Zum Hauptinhalt springen

8. Im Fieberwahn

Nun begann eine Art Orgie, ein Gelage für jedermann. Gruschenka war die erste, die sich Wein geben ließ. »Ich will trinken, total betrinken will ich mich! Es soll sein wie voriges Mal, erinnerst du dich, Mitja? Erinnerst du dich, wie wir uns damals hier kennengelernt haben?« Mitja selbst war wie im Fieber und ahnte »sein Glück«. Gruschenka jagte ihn übrigens fortwährend von sich fort: »Geh, sei lustig! Sag ihnen, sie sollen tanzen, alle sollen lustig sein! Tanzen sollen Tisch und Bänke und der Ofen und die Schränke! Wie damals, wie damals!« rief sie. Sie war sehr erregt. Und Mitja lief, um alles anzuordnen. Der Chor hatte sich im Nebenzimmer versammelt. Das Zimmer, in dem sie bis dahin gesessen hatten, war zu eng, da es durch einen Kattunvorhang geteilt war; hinter dem Vorhang stand ein riesiges Bett mit einem dicken Federbett und mit einem Berg von Kissen in Baumwollbezügen. Betten standen nämlich in allen vier »guten Stuben« dieses Hauses. Gruschenka hatte direkt in der Tür Platz genommen; Mitja hatte ihr den Lehnstuhl dorthin getragen: Hier hatte sie auch »damals«, während ihres ersten Gelages, gesessen und dem Gesang zugehört und dem Tanz zugesehen. Die Mädchen, die sich jetzt versammelt hatten, waren dieselben wie damals. Die Juden mit den Geigen und Zithern hatten sich ebenfalls eingefunden, und endlich war auch der sehnlich erwartete dreispännige Wagen mit den Weinen und den Lebensmitteln eingetroffen. Mitja war in geschäftiger Bewegung. Auch Unbeteiligte kamen herein, um zuzuschauen, Bauern und Bauersfrauen, die sich zwar schon schlafen gelegt hatten, aber wieder aufgestanden waren, weil sie eine reiche Bewirtung witterten wie vor einem Monat. Mitja begrüßte und umarmte alle, die er kannte und an deren Gesichter er sich erinnerte, öffnete Flaschen und goß jedem ein, der ihm in die Nähe kam. Auf Champagner waren eigentlich nur die jungen Mädchen versessen; den Bauern sagten Rum und Kognak und besonders der heiße Punsch mehr zu. Mitja ordnete an, für alle Mädchen Schokolade zu kochen und drei Samoware die ganze Nacht über in Betrieb zu lassen, damit jeder Ankömmling Tee und Punsch bekommen konnte: Ein jeder sollte bewirtet werden. Kurz, es begann ein ausschweifendes, sinnloses Treiben; Mitja fühlte sich dabei in seinem Element, und je sinnloser es wurde, um so lebhafter und munterer wurde er. Hätte ihn irgendein Bauer in jenen Augenblicken um Geld gebeten, hätte er sogleich sein ganzes Päckchen Banknoten herausgezogen und nach rechts und links Geld verteilt, ohne zu zählen. Wahrscheinlich aus diesem Grund hielt sich der Wirt Trifon Borissowitsch fast wie eine Klette in seiner Nähe; er schien in dieser Nacht gänzlich auf Schlaf verzichten zu wollen, trank nur wenig, nur ein einziges Glas Punsch, und wachte auf seine Weise sorgsam über Mitjas Interessen. Sooft er es für nötig erachtete, hielt er ihn in knechtisch-freundlicher Manier zurück, redete auf ihn ein, ließ nicht zu, daß er wie »damals« die Bauern mit Zigarren und Rheinwein bewirtete oder ihnen womöglich Geld gab, und war sehr empört darüber, daß die jungen Mädchen Likör tranken und Konfekt aßen. »Es ist ja nur eine Lausebande, Dmitri Fjodorowitsch«, sagte er. »Ich gebe jeder von hinten einen Stoß mit dem Knie und befehle ihr dann noch, sich das als eine Ehre anzurechnen — von der Sorte sind die!« Mitja kam noch einmal auf Andrej zurück und befahl, ihm Punsch zu schicken. »Ich habe ihn vorhin gekränkt«, sagte er noch einmal mit matter, gerührter Stimme. Kalganow wollte eigentlich nicht trinken, und der Mädchenchor mißfiel ihm anfangs sehr; doch nachdem er noch ein paar Gläser Champagner getrunken hatte, wurde er sehr vergnügt, wanderte durch die Zimmer, lachte und lobte alles und alle, die Lieder wie die Musik. Maximow, glückselig und angeheitert, wich nicht von seiner Seite. Gruschenka, die ebenfalls langsam berauscht wurde, sagte zu Mitja, auf Kalganow deutend: »Was ist er doch für ein lieber, prächtiger Junge!« Und Mitja lief hin, um Kalganow und Maximow zu küssen. Oh, er ahnte vieles, wenn sie ihm auch noch nichts Bestimmtes gesagt hatte, sondern sich sogar eher absichtlich zurückhielt, etwas zu sagen, und ihm nur ab und zu einen freundlichen, aber heißen Blick zuwarf. Endlich nahm sie ihn plötzlich fest bei der Hand und zog ihn mit Gewalt zu sich heran. Sie saß in diesem Augenblick in ihrem Lehnstuhl an der Tür.

