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Ippolit benetzte seine Lippen in der Tasse Tee, die ihm Wera Lebedewa gereicht hatte, stellte die Tasse auf ein Tischchen und blickte verlegen und befangen rings um sich.
„Sehen Sie einmal diese Tassen, Lisaweta Prokofjewna“, sagte er mit seltsamer Hast, „diese Porzellantassen, die wohl von vorzüglichem Porzellan sind, hat Lebedew immer in einer verschlossenen Chiffonière hinter Glas stehen; sie werden nie herausgegeben … wie das so Sitte ist; sie haben zur Mitgift seiner Frau gehört … das ist bei diesen Leuten so Sitte … und nun hat er sie doch für uns herausgegeben, natürlich Ihnen zu Ehren, so hat er sich gefreut …“
Er wollte noch etwas hinzufügen, konnte aber nicht gleich die richtigen Worte finden.
„Er ist ganz verlegen geworden, das hatte ich doch erwartet!“ flüsterte Jewgenij Pawlowitsch dem Fürsten ins Ohr. „Das ist doch wohl gefährlich, nicht wahr? Ein ganz sicheres Anzeichen dafür, daß er jetzt aus Trotz irgendeine so arge Absonderlichkeit begehen wird, daß selbst Lisaweta Prokofjewna vielleicht nicht wird hierbleiben mögen.“
Der Fürst blickte ihn fragend an.
„Sie fürchten sich vor solchen Absonderlichkeiten nicht?“ fügte Jewgenij Pawlowitsch hinzu. „Ich tue es auch nicht, ich wünsche dergleichen sogar herbei: es liegt mir besonders daran, daß unsere liebe Lisaweta Prokofjewna bestraft wird, und zwar gleich heute, gleich jetzt; vorher möchte ich gar nicht fortgehen. Aber Sie fiebern ja, wie es scheint?“
„Lassen wir das jetzt! Stören Sie nicht! Ja, mir ist nicht wohl“, antwortete der Fürst zerstreut und ungeduldig.
Er hörte seinen Namen; Ippolit sprach von ihm.
„Sie glauben es nicht?“ lachte Ippolit krampfhaft. „Das war vorauszusehen, aber der Fürst wird es gleich beim ersten Wort glauben und gar nicht erstaunt darüber sein.“
„Hörst du, Fürst?“ wandte sich Lisaweta Prokofjewna an ihn. „Hörst du?“
Ringsum wurde gelacht. Lebedew drängte sich eifrig nach vorn und wendete und drehte sich vor Lisaweta Prokofjewna hin und her.
„Er hat gesagt, daß dieser Grimassenschneider da, dein Hauswirt, jenem Herrn den Schmähartikel verbessert hat, der vorhin vorgelesen wurde.“
Der Fürst sah Lebedew erstaunt an.
„Warum schweigst du denn?“ fragte Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und stampfte dabei sogar mit dem Fuß.
„Nun ja“, murmelte der Fürst, der seinen Blick immer noch auf Lebedew gerichtet hielt, „ich sehe schon, daß er es getan hat.“
„Ist das die Wahrheit?“ wandte sich Lisaweta Prokofjewna schnell an Lebedew.
„Die reine Wahrheit, Exzellenz!“ antwortete Lebedew in festem Ton, ohne zu zaudern, und legte dabei die Hand aufs Herz.
„Er rühmt sich dessen noch!“ rief sie und war nah daran, vom Stuhl aufzuspringen.
„Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!“ murmelte Lebedew, schlug sich gegen die Brust und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer hängen.
„Was fange ich damit an, daß du ein gemeiner Mensch bist! Er denkt, wenn er sagt: ‚Ich bin ein gemeiner Mensch!‘, dann hat er sich herausgeholfen. Schämst du dich nicht, Fürst, mit solchen Jammermenschen zu verkehren? frage ich dich noch einmal. Ich werde dir das nie verzeihen!“
„Mir wird der Fürst verzeihen!“ sagte Lebedew fest überzeugt und sehr gerührt.
