamten. Auf dem Zettel stand mit deutlicher, großer Schrift: »Ich richte mich zur Strafe für mein ganzes Leben! Ich ahnde mein ganzes Leben!«

»Wirklich, ich muß es jemand sagen! Ich werde gehen und es anzeigen«, sagte Pjotr Iljitsch, als er den Zettel gelesen hatte.

»Da wirst du zu spät kommen, mein Täubchen! Los, wir wollen trinken! Vorwärts!«

Der Laden der Plotnikows lag nur wenige Häuser von Pjotr Iljitschs Wohnung entfernt, an der Straßenecke. Dies war das größte Delikatessengeschäft in unserer Stadt; es gehörte reichen Kaufleuten und war sehr gut eingerichtet. Es war dort alles zu haben, wie in den Geschäften der Residenz, alle möglichen guten Dinge: Wein (»Abzug der Gebrüder Jelissejew«). Früchte, Zigarren, Tee, Zucker, Kaffee und so weiter. Drei Gehilfen waren immer im Laden, zwei Laufburschen immer unterwegs. Obgleich unsere Gegend verarmt war, viele Gutsbesitzer weggezogen waren und der Handel am Boden lag, blühte dieses feine Geschäft doch wie früher, ja sogar von Jahr zu Jahr mehr. Für solche Dinge gab es allezeit Käufer. Mitja wurde im Laden mit Ungeduld erwartet. Man erinnerte sich noch sehr gut, wie er vor drei, vier Wochen auf dieselbe Weise alle möglichen Waren für mehrere hundert Rubel ausgesucht und bar bezahlt hatte — auf Borg hätte man ihm allerdings auch nichts gegeben — und wie er, ebenso wie jetzt, ein ganzes Päckchen Hundertrubelscheine in der Hand gehabt und das Geld unbedacht ausgegeben hatte, ohne zu handeln und zu überlegen, wozu er so viele Waren überhaupt brauchte. In der ganzen Stadt erzählte man später, er sei damals mit Gruschenka nach Mokroje gefahren, habe in einer Nacht und an dem folgenden Tag auf einen Schlag dreitausend Rubel vergeudet und sei von dem Gelage ohne eine Kopeke zurückgekehrt. Es hieß, er habe eine ganze Zigeunerhorde, die sich damals bei uns herumtrieb, mitgenommen, und die habe ihm in den zwei Tagen — betrunken wie er war — eine Unmenge Geld abgenommen und eine Unmenge teuren Wein getrunken. Man spottete über Mitja, er habe in Mokroje dumme Bauern mit Champagner betrunken gemacht und Bauernmädchen und Bauernfrauen mit Konfekt und Straßburger Pasteten gefüttert. Man lachte auch, und zwar besonders im Restaurant — allerdings nur hinter seinem Rücken, denn ihm ins Gesicht zu lachen, war etwas gefährlich —, über Mitjas eigenes offenherziges Geständnis, daß er von Gruschenka für diese ganze »Eskapade« keine andere Belohnung erhalten habe als die Erlaubnis, ihr Füßchen zu küssen; weiter habe sie ihm nichts gestattet.

Als Mitja und Pjotr Iljitsch zum Laden kamen, fanden sie am Eingang schon eine fahrbereite Troika vor, mit einem Wagen, der mit einem Teppich bedeckt war, mit Schellen und Glöckchen und dem Kutscher Andrej, der auf Mitja wartete. Im Laden war eine Kiste bereits mit Waren vollgepackt, und man wartete nur auf Mitja, um sie zuzumachen und auf den Wagen zu laden.

Pjotr Iljitsch war erstaunt.

»Wo hast du denn so schnell eine Troika herbekommen?« fragte er Mitja.

»Als ich zu dir lief, traf ich diesen Andrej und befahl ihm, direkt hierherzufahren. Es ist keine Zeit zu verlieren! Das vorige Mal fuhr ich mit Timofej, aber Timofej ist diesmal vor mir mit einer Zauberin davongefahren … Andrej, werden wir sehr viel später ankommen als sie?«

»Höchstens eine Stunde sind die früher da als wir, und auch das kaum! Kaum eine Stunde!« antwortete Andrej eilig. »Ich habe Timofej beim Anspannen geholfen — ich weiß, wie der fährt. Wir fahren anders als die, Dmitri Fjodorowitsch! Die können mit uns nicht mithalten. Keine Stunde kommen die früher an!« sagte Andrej eifrig. Er war noch nicht alt, ein magerer Bursche mit rötlichem Haar, in einem ärmellosen Wams, den Schoßrock über dem linken Arm.