»Wie konntest du nur vorhin mit so einer Absicht hereinkommen? Wie ist das nur möglich? Ich habe so einen Schreck bekommen! Wie konntest du mich nur an ihn abtreten wollen! Hast du das wirklich gewollt?«

»Ich wollte dein Glück nicht zerstören!« stammelte Mitja glückselig. Aber sie bedurfte seiner Antwort gar nicht.

»Na, nun geh … Sei lustig!« Mit diesen Worten schickte sie ihn wieder weg. »Und weine nicht, ich werde dich wieder rufen.«

Er ging, und sie beschäftigte sich wieder damit, den Liedern zuzuhören und dem Tanz zuzusehen, folgte ihm dabei jedoch mit den Blicken, wo immer er war. Nach einer Viertelstunde rief sie ihn wieder, und er kam wieder sofort.

»So, setz dich jetzt zu mir und erzähle, wie du erfahren hast, daß ich hierhergefahren bin. Von wem hast du es zuerst gehört?«

Und Mitja begann zu erzählen, unzusammenhängend, ohne Ordnung, mit Feuer; eigenartig war, daß er dabei häufig die Augenbrauen zusammenzog und verstummte.

»Warum machst du denn so ein finsteres Gesicht?« fragte sie »Was hast du?«

»Ach, nichts … Ich habe dort jemand krank zurückgelassen. Wenn ich wüßte, daß er wieder gesund wird — ich würde zehn Jahre meines Lebens darum geben!«

»Nun, Gott helfe ihm, wenn er krank ist! Also du wolltest dich morgen wirklich erschießen? Und warum, du Dummkopf! Aber ich liebe gerade solche unvernünftigen Menschen wie dich«, flüsterte sie ihm mit etwas schwer gewordener Zunge zu. »Also du bist für mich zu allem fähig? Ja? Und du hast dich wirklich morgen erschießen wollen, du kleiner Dummkopf! Nein, warte noch ein Weilchen … morgen sage ich dir vielleicht ein Wörtchen … Heute noch nicht, aber morgen … Oder möchtest du es heute hören? Nein, heute will ich nicht … So, nun geh, geh jetzt, sei lustig!«

Einmal jedoch, als sie ihn zu sich rief, schien sie bekümmert und besorgt zu sein.

»Warum bist du so traurig? Ich sehe, daß du traurig bist … Nein, ich sehe es ganz genau!« fügte sie hinzu und sah ihm scharf in die Augen. »Wenn du auch die Bauern abküßt und herumschreist, ich sehe, was ich sehe. Aber nicht doch, sei lustig! Ich bin lustig, und du sollst auch lustig sein … Ich liebe hier jemand: Rate mal, wen? Ach, sieh mal, mein Junge ist eingeschlafen, er ist betrunken, der liebe Kerl!«

Sie meinte Kalganow. Der war tatsächlich betrunken und, auf dem Sofa sitzend, einen Augenblick eingeschlafen — doch nicht nur infolge der Trunkenheit. Ihm war aus irgendwelchem Grund traurig zumute, oder wie er sagte: er langweilte sich. Stark verstimmt hatten ihn zuletzt auch die von den Mädchen gesungenen Lieder, die mit der Zeit immer ausgelassener und unzüchtiger geworden waren. Ebenso war es mit den Tänzen: Zwei Mädchen hatten sich als Bären verkleidet, und die kecke Stepanida spielte mit einem Stock in der Hand den Bärenführer und führte die beiden vor. »Lustiger, Marja!« rief sie. »Sonst bekommst du den Stock!« Die Bären fielen schließlich unter dem lauten Gelächter des dichtgedrängt stehenden Publikums in einer sehr unanständigen Weise zu Boden. »Na, sollen sie, sollen sie doch!« hatte Gruschenka ruhig gesagt. »Warum sollen sich die Leute nicht freuen, wenn einmal ein Tag zum Lustigsein kommt. Kalganow aber hatte ein Gesicht gemacht, als hätte er sich beschmutzt. »Eine Schweinerei ist das alles, diese ganze Volkstümlichkeit!« hatte er bemerkt und war beiseite gegangen. Sein besonderes Mißfallen hatte aber ein »neues« Liedchen zu einer munteren Tanzweise erregt, das davon handelte, wie Angehörige verschiedener Stände um die Liebe der Mädchen werben.

Fragt ein Adelsherr die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Doch die Mädchen sind der Ansicht, daß man so einen Herrn nicht lieben kann.

Hoher Herr wird kräftig schlagen,
und das mag ich nicht ertragen.

Dann kommt ein Zigeuner:

Ein Zigeuner fragt die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Aber auch einen Zigeuner können sie nicht lieben.

Der Zigeuner, der wird stehlen,
mag ihn nicht zum Liebsten wählen.

So kommen noch viele mit der gleichen Frage, auch ein Soldat:

Ein Soldat fragt die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Auch der Soldat wird geringschätzig abgewiesen.

Der Tornister auf dem Rücken,
wird sehr drücken, wenn …

Hier folgte ein zensurwidriger Vers, der allerdings ganz unbefangen vorgetragen wurde und bei den Zuhörern wahre Begeisterungsstürme auslöste.

Die Sache endete schließlich mit dem Kaufmann.

Reicher Kaufmann fragt die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Und es zeigte sich, daß sie den sehr gern lieben würden:

Kaufmann wird viel Rubel raffen,
mir ein schönes Leben schaffen.