„Lediglich aus Edelmut“, begann auf einmal mit lauter, volltönender Stimme Keller, der schnell herzugetreten war und sich nun unmittelbar an Lisaweta Prokofjewna wandte, „lediglich aus Edelmut, gnädige Frau, um nicht einen Freund durch Verrat zu kompromittieren, habe ich vorhin von den Verbesserungen, die er vorgenommen hatte, geschwiegen, obgleich er vorschlug, uns aus der Tür zu werfen, wie Sie selbst gehört haben. Zur Ehre der Wahrheit gestehe ich nun, daß ich mich tatsächlich an ihn gewendet und ihm sechs Rubel bezahlt habe, aber durchaus nicht dafür, daß er meinen Stil verbessert hätte, sondern dafür, daß er als eine kompetente Persönlichkeit mir Tatsachen mitteilte, die mir größtenteils unbekannt waren. Das von den Gamaschen, von dem Appetit bei dem Schweizer Professor und von den fünfzig Rubeln statt der zweihundertfünfzig, kurz, diese ganze Partie stammt von ihm und ist mit sechs Rubeln honoriert worden, aber den Stil hat er nicht korrigiert.“
„Ich muß bemerken“, unterbrach ihn Lebedew mit fieberhafter Ungeduld und in kriecherischem Ton, während das Lachen immer allgemeiner wurde, „daß ich nur die erste Hälfte des Artikels verbessert habe; aber da wir in der Mitte uneins wurden und wegen eines Satzes in Streit gerieten, so habe ich die zweite Hälfte nicht mehr verbessert, und es darf daher alles, was darin gegen die gute Schreibart verstößt (und dessen ist vieles!), mir nicht zur Last gelegt werden …“
„Also das ist es, worauf es ihm ankommt!“ rief Lisaweta Prokofjewna.
„Gestatten Sie die Frage“, wandte sich Jewgenij Pawlowitsch an Keller, „wann denn diese Verbesserungen des Artikels stattgefunden haben.“
„Gestern vormittag“, antwortete Keller. „Wir hatten eine Zusammenkunft und versprachen uns gegenseitig mit unserem Ehrenwort, das Geheimnis zu wahren.“
„Das war also fast zu derselben Zeit, als er sich gegen dich so kriecherisch benahm und dich seiner Ergebenheit versicherte. Nein, diese Jammermenschen! Ich brauche deinen Puschkin nicht, und deine Tochter soll auch nicht zu mir kommen!“
Lisaweta Prokofjewna wollte schon aufstehen, aber plötzlich wandte sie sich gereizt an den lachenden Ippolit:
„Wie ist denn das, mein Lieber? Du hast mich wohl hier lächerlich machen wollen?“
„Gott bewahre!“ erwiderte Ippolit mit einem schiefen Lächeln. „Aber mich interessiert außerordentlich Ihr exzentrisches Wesen, Lisaweta Prokofjewna, und ich muß gestehen, daß ich die Geschichte von Lebedew absichtlich aufs Tapet gebracht habe, weil ich wußte, wie das auf Sie wirken würde, auf Sie allein, denn der Fürst wird ihm gewiß verzeihen und hat ihm wahrscheinlich schon verziehen … er hat vielleicht schon im stillen eine Entschuldigung für ihn gesucht; es ist doch wohl so, Fürst, nicht wahr?“
Er war ganz außer Atem gekommen, seine seltsame Aufregung wuchs mit jedem Wort.
„Oh, oh! …“, sagte Lisaweta Prokofjewna zornig; sie wunderte sich über seinen Ton. „Nun, und weiter?“
„Ich hatte über Sie schon viel von dieser Art gehört … mit großer Freude gehört … ich habe Sie sehr schätzengelernt“, fuhr Ippolit fort.