»Fünfzig Rubel Trinkgeld, wenn wir nur eine Stunde später ankommen!«

»Nur eine Stunde, das garantiere ich Ihnen, Dmitri Fjodorowitsch! Ach was, keine halbe Stunde sind die früher da, geschweige denn eine Stunde!«

Mitja entwickelte zwar eine große Geschäftigkeit im Anordnen, doch was er da sagte und befahl, kam alles etwas sonderbar heraus, abgehackt und ungeordnet. Er fing etwas an und vergaß, es zu beenden. Pjotr Iljitsch hielt es für nötig, einzugreifen und sich der Sache anzunehmen.

»Für vierhundert Rubel, nicht unter vierhundert Rubel! Es soll genauso sein wie damals!« kommandierte Mitja. »Vier Dutzend Flaschen Champagner, nicht eine Flasche weniger!«

»Wozu brauchst du denn so viel? Was hat das für einen Sinn? Halt!« schrie Pjotr Iljitsch. »Was ist das für eine Kiste? Was ist da drin? Sind hier wirklich für vierhundert Rubel Waren drin?«

Die geschäftigen Gehilfen setzten ihm sofort mit den liebenswürdigsten Ausdrücken auseinander, in dieser ersten Kiste befände sich nur ein halbes Dutzend Flaschen Champagner und »alle übrigen für den Anfang erforderlichen Dinge«: Imbiß, Konfekt, Montpensier und so weiter; der »Hauptbedarf« jedoch werde erst noch eingepackt und solle dann wie beim vorigen Mal gesondert geliefert werden, auf einem besonderen dreispännigen Wagen; er werde zur rechten Zeit eintreffen, höchstens eine Stunde nach Dmitri Fjodorowitsch.

»Nicht mehr als eine Stunde später, ja nicht später! Und packt recht viel Montpensier und Sahnebonbons ein, das mögen die jungen Mädchen gern!« befahl Mitja eifrig und nachdrücklich.

»Sahnebonbons — von mir aus. Aber wozu brauchst du vier Dutzend Flaschen Champagner? Ein Dutzend reicht doch!« rief Pjotr Iljitsch, nun schon beinahe ärgerlich.

Er fing an zu feilschen, verlangte die Rechnung und wollte sich gar nicht beruhigen. Er rettete allerdings nur hundert Rubel. Man einigte sich schließlich, daß die gelieferte Ware nicht mehr als dreihundert Rubel kosten sollte.

»Ach, hol' euch der Teufel!« rief Pjotr Iljitsch, als käme er auf einmal zur Besinnung. »Was geht mich diese ganze Geschichte an? Wirf dein Geld doch weg, wenn du es so mühelos bekommen hast!«

»Hierher, du Knauser, hierher! Ärgere dich nicht!« sagte Mitja und zog ihn in das Zimmer hinter dem Laden. »Paß auf, man wird uns gleich eine Flasche herbringen, die wollen wir uns zu Gemüte führen. Ach, Pjotr Iljitsch, fahr doch mit! Du bist so ein lieber Mensch, solche Menschen habe ich gern.«

Mitja setzte sich auf einen kleinen Rohrstuhl, an ein winziges Tischchen, das mit einer schmutzigen Serviette bedeckt war. Pjotr Iljitsch nahm ihm gegenüber Platz, und der Champagner kam auch sofort. Der Gehilfe fragte noch, ob die Herren nicht Austern wünschten: »Prima Qualität, soeben eingetroffen.«

»Zum Teufel mit den Austern! Ich esse keine. Und wir brauchen weiter nichts!« rief Pjotr Iljitsch bissig.

»Zum Austernessen haben wir keine Zeit«, bemerkte Mitja. »Und ich habe auch keinen Appetit darauf … Weißt du, lieber Freund«, sagte er auf einmal mit echter Empfindung, »ich habe diese ganze Unordnung nie leiden können.«

»Wer kann die denn überhaupt leiden? Drei Dutzend Flaschen Champagner für die Bauern, ich bitte dich! Das ist ja empörend!«

»Davon rede ich nicht. Ich rede von einer höheren Art Ordnung. In mir ist keine Ordnung, keine höhere Ordnung. Aber … Das alles ist abgeschlossen; darüber zu trauern ist nutzlos. Es ist zu spät, zum Teufel! Mein ganzes Leben war Unordnung, und schaffen muß man Ordnung. Ein Wortspiel, nicht?«

»Das ist kein Wortspiel, sondern sinnloses Gerede!«

»Ruhm dem Höchsten, der die Welten
all erfüllt und meine Brust!