Kalganow war darüber richtig wütend geworden. »Das ist ja ein ganz modernes Lied!« hatte er laut bemerkt. »Wer nur so etwas verfaßt? Es fehlte nur noch, daß ein Eisenbahnaktionär oder ein Jude kommt und die Mädchen fragt — die würden gewiß alle übrigen aus dem Feld schlagen.« Und er hatte beinahe beleidigt hinzugefügt, daß er sich nun langweile, hatte sich aufs Sofa gesetzt und war eingeschlummert. Sein hübsches Gesichtchen war noch ein wenig blasser geworden und seitwärts auf das Sofapolster gesunken.

»Sieh nur, wie hübsch er ist«, sagte Gruschenka zu Mitja. »Ich habe ihn vorhin gekämmt, sein Haar ist wie Flachs und so dicht …« Sie beugte sich gerührt über ihn und küßte ihn auf die Stirn.

Kalganow schlug die Augen auf, blickte sie an, richtete sich auf und fragte mit dem Ausdruck höchster Besorgnis: »Wo ist Maximow?«

»Also um den macht er sich Sorgen!« sagte Gruschenka lachend. »Sitz doch ein Weilchen mit mir zusammen! Mitja, lauf und hole seinen Maximow!«

Es stellte sich heraus, daß Maximow keinen Augenblick mehr von den Mädchen wich. Nur ab und zu goß er sich ein Gläschen Likör ein, und Schokolade hatte er schon zwei Tassen getrunken. Sein Gesicht war dunkelrot geworden, die Nase blaurot; seine Augen hatten einen feuchten, süßlichen Schimmer bekommen. Er kam herbeigelaufen und erklärte, er wolle sogleich nach einer besonderen Melodei die Sabotiere tanzen.

»Man hat mich ja, als ich noch klein war, alle diese feinen Gesellschaftstänze gelehrt.«

»Geh du mit ihm, Mitja, ich werde von hier aus zusehen.«

»Ich auch, ich werde auch hingehen und zusehen!« rief Kalganow und lehnte so in der naivsten Weise Gruschenkas Angebot ab.

Es begaben sich also alle hin, um zuzusehen. Maximow führte seinen Tanz wirklich aus, erregte damit aber bei niemand, außer hei Mitja, sonderliches Entzücken. Der ganze Tanz bestand aus besonderen Sprüngen, wobei die Füße seitwärts gedreht wurden, mit den Sohlen nach oben; bei jedem Sprung schlug sich Maximow mit der flachen Hand auf eine Sohle. Kalganow fand keinen Gefallen daran; Mitja hingegen umarmte und küßte den Tänzer sogar.

»Vielen, vielen Dank! Vielleicht bist du erschöpft? Möchtest du ein Stückchen Konfekt, ja? Oder willst du vielleicht eine Zigarre?«

»Eine Zigarette.«

»Möchtest du etwas trinken?«

»Ich werde einen kleinen Likör trinken … Haben Sie kein Schokoladenkonfekt?«

»Da auf dem Tisch ist ja eine ganze Fuhre davon. Such dir etwas aus, du Taubenseele!«

»Nein, ich möchte welches mit Vanille … Für alte Männer … Hihi!«

»Nein, Bruder, diese besondere Sorte ist nicht da.«

»Hören Sie mal …« Der Alte beugte sich ganz dicht an Mitjas Ohr. »Sehen Sie dieses Mädchen da? Die Marjuschka, hihi! Ich möchte gern, wenn es möglich wäre, durch Ihre Güte mit ihr bekannt werden …«

»Nun sieh mal einer an, was du für Wünsche hast! Nein, Bruder, du redest Unsinn.«

»Ich tu' ja niemand was zuleide damit«, flüsterte Maximow wehmütig.

»Na schön. Hier wird zwar nur gesungen und getanzt, aber zum Teufel, warte ein Weilchen … Vorläufig iß und trink und sei lustig! Brauchst du Geld?«

»Wenn ich vielleicht nachher etwas bekommen könnte?« erwiderte Maximow lächelnd.

»Gut, gut …«

Mitja hatte einen glühend heißen Kopf. Er ging auf den Flur hinaus und von da aus auf die obere Galerie, die sich auch innen, auf der Hofseite, an einem Teil des Gebäudes hinzog. Die frische Luft belebte ihn. Er stand allein, in der Dunkelheit, und griff sich plötzlich mit beiden Händen an den Kopf. Seine zerstreuten Gedanken und alle seine Empfindungen flossen auf einmal zusammen, und alles wurde klar und hell. Aber es war eine furchtbare, entsetzliche Helligkeit! ‚Wenn ich mich nun einmal erschießen will, welcher Zeitpunkt könnte geeigneter sein als der jetzige?‘ ging es ihm durch den Kopf. Ich sollte die Pistole holen und hier in diesem schmutzigen, dunklen Winkel allem ein Ende machen …‘ Fast eine Minute lang stand er unentschlossen da. Vorhin, als er im Wagen hierherjagte, hatte hinter ihm die Schande gestanden, der begangene Diebstahl und dieses Blut, dieses Blut! Doch da wäre es ihm noch leichter gefallen, sich das Leben zu nehmen, oh, viel leichter! Es war ja schon alles ausgewesen: er hatte sie verloren, hatte sie dem anderen abgetreten, sie war für ihn untergegangen, verschwunden — oh, da war es leichter für ihn, das Todesurteil über sich zu fällen; wenigstens erschien es als unvermeidlich, als notwendig: wozu sollte er noch auf der Welt bleiben? Aber jetzt — stand die Sache etwa jetzt noch so wie vorhin? Jetzt war wenigstens ein Gespenst, ein Schreckbild beseitigt: dieser »Frühere« war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das furchtbare Gespenst hatte sich auf einmal in ein kleines, komisches Menschlein verwandelt, war ins Schlafzimmer geschickt und eingeschlossen worden. Daß es jemals zurückkehren würde, war nicht zu erwarten. Sie schämte sich, und er sah es ihr schon jetzt an den Augen an, wen sie liebte. Ach, gerade jetzt verlangte ihn zu leben, zu leben … Und doch durfte er nicht weiter leben, er durfte nicht — oh, was für eine furchtbare Lage!