Das waren seine Worte; aber er sagte sie in einer Weise, als ob er mit ihnen etwas ganz anderes sagen wollte. Er sprach mit einem Beiklang von Spott und regte sich gleichzeitig unverhältnismäßig auf, sah mißtrauisch um sich und geriet bei jedem Wort mehr in Verwirrung und Verlegenheit, so daß all dies im Verein mit seinem schwindsüchtigen Aussehen und seinem sonderbaren, funkelnden und beinah wütenden Blick unwillkürlich die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte.
„Ich würde mich sonst, obwohl ich die Gebräuche der vornehmen Welt gar nicht kenne (das gebe ich zu), darüber wundern, daß Sie nicht nur selbst in unserer für Sie unpassenden Gesellschaft geblieben sind, sondern auch diesen … jungen Mädchen erlaubt haben, eine solche Skandalgeschichte mit anzuhören; allerdings werden sie das alles wohl schon in Romanen gelesen haben; übrigens, ich weiß das vielleicht nicht … denn ich befinde mich in großer Verwirrung; aber wer außer Ihnen hätte es jedenfalls fertiggebracht … auf die Bitte eines Knaben hin (nun ja, eines Knaben, auch das will ich wieder zugeben), mit ihm einen Teil des Abends zu verbringen und … und an allem solchen Anteil zu nehmen und … mit der Aussicht … sich dessen am nächsten Tag zu schämen … (ich gebe übrigens zu, daß ich mich unrichtig ausdrücke). Ich lobe das alles sehr und schlage es sehr hoch an, obgleich schon an dem Gesicht Seiner Exzellenz, Ihres Gemahls, deutlich zu sehen ist, wie wenig das nach seinem Urteil zu seinem Rang paßt … Hihi!“ kicherte er; er hatte sich in seinem Reden völlig verrannt und bekam nun auf einmal einen solchen Hustenanfall, daß er mehrere Minuten lang nicht weitersprechen konnte.
„Er ist ja ganz außer Atem gekommen!“ sagte Lisaweta Prokofjewna in kaltem, scharfem Ton, indem sie ihn mit ernster Neugier betrachtete. „Aber nun, mein lieber Junge, müssen wir unser Gespräch abbrechen. Es ist Zeit.“
„Erlauben Sie auch mir, mein Herr, Ihnen meinerseits zu bemerken“, begann auf einmal Iwan Fjodorowitsch gereizt, der den letzten Rest von Geduld verloren hatte, „daß meine Frau sich hier bei dem Fürsten Lew Nikolajewitsch, unserm gemeinsamen Freund und Nachbarn, befindet und daß es jedenfalls Ihnen, junger Mann, nicht zusteht, über Lisaweta Prokofjewnas Handlungen ein Urteil zu fällen, ebensowenig wie es Ihnen zusteht, sich laut und mir ins Gesicht darüber zu äußern, was auf meinem Gesicht geschrieben steht. Jawohl. Und wenn meine Frau hiergeblieben ist“, fuhr er fort, indem er fast mit jedem Wort in eine gereiztere Stimmung hineinkam, „so hat sie das vorwiegend aus Verwunderung getan und aus der allen begreiflichen, zeitgemäßen Neugier, so sonderbare junge Leute kennenzulernen. Und ich für meine eigene Person bin hiergeblieben, wie ich manchmal auf der Straße stehenbleibe, wenn da etwas zu sehen ist, so eine … eine …“
„So eine Kuriosität“, half ihm Jewgenij Pawlowitsch.