Dieses Verschen hat sich einmal meiner Seele entrungen. Es ist eigentlich kein Vers, sondern eine Träne … Ich habe ihn selbst gemacht … Aber nicht damals, als ich den Stabskapitän am Bart gezogen habe …«

»Wie kommst du plötzlich auf den?«

»Wie ich plötzlich auf den komme? Unsinn! Alles nimmt ein Ende, alles wird ausgeglichen. Strich drunter — und das Fazit.«

»Wahrhaftig, ich muß immer an deine Pistolen denken.«

»Auch die Pistolen sind Unsinn! Trink und phantasiere nicht! Ich liebe das Leben, ich liebe es bereits so übermäßig, daß es geradezu scheußlich ist. Genug! Auf das Leben, Täubchen, laß uns auf das Leben trinken; ich bringe einen Toast auf das Leben aus! Warum bin ich mit mir zufrieden? Ich bin ein gemeiner Mensch, aber ich bin mit mir zufrieden. Zwar quält es mich, daß ich ein gemeiner Mensch bin, aber ich bin mit mir zufrieden. Ich segne die Schöpfung, ich bin auf der Stelle bereit, Gott und seine Schöpfung zu segnen, aber … Man muß ein übelriechendes Insekt vernichten, damit es nicht umherkriecht und anderen Wesen das Leben verdirbt … Laß uns auf das Leben trinken, lieber Bruder! Was kann kostbarer sein als das Leben? Nichts, nichts! Auf das Leben und auf die Königin der Königinnen!«

»Trinken wir auf das Leben und meinetwegen auch auf deine Königin!«

Jeder trank ein Glas. Mitja war hingerissen und redete allerlei durcheinander; dennoch war ihm eine gewisse Traurigkeit anzumerken, als ob eine unüberwindliche Sorge auf ihm lastete.

»Mischa … Dein Mischa ist gekommen … Mischa, Täubchen, komm mal her und trink dieses Glas aus! Auf den morgigen goldlockigen Phöbus …«

»Warum gibst du ihm das?« rief Pjotr Iljitsch gereizt.

»Erlaube es doch, ist ja nichts dabei! Ich möchte es gern.«

Mischa trank das Glas aus, verbeugte sich und lief wieder weg.

»Er wird lange daran denken«, bemerkte Mitja. »Ich liebe das Weib, das Weib! Was ist das Weib? Die Königin der Erde! Mir ist traurig zumute, Pjotr Iljitsch, traurig. Erinnerst du dich an Hamlet: ‚Es ist mir so traurig zumute, Horatio, so traurig … Ach, armer Yorick!‘ Ich bin vielleicht dieser arme Yorick. Jetzt bin ich Yorick, später jedoch ein Schädel.«

Pjotr Iljitsch hörte zu und schwieg. Auch Mitja war ein Weilchen still.

»Was ist das für ein Hündchen?« fragte er auf einmal zerstreut den Gehilfen, als er in einer Ecke einen hübschen kleinen Bologneserhund mit schwarzen Augen bemerkte.

»Das ist das Hündchen von Warwara Alexejewna, der Hausherrin«, antwortete der Gehilfe. »Sie hat es vorhin mitgebracht und hier vergessen. Wir werden es ihr zurückbringen müssen.«

»Ich habe schon einmal so einen Hund gesehen, beim Regiment …«, sagte Mitja nachdenklich. »Nur hatte der ein gebrochenes Hinterbein … Apropos, Pjotr Iljitsch, ich wollte dich fragen: Hast du in deinem Leben mal was gestohlen?«

»Was ist das für eine Frage?«

»Nun, ich frage nur so. Jemand anderem aus der Tasche, fremdes Eigentum? Ich rede nicht von der Staatskasse, die Staatskasse bestehlt ihr alle, und du natürlich auch …«

»Scher dich zum Teufel!«

»Ich rede von fremdem Eigentum. Direkt aus der Tasche, aus dem Geldbeutel, verstehst du?«

»Ich habe einmal meiner Mutter ein Zwanzigkopekenstück gestohlen, als ich neun Jahre alt war. Ich nahm es vom Tisch und hielt es in der zusammengedrückten Hand.«

»Und dann?«

»Weiter nichts. Ich behielt es drei Tage lang, dann schämte ich mich, gestand es und gab es zurück.«

»Nun, und dann?«

»Natürlich bekam ich Prügel. Aber warum fragst du danach? Hast du etwa selbst gestohlen?«

»Ja, ich habe gestohlen«, antwortete Mitja und zwinkerte schlau mit den Augen.