‚O Gott, mach den bitte wieder lebendig, den ich am Zaun niedergeschlagen habe! Laß diesen schrecklichen Kelch an mir vorübergehen? O Herr, du hast ja bereits für solche Sünder wie mich Wunder getan! Aber wie, wenn der alte Mann am Leben ist? Oh, dann werde ich die Schmach der übrigen Schande tilgen! Ich werde das gestohlene Geld zurückerstatten! Ich werde es zurückgeben, und wenn ich es aus der Erde hervorholen müßte … Es wird keine Spur der Schande übrigbleiben — nur in meinem Herzen wird sie lebenslänglich bohren! Aber nein, nein … O diese unmöglichen, kleinmütigen Gedanken! O diese unselige Lage!‘

Und doch war es ihm, als ob ihm ein heller Hoffnungsstrahl in der Dunkelheit aufleuchtete. Er verließ hastig seine Ecke, um zurückzueilen — zu ihr, wieder zu ihr, die für immer seine Königin war! Wiegt nicht eine einzige Stunde, eine einzige Minute ihrer Liebe das ganze übrige Leben auf, auch wenn es in den Qualen der Schande zugebracht wird? Diese ungestüme Frage ließ sein Herz erzittern. ‚Zu ihr will ich, zu ihr allein, sie sehen, sie hören, an nichts denken, alles vergessen, wenn auch nur für diese Nacht, für eine Stunde, für einen Augenblick!‘ Vor dem Eingang zum Flur, noch auf der Galerie, stieß er mit dem Wirt Trifon Borissowitsch zusammen. Dieser machte auf ihn einen finsteren und besorgten Eindruck; wie es schien, kam er ihn suchen.

»Was gibt es, Trifon Borissowitsch? Suchst du mich?«

»Nein, Sie nicht«, erwiderte der Wirt offenbar erschrocken. »Warum sollte ich Sie suchen? Aber … Wo waren Sie denn?«

»Warum machst du so ein trübsinniges Gesicht? Bist du ärgerlich? Warte nur, du wirst bald schlafen gehen können … Wie spät ist es?«

»Es wird drei Uhr sein, oder sogar noch später.«

»Wir wollen Schluß machen!«

»Aber ich bitte Sie, das hat ja nichts zu sagen. Solange es Ihnen beliebt …«

‚Was hat er nur?‘ dachte Mitja flüchtig und lief in das Zimmer, wo die Mädchen tanzten. Aber sie war nicht dort. In dem blauen Zimmer war sie auch nicht, dort schlief nur Kalganow auf dem Sofa. Mitja blickte hinter den Vorhang — da war sie. Sie saß in einer Ecke auf einem Kasten, hatte Arme und Kopf auf das danebenstehende Bett gelegt und weinte bitterlich, wobei sie sich nach Kräften zu beherrschen suchte und ihre Stimme unterdrückte, um nicht gehört zu werden. Als sie Mitja sah, winkte sie ihn zu sich heran, und als er bei ihr war, ergriff sie fest seine Hand.

»Mitja, Mitja, ich habe ihn ja geliebt!« begann sie flüsternd. »Ich habe ihn geliebt, die ganzen fünf Jahre, die ganze Zeit. Habe ich ihn geliebt oder nur meinen Zorn? Nein, ihn selbst! Ihn selbst! Ich lüge ja, wenn ich sage, daß ich nur meinen Zorn geliebt habe und nicht ihn! Mitja, ich war damals erst siebzehn Jahre alt, er war so freundlich zu mir, so heiter, Lieder hat er mir vorgesungen. Oder ist er mir damals nur so erschienen, weil ich noch ein dummes kleines Mädchen war? Aber jetzt, o Gott, jetzt ist er ein anderer, ein ganz anderer. Auch das Gesicht ist anders, völlig anders … Ich habe ihn gar nicht wiedererkannt. Ich fuhr mit Timofej hierher und dachte immerzu, während der ganzen Fahrt: Wie werde ich ihm entgegentreten, was werde ich sagen, wie werden wir einander ansehen? Meine Seele wollte vergehen, und da hat er mich wie aus einem Kübel mit Schmutz übergossen. Wie ein Schulmeister redet er, alles ist gelehrt und würdevoll, er empfing mich so feierlich, ich war ganz verblüfft. Ich konnte kein Wort herausbringen. Ich dachte anfangs, vielleicht geniert er sich vor seinem langen Begleiter. Ich saß da und sah die beiden an und dachte: Warum kann ich denn jetzt gar nicht mehr mit ihm reden? Weißt du, seine Frau hat ihn verdorben, die, die er heiratete, nachdem er mich im Stich gelassen hatte … Die hat ihn so umgewandelt. Ach, Mitja, diese Schmach! Oh, ich schäme mich, Mitja, ich schäme mich meines ganzen Lebens! Verflucht, verflucht sollen diese fünf Jahre sein, verflucht!« Und sie brach wieder in Tränen aus, ließ aber Mitjas Hand nicht los, sie hielt sie fest in ihrer.