„Ganz recht, sehr richtig!“ sagte erfreut Seine Exzellenz, der General, der mit seinem Vergleich nicht ganz hatte zurechtkommen können, „so eine Kuriosität. Aber jedenfalls ist es für mich höchst erstaunlich und sogar betrübend, daß Sie, junger Mensch, nicht einmal das haben begreifen können, daß Lisaweta Prokofjewna jetzt nur deswegen bei Ihnen geblieben ist, weil Sie krank sind — wenn es stimmt, Sie wirklich bald sterben werden —, sozusagen aus Mitleid, wegen Ihrer kläglichen Reden, mein Herr, und daß ihrem Namen, ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Rang in keinem Fall irgendein Makel anhaften kann … Lisaweta Prokofjewna“, schloß der General, der ganz rot geworden war, „wenn du gehen willst, so wollen wir uns von unserm guten Fürsten verabschieden und …“
„Ich danke Ihnen für die Lektion, die Sie mir erteilt haben, General“, unterbrach ihn Ippolit ernst, indem er ihn nachdenklich ansah.
„Kommen Sie, maman! Wie lange soll denn das noch dauern?“ sagte Aglaja ungeduldig und zornig und stand von ihrem Stuhl auf.
„Noch zwei Minuten, lieber Iwan Fjodorowitsch, wenn du erlaubst!“ wandte sich Lisaweta Prokofjewna mit würdiger Ruhe an ihren Gatten. „Mir scheint, er fiebert vollständig und redet geradezu irre, ich sehe es ihm an den Augen an; man muß etwas für ihn tun. Lew Nikolajewitsch! könnte er nicht bei dir übernachten, damit er heute nicht nach Petersburg zurückgeschleppt zu werden braucht? Cher prince, Sie langweilen sich doch nicht?“ wandte sie sich ohne verständlichen Grund auf einmal an den Fürsten Schtsch. „Komm einmal her, Alexandra, und bring dein Haar in Ordnung, mein Kind!“
Sie brachte ihr das Haar in Ordnung, an dem nichts in Ordnung zu bringen war, und küßte sie; letzteres war der einzige Grund gewesen, warum sie sie zu sich gerufen hatte.
„Ich habe Sie für entwicklungsfähig gehalten“, begann Ippolit von neuem, indem er aus seiner Versunkenheit wieder zu sich kam. „Ja! Das war es, was ich noch sagen wollte!“ rief er erfreut, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. „Da wünscht nun Burdowskij aufrichtig, seine Mutter zu beschützen, nicht wahr? Aber das Resultat ist, daß er sie in Unehre bringt. Da wünscht nun der Fürst, Burdowskij zu helfen, und bietet ihm aus reinem Herzen seine Freundschaft und eine große Summe Geld an und ist vielleicht von Ihnen allen der einzige, der gegen ihn keinen Widerwillen empfindet, und doch stehen gerade sie beide einander als wahre Feinde gegenüber … Hahaha! Sie alle hassen Burdowskij, weil er nach Ihrer Anschauung sich gegen seine Mutter unschön und unzart benimmt, so ist es doch? Nicht? Nicht? Sie legen ja alle einen enormen Wert auf Schönheit und Feinheit der Formen, nur darauf kommt es Ihnen an, nicht wahr? (Ich habe schon lange den Verdacht gehabt, daß es sich so verhält!) Nun, so mögen Sie denn wissen, daß vielleicht keiner von Ihnen seine Mutter so geliebt hat wie Burdowskij! Sie, Fürst, haben, wie ich weiß, durch Ganja der Mutter Burdowskijs im stillen Geld geschickt, und nun möchte ich darauf wetten … hihihi!“ lachte er hysterisch, „ … ich möchte darauf wetten, daß Burdowskij Ihnen dies jetzt als unzarte Form und als eine Respektlosigkeit gegen seine Mutter zum Vorwurf machen wird. Bei Gott, so ist es! Hahaha!“
Hier bekam er wieder keine Luft mehr und mußte husten.