»Was hast du denn gestohlen?« erkundigte sich Pjotr Iljitsch neugierig.

»Meiner Mutter ein Zwanzigkopekenstück, ich war neun Jahre alt, nach drei Tagen gab ich es zurück.«

Nach diesen Worten erhob sich Mitja plötzlich von seinem Platz.

»Dmitri Fjodorowitsch, täten wir nicht gut daran, uns zu beeilen?« rief auf einmal Andrej an der Ladentür.

»Ist alles bereit? Dann wollen wir gehen!« versetzte Mitja, der zusammengefahren war. »Noch ein letztes Wort … Und gebt Andrej schnell noch ein Glas Schnaps auf den Weg! Und ein Glas Kognak, außer dem Schnaps! »Er deutete auf den Pistolenkasten. »Diesen Kasten stellt mir unter den Sitz! Leb wohl, Pjotr Iljitsch! Gedenke meiner nicht im Bösen!«

»Aber du kommst doch morgen zurück?«

»Unbedingt.«

»Belieben Sie jetzt die Rechnung zu begleichen?« fragte ein hinzueilender Gehilfe.

»Ja, richtig, die Rechnung! Gewiß!«

Er holte wieder das Päckchen Banknoten aus der Tasche, nahm drei Hundertrubelscheine, warf sie auf den Ladentisch und verließ eilig den Laden. Man begleitete ihn unter Verbeugungen, höflichen Worten und guten Wünschen hinaus. Andrej räusperte sich nach dem Kognak und sprang auf den Bock. Gerade wollte Mitja einsteigen, als völlig unerwartet Fenja außer Atem angelaufen kam. Sie faltete laut schreiend die Hände vor ihm und fiel ihm zu Füßen.

»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, Täubchen, bringen Sie das gnädige Fräulein nicht um! Ich, ich bin es ja gewesen, die Ihnen alles erzählt hat! … Und bringen Sie auch ihn nicht um, er ist ja ihr Früherer! Jetzt will er Agrafena Alexandrowna heiraten, dazu ist er aus Sibirien zurückgekommen … Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, vernichten Sie ein fremdes Leben nicht!«

»Aha, so steht das! Na, du wirst ja jetzt etwas Schönes anrichten!« murmelte Pjotr Iljitsch vor sich hin. »Jetzt ist alles klar, wie sollte man das jetzt nicht verstehen? Dmitri Fjodorowitsch, gib mir sofort die Pistolen zurück, wenn du ein vernünftiger Mensch sein willst!« rief er Mitja laut zu. »Hörst du, Dmitri?«

»Die Pistolen? Warte, mein Täubchen, ich werde sie unterwegs ins Wasser werfen«, antwortete Mitja. »Steh auf, Fenja, lieg nicht vor mir auf den Knien! Mitja wird niemanden umbringen. Dieser dumme Mensch wird künftig niemanden mehr umbringen. Noch eins, Fenja«, rief er ihr zu, als er sich bereits gesetzt hatte, »Ich bin vorhin grob zu dir gewesen. Verzeih mir das und sei mir nicht böse, verzeih mir schlechtem Menschen … Wenn du es mir aber nicht verzeihst, dann ist es auch egal! Denn jetzt ist schon alles egal! Vorwärts, Andrej! Fahr so schnell du kannst!«

Andrej trieb die Pferde an, das Glöckchen klingelte.

»Lebe wohl, Pjotr Iljitsch! Dir gilt meine letzte Träne!«

‚Betrunken ist er nicht, aber was für einen Unsinn schwatzt er zusammen!‘ dachte Pjotr Iljitsch, als er allein zurückgeblieben war. Er hatte eigentlich noch dableiben und zusehen wollen, wie die übrigen Waren auf den zweiten Wagen verladen wurden, denn er argwöhnte, daß man Mitja übers Ohr hauen würde. Doch auf einmal ärgerte er sich über sich selbst, spuckte aus und begab sich in sein Restaurant, um dort Billard zu spielen.