»Mitja, Täubchen, warte, geh nicht fort, ich will dir ein einziges Wörtchen sagen«, flüsterte sie und hob auf einmal das Gesicht zu ihm auf. »Sag mir doch, wen liebe ich? Ich liebe hier einen einzigen Menschen. Wer ist dieser Mensch? Das sollst du mir sagen.« Auf ihrem vom Weinen geschwollenen Gesicht erstrahlte ein Lächeln, ihre Augen glänzten im Halbdunkel. »Vorhin kam ein Falke herein, da bekam mein Herz einen süßen Schreck. ‚Du Närrin, das ist doch der, den du liebst!‘ flüsterte mein Herz. Du bist hereingekommen und hast alles erleuchtet. ‚Aber was fürchtet er nur?‘ dachte ich. Denn du hattest Furcht, große Furcht, du warst nicht imstande zu sprechen. ‚Er wird sich doch nicht vor denen hier fürchten?‘ dachte ich — als oh du vor jemand Angst haben könntest. ‚Vor mir fürchtet er sich!‘ dachte ich. Nur vor mir … Fenja hat dir großem Dummkopf ja sicher erzählt, daß ich deinem Bruder Aljoscha aus dem Fenster zugerufen habe, ich hätte Mitenka ein Stündchen geliebt, doch jetzt sei ich weggefahren, um einen anderen zu lieben … Mitja, Mitja, wie konnte ich bloß glauben, daß ich nach dir einen anderen lieben würde! Verzeihst du mir, Mitja? Verzeihst du mir oder nicht? Liebst du mich? Liebst du mich?«

Sie sprang auf und faßte ihn mit beiden Händen an den Schultern. Mitja, stumm vor Entzücken, sah ihr in die Augen, in das lächelnde Gesicht, dann umarmte er sie fest und begann sie feurig zu küssen.

»Und verzeihst du, daß ich dich gequält habe? Ich habe ja euch alle aus Bosheit gequält. Ich habe den alten Mann aus Bosheit absichtlich um den Verstand gebracht … Erinnerst du dich, wie du einmal bei mir etwas getrunken und das Glas zerschlagen hast?« Daran habe ich gedacht und heute mein Glas ebenfalls zerschlagen; ich hatte auf mein unwürdiges Herz getrunken … Mitja, du mein Falke, warum küßt du mich nicht? Einmal hat er mich geküßt und sich losgerissen, sieht und hört bloß zu … Was hast du denn davon, daß du mir zuhörst? Küß mich, küß mich fester … Siehst du, so! Wenn man liebt, muß man auch ordentlich lieben! Deine Sklavin werde ich jetzt sein, deine Sklavin fürs ganze Leben. Es ist süß, Sklavin zu sein! Küß mich! Schlag mich, quäl mich, tu mit mir, was du willst … Oh, du müßtest mich geradezu foltern … Halt! Warte, später, so will ich nicht …« Sie stieß ihn plötzlich zurück. »Geh weg, Mitja! Ich will jetzt Wein trinken, betrinken will ich mich, und sobald ich betrunken bin, will ich tanzen! Ja, das will ich!«

Sie riß sich von ihm los und lief vor den Vorhang. Mitja folgte ihr wie trunken. ‚Mag jetzt geschehen, was da will — für eine Minute Seligkeit gebe ich die ganze Welt hin!‘ Dieser Gedanke huschte ihm durch den Kopf. Gruschenka trank wirklich noch ein Glas Champagner auf einen Zug aus und war augenblicklich betrunken. Sie setzte sich mit glückseligem Lächeln in den Lehnstuhl, auf ihren früheren Platz. Ihre Wangen glühten, ihre Lippen brannten, die funkelnden Augen wurden trübe, ihr leidenschaftlicher Blick bekam etwas Lockendes. Sogar Kalganow spürte die Wirkung dieses Blickes und trat zu ihr.

»Hast du gemerkt, daß ich dich vorhin geküßt habe, als du schliefst?« fragte sie ihn lallend. »Ich bin jetzt betrunken, so ist das … Und du bist nicht betrunken? Warum trinkt denn Mitja nicht? Warum trinkst du nicht, Mitja? Ich habe getrunken, und du trinkst nicht …«

»Ich bin betrunken! Ich bin auch so schon betrunken … Von dir bin ich trunken, aber jetzt will ich mich auch an Wein betrinken.«

Er trank noch ein Glas, und — das kam ihm selber seltsam vor — von diesem letzten Glas erst wurde er betrunken, urplötzlich betrunken, während er bis dahin nüchtern gewesen war, wie er sich selbst erinnerte. Von diesem Augenblick an drehte sich alles um ihn im Kreis, als ob er Fieber hätte. Er ging umher, lachte, redete mit allen, und das alles gewissermaßen unbewußt. Nur ein einziges unveränderliches, brennendes Gefühl war alle Augenblicke spürbar, »wie eine glühende Kohle in der Seele«: daran erinnerte er sich später. Er trat zu ihr, setzte sich neben sie, sah sie an und hörte, was sie sagte … Sie aber war furchtbar redselig geworden, rief alle zu sich, winkte auf einmal ein Mädchen aus dem Chor heran, küßte sie und schickte sie wieder weg, oder segnete sie manchmal, indem sie mit der Hand ein Kreuz schlug. Vielleicht brach sie im nächsten Moment in Tränen aus. Viel Spaß machte ihr »das alte Männchen«, wie sie Maximow nannte. Er kam alle Augenblicke hergelaufen, um ihr die Hände »und jedes Fingerchen« zu küssen; zuletzt tanzte er noch einen Tanz nach einem alten Tanzlied, das er selbst sang. Besonders feurig hüpfte er zu dem Refrain:

Das Schweinchen grunzte chru-chru-chru,
das Kälbchen blökte mu-mu-mu,
das Entchen machte qua-qua-qua,
das Gänschen machte ga-ga-ga,
im Flur ein kleines Hühnchen lief,
das put-put, put-put, put-put rief.
Ja, so rief es,
ja, so lief es …

»Gib ihm etwas, Mitja«, sagte Gruschenka. »Schenk ihm etwas, er ist ja arm. Ach, die Armen, die das Schicksal zurückgesetzt hat … Weißt du, Mitja, ich werde in ein Kloster gehen. Nein, wirklich, das werde ich einmal tun. Aljoscha hat mir heute Worte gesagt, die fürs ganze Leben in meiner Seele haften werden … Ja … Aber heute wollen wir tanzen. Morgen will ich ins Kloster gehen, aber heute wollen wir tanzen. Ich will ausgelassen sein, ihr lieben Leute — was ist schon dabei? Gott wird es verzeihen. Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen verzeihen! ‚Meine lieben Sünder!‘ würde ich sagen. ‚Von heute an verzeihe ich euch allen!‘ Ich aber werde gehen und alle Menschen um Verzeihung bitten. ‚Verzeiht, ihr guten Leute!‘ werde ich sagen. ‚Ein dummes Weib — jawohl, das bin ich. Eine Bestie bin ich, ja, so ist es!‘ Aber ich will beten. Ich habe eine Zwiebel verschenkt. Eine Sünderin wie ich möchte beten! Mitja, laß sie tanzen, hindere sie nicht! Alle Menschen in der Welt sind gut, ohne Ausnahme. Es ist schön auf der Welt. Wenn wir auch böse sind — es ist doch schön auf der Welt. Wir sind böse und gut … Nein, sagt mir doch, ich möchte euch etwas fragen, kommt alle her, ich frage euch, beantwortet mir alle die eine Frage: Warum bin ich so gut? Ich bin ja doch gut, ich bin sehr gut … Nun also, warum bin ich so gut?« So lallte Gruschenka, die immer betrunkener wurde; schließlich erklärte sie geradezu, sie wolle jetzt selber tanzen. Sie stand aus ihrem Lehnstuhl auf, taumelte. »Mitja, gib mir keinen Wein mehr! Und wenn ich dich auch darum bitte — gib mir keinen! Der Wein beruhigt nicht. Alles dreht sich im Kreis, auch der Ofen, alles dreht sich im Kreis. Ich will tanzen. Alle sollen zusehen, wie ich tanze … Wie gut und schön ich tanze …«

Es war ihr mit dieser Absicht Ernst. Sie zog ihr kleines weißes Batisttaschentuch heraus und faßte es mit der rechten Hand an einem Zipfel, um es beim Tanz zu schwenken. Mitja ordnete geschäftig alles Nötige an; die Mädchen verstummten und machten sich bereit, auf den ersten Wink im Chor ein Tanzlied anzustimmen. Maximow kreischte vor Entzücken, als er hörte, daß Gruschenka selbst tanzen wollte. Er hüpfte vor ihr her und sang dazu:

»Seht, mein hübsches Schweinchen
mit den schlanken Beinchen
und dem Ringelschwänzchen,
macht ein schönes Tänzchen.«

Doch Gruschenka jagte ihn mit dem Taschentuch fort.

»Pst! Mitja! Warum kommen sie nicht? Alle sollen kommen und zusehen. Ruf auch die Eingeschlossenen … Warum hast du sie eingeschlossen? Sag ihnen, daß ich tanzen werde! Sie sollen auch sehen, wie ich tanze …«

Mitja ging mit den weit ausholenden Schritten eines Betrunkenen zu der verschlossenen Tür, hinter der sich die Polen befanden, und pochte mit der Faust dagegen.

»Heda, ihr! Ihr Podwysockis! Kommt heraus, sie will tanzen und läßt euch rufen!«

»Strolch!« schrie einer der beiden als Antwort.

»Und du bist ein subalterner Strolch! Ein jämmerlicher kleiner Schuft bist du, nun weißt du es!«

»Sie sollten lieber aufhören, sich über Polen lustig zu machen«, bemerkte Kalganow tadelnd; er hatte selbst mehr getrunken, als er vertragen konnte.

»Sei still, Knabe! Wenn ich ihn einen Schuft nenne, dann beschimpfe ich doch nicht ganz Polen. Ein einzelner Strolch macht nicht Polen aus. Schweig, lieber Junge, und iß ein Stückchen Konfekt!«

»Ach, ihr. Als ob ihr keine Menschen seid! Warum wollt ihr euch nicht vertragen?« sagte Gruschenka und trat vor, um zu tanzen.

Der Chor stimmte lauthals das Tanzlied »Ach du Heim, mein trautes Heim« an. Gruschenka warf den Kopf zurück, öffnete etwas die Lippen, lächelte, begann das Tuch zu schwenken und stand plötzlich, auf einem Fleck hin und her schwankend, ratlos mitten im Zimmer.