„Nun, bist du fertig? Hast du jetzt alles gesagt, was du sagen wolltest? Na, dann geh jetzt schlafen; du hast Fieber“, unterbrach ihn ungeduldig Lisaweta Prokofjewna, die ihren unruhigen Blick nicht von ihm abwandte. „Ach Gott, da fängt er schon wieder an zu reden!“
„Sie lachen wohl? Was haben Sie immer über mich zu lachen? Ich habe bemerkt, daß Sie fortwährend über mich lachen!“ wandte er sich plötzlich unruhig, in gereiztem Ton an Jewgenij Pawlowitsch. Dieser hatte tatsächlich gelacht.
„Ich wollte Sie nur fragen, Herr … Ippolit … Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Familiennamen vergessen.“
„Herr Terentjew“, sagte der Fürst.
„Ja, Terentjew, ich danke Ihnen, Fürst; der Name wurde vorhin genannt, war mir aber wieder entfallen … Ich wollte Sie fragen, Herr Terentjew, ob das wahr ist, was ich gehört habe: Sie seien der Ansicht, Sie brauchten nur eine Viertelstunde lang aus dem Fenster zum Volk zu reden, dann sei es sofort mit Ihnen in allen Stücken einverstanden und folge Ihnen sofort?“
„Sehr möglich, daß ich das gesagt habe“, antwortete Ippolit, wie wenn er in seinem Gedächtnis nachsuchte. „Ich habe es sicher gesagt“, fügte er auf einmal hinzu, indem er wieder lebhafter wurde und einen festen Blick auf Jewgenij Pawlowitsch heftete. „Nun, und was folgern Sie daraus?“
„Nichts; ich fragte nur, weil ich es gern wissen wollte, zur Vervollständigung meiner Kenntnisse.“
Jewgenij Pawlowitsch schwieg, aber Ippolit blickte ihn immer noch ungeduldig wartend an.
„Nun also, bist du fertig?“ wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Jewgenij Pawlowitsch. „Komm schnell zu Ende, Väterchen; es ist für ihn Zeit, sich schlafen zu legen. Oder verstehst du nicht, das Ende zu finden?“ (Sie ärgerte sich gewaltig.)
„Ich würde gern noch hinzufügen“, fuhr Jewgenij Pawlowitsch lächelnd fort, „daß alles, was ich von Seiten Ihrer Kameraden gehört habe, und alles, was Sie soeben auseinandergesetzt haben, und zwar mit ganz unbezweifelbarem Talent, meiner Ansicht nach zu der Theorie gehört, daß das Recht vor allem und über alles und sogar unter Ausschließung alles andern triumphieren muß, und vielleicht sogar ohne die Feststellung, worin denn eigentlich das Recht besteht. Vielleicht irre ich mich?“
„Gewiß, Sie irren sich; ich verstehe Sie nicht einmal … Und weiter?“
Auch in der Ecke wurde gemurrt. Lebedews Neffe murmelte etwas halblaut.
„Weiter habe ich eigentlich kaum etwas zu sagen“, fuhr Jewgenij Pawlowitsch fort, „ich wollte nur noch bemerken, daß infolge dieses Verfahrens die Sache geradezu in das Recht der Gewalt umschlagen kann, das heißt in das Recht der einzelnen Faust und des persönlichen Beliebens, was übrigens in der Welt sehr oft der Ausgang gewesen ist. Auch Proudhon ist bei dem Recht der Gewalt stehengeblieben. Im amerikanischen Krieg haben viele höchst fortschrittliche Liberale sich für die Pflanzer erklärt, auf Grund der Anschauung, daß die Neger eben nur Neger seien und tiefer stünden als die weiße Rasse und das folglich das Recht der Gewalt auf Seiten der Weißen sei …“
„Nun?“
„Das heißt also: Sie verwerfen das Recht der Gewalt nicht?“
„Weiter?“
„Sie sind jedenfalls konsequent; ich wollte nur bemerken, daß es von dem Recht der Gewalt zu dem Recht der Tiger und Krokodile und sogar zu Männern wie Danilow und Gorskij nicht weit ist.“
„Ich weiß nicht. Weiter?“
Ippolit hörte kaum zu, was Jewgenij Pawlowitsch sagte, und wenn er sein „nun“ und „weiter“ dazwischenwarf, so schien er das mehr aus einer alten, bei Gesprächen angenommenen Gewohnheit und nicht aus Aufmerksamkeit und Neugier zu tun.