‚Ein Dummkopf ist er, wenn auch ein guter Junge!‘ brummte er unterwegs in Gedanken vor sich hin. Von diesem Offizier, Gruschenkas Verflossenem, habe ich gehört. Na, wenn der gekommen ist, dann … Pfui Teufel, diese Pistolen! Aber bin ich etwa sein Hüter? Soll er mit ihnen machen, was er will! Es wird überhaupt nichts geschehen. Das sind Maulhelden, weiter nichts. Sie betrinken sich und prügeln sich, sie prügeln sich und versöhnen sich. Tatkräftige Menschen sind sie nicht. Was will das schon besagen: »Ich trete beiseite, ich bestrafe mich selbst!« Gar nichts wird geschehen! Tausendmal hat er im Restaurant mit solchen hochtrabenden Ausdrücken um sich geworfen, wenn er betrunken war. Jetzt war er nun allerdings nicht betrunken. »Seelisch betrunken« — solche Phrasen lieben sie, die Schufte. Bin ich sein Hüter, wie? Er muß sich jedenfalls geprügelt haben, seine ganze Visage war ja voll Blut. Aber mit wem? Das werde ich im Restaurant erfahren. Auch sein Taschentuch war voll Blut … Pfui Teufel, das ist bei mir auf dem Fußboden liegengeblieben … Doch was schert mich das?‘

In der verdrießlichsten Stimmung kam er in das Restaurant und begann sogleich eine Partie. Die Partie heiterte ihn wieder auf. Er spielte eine zweite und begann dabei einem seiner Partner zu erzählen, Dmitri Karamasow habe wieder Geld, an die dreitausend Rubel, wie er selbst gesehen habe, und er sei wieder nach Mokroje gefahren, zu einem Gelage mit Gruschenka. Die Zuhörer nahmen das mit größerem Interesse auf, als er erwartet hatte. Und alle sprachen darüber sonderbar ernst, ohne zu lachen. Sie unterbrachen sogar ihr Spiel.

»Dreitausend Rubel? Wo will er denn dreitausend Rubel herhaben?« Sie fragten ihn weiter aus. Die Nachricht über Frau Chochlakowa wurde mit starken Zweifeln aufgenommen.

»Er wird doch nicht den Alten beraubt haben? Na, das wäre vielleicht …«

»Dreitausend Rubel? Da stimmt was nicht!«

»Er hat sich laut gerühmt, er würde seinen Vater totschlagen, das haben hier alle gehört. Ausgerechnet von dreitausend Rubeln hat er gesprochen …«

Pjotr Iljitsch hörte das mit an und antwortete auf weitere Fragen nur trocken und wortkarg. Von dem Blut, das Mitja im Gesicht und an den Händen gehabt hatte, sagte er keine Silbe, obgleich er, als er auf dem Weg ins Restaurant war, beabsichtigt hatte, auch dies zu erzählen. Man begann die dritte Partie, und das Gespräch über Mitja verstummte allmählich. Als die dritte Partie dann zu Ende war, mochte Pjotr Iljitsch nicht weiterspielen, legte das Queue beiseite und verließ das Restaurant, ohne dort zu Abend zu essen, wie er eigentlich vorgehabt hatte. Auf dem Marktplatz angelangt, blieb er unentschlossen stehen und mußte sogar über sich selbst staunen. Er erinnerte sich plötzlich, daß er zuerst zum Haus von Fjodor Pawlowitsch hatte gehen wollen, um sich zu erkundigen, ob dort etwas vorgefallen war. Doch er sagte sich: ‚Soll ich wegen einer Dummheit in einem fremdem Haus die Leute aufwecken und einen Skandal hervorrufen? Zum Teufel, bin ich etwa ihr Hüter?‘

In höchst verdrießlicher Stimmung schlug er den direkten Weg zu seiner Wohnung ein; da fiel ihm plötzlich Fenja ein. ‚Zum Teufel, die hätte ich vorhin ausfragen sollen‘, dachte er ärgerlich. ‚Dann wüßte ich jetzt alles.‘ Und auf einmal wuchs in ihm ein so ungeduldiges, hartnäckiges Verlangen, mit ihr zu reden und sich bei ihr zu erkundigen, daß er auf halbem Weg zum Haus von Frau Morosowa abbog, wo Gruschenka wohnte. Er klopfte ans Tor, der laute Schall, der durch die Stille der Nacht hallte, schien ihn jedoch jäh zu ernüchtern und zu ärgern. ‚Auch hier werde ich einen Skandal anrichten!‘ dachte er, peinlich berührt, doch statt nun endgültig zu gehen, begann er auf einmal, abermals zu klopfen, und zwar aus Leibeskräften. Der Lärm schallte durch die ganze Straße. »Wollen mal sehen, ob ich sie nicht doch wachklopfe!« murmelte er. Mit jedem Schlag wurde er wütender, steigerte aber zugleich die Wucht seiner Schläge.