»Ich bin so schwach …«, sagte sie mit gequälter Stimme. »Verzeiht mir, ich bin so schwach, ich kann nicht … Ich bitte um Entschuldigung …«

Sie verbeugte sich vor dem Chor und machte dann nach allen Seiten Verbeugungen. »Ich bitte um Entschuldigung … Verzeiht.«

»Sie hat ein bißchen getrunken, das gnädige Fräulein … Sie hat ein bißchen getrunken, das hübsche gnädige Fräulein«, hörte man sagen.

»Sie hat sich betrunken«, erklärte Maximow kichernd den Mädchen.

»Mitja, führ mich weg … Nimm mich, Mitja«, bat Gruschenka kraftlos.

Mitja stürzte zu ihr, nahm sie auf die Arme und lief mit seiner kostbaren Beute hinter den Vorhang. ‚Na, jetzt werde ich besser gehen!‘ dachte Kalganow, verließ das blaue Zimmer und machte beide Türflügel hinter sich zu. Doch das lärmende

Gelage im Saal dauerte an und wurde immer lauter und wilder. Mitja legte Gruschenka aufs Bett und sog sich mit einem Kuß an ihren Lippen fest.

»Rühr mich nicht an!« stammelte sie flehend. »Rühr mich nicht an, ehe ich nicht dir gehöre … Ich habe gesagt, daß ich dir gehören will, aber rühr mich jetzt nicht an … Schone mich … Während die beiden nebenan sind, geht es nicht. Er ist hier. Es hier zu tun, jetzt, das wäre gemein …«

»Ich gehorche! Ich verjage diesen Gedanken … Ich bin andächtig gestimmt!« murmelte Mitja. »Ja, hier wäre es gemein, verachtungswürdig!«

Und ohne sie aus seinen Armen zu lassen, kniete er neben dem Bett auf dem Fußboden nieder.

»Ich weiß, du bist zwar wie ein wildes Tier, aber du hast eine edle Gesinnung«, sagte Gruschenka mit schwerer Zunge. »Es muß in Ehren geschehen … Künftig wird es in Ehren geschehen … Und auch wir müssen ehrenhaft sein, nicht so wie die wilden Tiere, sondern gut … Bring mich fort, bring mich weit fort, hörst du? Ich will nicht hierbleiben, ich will weit, weit fort …«

»Ja, ja, unbedingt!« rief Mitja und preßte sie an sich. »Ich werde dich fortbringen, wir werden davoneilen. Oh, mein ganzes Leben würde ich für ein einziges Jahr hingeben, wenn ich nur wüßte, was mit diesem Blut ist!«

»Mit welchem Blut?« fragte Gruschenka verständnislos.

»Ach, nichts weiter!« antwortete Mitja zähneknirschend. »Gruscha, du willst, daß alles ehrenhaft ist — aber ich bin ein Dieb. Ich habe Katka Geld gestohlen …. Schmach und Schande!«

»Katka? Dem Fräulein? Nein, du hast es nicht gestohlen. Gib es ihr zurück, nimm es von mir! Warum machst du deshalb so ein Geschrei? Jetzt gehört dir alles, was ich habe. Was hat Geld für uns zu bedeuten? Wir vergeuden es ja ohnehin … Wir sind gerade die Richtigen, um vernünftig damit umzugehen! Wir beide sollten am besten hingehen und einen Acker pflügen. Mit diesen meinen Händen will ich die Erde aufscharren. Arbeiten muß man, hörst du? Aljoscha hat es gesagt. Ich werde nicht deine Geliebte sein, ich werde dir treu sein, ich werde deine Sklavin sein, ich werde für dich arbeiten. Wir werden zu dem Fräulein hingehen und uns beide vor ihr verneigen mit der Bitte, uns zu verzeihen, und werden dann von hier fortziehen. Und wenn sie uns nicht verzeiht, werden wir eben so fortziehen. Das Geld bring ihr wieder, aber liebe mich! Sie darfst du nicht lieben. Liebe sie nicht länger! Wenn du dich jedoch in sie verliebst, werde ich sie erwürgen … Ihr beide Augen mit einer Nadel ausstechen …«

»Dich liebe ich, dich allein! Auch in Sibirien werde ich dich lieben …«

»Was sollen wir in Sibirien? Aber gut, auch in Sibirien, wenn du willst, ganz gleich … Wir werden arbeiten … In Sibirien liegt Schnee. Ich fahre gern im Schlitten durch den Schnee … Und das Pferd muß ein Glöckchen haben … Hörst du, ein Glöckchen klingelt … Wo klingelt da ein Glöckchen? Es kommen Leute, jetzt klingelt es nicht mehr …«

Sie schloß kraftlos die Augen und schien im nächsten Moment einzuschlafen. Tatsächlich hatte ein Glöckchen in einiger Entfernung geklingelt und dann plötzlich geschwiegen. Mitja legte seinen Kopf an ihre Brust. Er hatte nicht bemerkt, wie das Glöckchen aufgehört hatte zu klingeln; er bemerkte gleichfalls nicht, daß auch die Lieder plötzlich verstummten und statt der Lieder und des Lärms im ganzen Haus auf einmal Totenstille herrschte. Gruschenka öffnete die Augen.

»Was ist das? Habe ich geschlafen? Ja … Das Glöckchen … Ich habe geschlafen und geträumt, ich fuhr im Schlitten über den Schnee … Das Glöckchen klingelte, und ich träumte vor mich hin … Mit einem lieben Menschen fuhr ich, mit dir. Und weil, weit weg ging die Fahrt. Ich umarmte und küßte dich, ich schmiegte mich an dich; ich fror, aber der Schnee glänzte so schön … Weißt du, wie es ist, wenn nachts der Schnee glänzt und der Mond scheint? Mir war, als wäre ich gar nicht auf der Erde … Da wachte ich auf … Aber mein Geliebter ist bei mir, wie schön …«

»Ja, bei dir«, murmelte Mitja und küßte ihr Kleid, ihre Brust, ihre Hände. Und auf einmal kam ihm etwas seltsam vor: Sie schien starr vor sich hin zu blicken, aber nicht zu ihm, nicht in sein Gesicht, sondern über seinen Kopf hinweg, unverwandt und seltsam regungslos. Auf ihrem Gesicht prägte sich Verwunderung, ja beinahe Schrecken aus.

»Mitja, wer guckt da zu uns herüber?« flüsterte sie plötzlich.

Mitja drehte sich um und sah, daß tatsächlich jemand den Vorhang auseinandergeschoben hatte und sie offenbar beobachtete. Und es schien auch nicht bloß einer zu sein … Er sprang auf und trat schnell auf die Gestalt zu.

»Kommen Sie hierher, bitte! Kommen Sie hierher zu uns!« sagte eine Stimme zu ihm, nicht laut, aber fest und nachdrücklich.

Mitja trat hinter dem Vorhang hervor und erstarrte. Das ganze Zimmer war voller Menschen; doch es waren nicht die von vorhin, sondern ganz andere … Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und er zuckte zusammen. Er erkannte alle diese Personen augenblicklich. Dieser hochgewachsene, beleibte Alte im Paletot, mit Uniformmütze und Kokarde, das war der Bezirkshauptmann Michail Makarowitsch. Und dieser schwindsüchtige Geck, der immer so blankgeputzte Stiefel trägt, das war der Gehilfe des Staatsanwalts. Er hat eine Uhr, die vierhundert Rubel gekostet hat; er hat sie mir mal gezeigt … Und dieser kleine junge Mann mit der Brille … Mitja hatte seinen Familiennamen vergessen, er kannte jedoch auch ihn, er hatte ihn schon gesehen, das war der Untersuchungsrichter, der erst vor kurzem von der Rechtsschule in unsere Stadt gekommen war. Und der hier, das war der Landkommissar Mawriki Mawrikijewitsch, den kannte er, das war ein guter Bekannter von ihm. Aber diese Männer mit den Blechabzeichen, wozu waren die da? Und dann noch zwei Leute, die wie Bauern aussahen … Und da an der Tür Kalganow und Trifon Borissowitsch …

»Meine Herren … Was wollen Sie, meine Herren?« begann Mitja; doch plötzlich rief er wie außer sich, als ob er auf einmal ein anderer geworden wäre, mit voller Stimme: »Ich verstehe!«

Der junge Mann mit der Brille trat vor zu Mitja und sagte würdevoll, aber etwas hastig: »Wir müssen mit Ihnen … Kurz, ich bitte Sie, hierherzukommen, hierher zum Sofa … Es liegt für uns die dringende Notwendigkeit vor, mit Ihnen zu sprechen.«

»Der alte Mann!« schrie Mitja fassungslos. Der alte Mann und sein Blut … Ich ver-ste-he!«

Und er setzte sich, oder genauer, er fiel auf einen neben ihm stehenden Stuhl.

»Du verstehst? Er hat verstanden! Du Vatermörder, du Ungeheuer, das Blut deines alten Vaters schreit nach dir!« brüllte plötzlich der alte Bezirkshauptmann und näherte sich Mitja mit dunkelrotem Gesicht; er war außer sich und zitterte am ganzen Körper.

»Aber das ist unzulässig!« rief der kleine junge Mann. »Michail Makarowitsch, Michail Makarowitsch! Das ist ordnungswidrig, das ist ordnungswidrig! Ich bitte Sie, mich allein reden zu lassen. Ein derartiges Verhalten habe ich von Ihnen nicht erwartet …«

»Aber das ist ja Irrsinn, meine Herren, Irrsinn!« rief der Bezirkshauptmann. »Sehen Sie ihn an! Er hat das Blut seines Vaters vergossen und ist nachts in betrunkenem Zustand bei einer liederlichen Dirne … Irrsinn, Irrsinn!«

»Ich möchte Sie dringend bitten, verehrter Michail Makarowitsch, für diesmal Ihre Gefühle zu beherrschen«, flüsterte der Gehilfe des Staatsanwalts dem Alten eilig zu. »Ich würde mich sonst genötigt sehen, Maßregeln zu ergreifen, um …«

Doch der kleine Untersuchungsrichter ließ ihn nicht zu Ende sprechen; er wandte sich an Mitja und sagte laut und würdevoll mit fester Stimme: »Herr Leutnant außer Diensten Karamasow, ich muß Ihnen eröffnen, daß Sie des in dieser Nacht begangenen Mordes an Ihrem Vater Fjodor Pawlowitsch Karamasow beschuldigt werden …«

Er sagte noch irgend etwas, auch der Gehilfe des Staatsanwalts schien noch etwas hinzuzufügen, Mitja hörte es zwar, verstand jedoch nichts mehr. Sein verstörter Blick irrte von einem zum anderen.