„Weiter wollte ich nichts sagen … das ist alles.“
„Ich bin Ihnen übrigens nicht böse“, sagte Ippolit zum Schluß auf einmal ganz unerwartet und streckte, wohl ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, dem andern die Hand hin, wobei er sogar lächelte. Jewgenij Pawlowitsch war zuerst erstaunt, ergriff dann aber mit ganz ernstem Gesicht die ihm hingehaltene Hand, als nähme er die angebotene Verzeihung an.
„Ich muß noch hinzufügen“, sagte er in demselben zweideutig-respektvollen Ton, „daß ich Ihnen dankbar bin für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich haben reden lassen, denn nach meinen zahlreichen Beobachtungen können unsere Liberalen niemand seine eigene Meinung aussprechen lassen, ohne ihrem Opponenten sofort mit Schimpfworten oder sogar mit noch Schlimmerem zu antworten …“
„Da haben Sie vollkommen recht“, bemerkte General Iwan Fjodorowitsch und zog sich, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gelangweilter Miene zum Ausgang der Veranda zurück, wo er vor Ärger gähnte.
„Na, nun aber Schluß, lieber Freund!“ wandte sich Lisaweta Prokofjewna energisch an Jewgenij Pawlowitsch. „Ich habe eure Gespräche satt …“
„Es ist Zeit!“ sagte Ippolit, der sich besorgt und fast erschrocken erhob und verwirrt um sich blickte. „Ich habe Sie aufgehalten; ich wollte Ihnen alles sagen … ich meinte, daß Sie alle … zum letztenmal … es war Phantasie …“
Es war deutlich, daß er manchmal wie mit einem Ruck wieder lebendiger wurde und aus einem an wirkliches Irrereden grenzenden Zustand auf einmal für einige Augenblicke freikam, sich mit vollem Bewußtsein erinnerte und sprach, und zwar größtenteils in abgerissenen Sätzen, die er sich vielleicht schon vor längerer Zeit in langen, öden Krankheitsstunden, wenn er einsam und schlaflos im Bett lag, in Gedanken zurechtgelegt und auswendig gelernt hatte.
„Nun also, leben Sie wohl!“ sagte er plötzlich schroff. „Sie meinen wohl, es wird mir leicht, Ihnen Lebewohl zu sagen? Haha!“ lachte er, selbst ärgerlich über seine ungeschickte Frage. Dann fügte er, wie ergrimmt darüber, daß es ihm nie recht gelang, zu sagen, was er wollte, laut und gereizt hinzu: „Exzellenz, ich habe die Ehre, Sie zu meinem Begräbnis einzuladen, wenn Sie mich dieser Ehre würdigen wollen, und … nach dem General auch Sie alle, meine Herrschaften! …“
Er lachte wieder auf, aber das war schon das Lachen eines Irren. Lisaweta Prokofjewna trat erschrocken an ihn heran und faßte ihn bei der Hand. Er sah sie starr an, mit demselben Lachen, das aber nicht mehr fortdauerte, sondern gleichsam innehielt und auf seinem Gesicht erstarrte.
„Wissen Sie wohl, daß ich hierhergekommen bin, um Bäume zu sehen? Diese Bäume hier …“ (Er wies auf die Bäume des Parks.) „Ist das nicht lächerlich, wie? Eigentlich ist dabei doch nichts lächerlich?“ fragte er Lisaweta Prokofjewna ernst und überließ sich wieder seinen Gedanken. Dann, einen Augenblick darauf, hob er den Kopf in die Höhe und begann eifrig mit den Augen unter den Anwesenden zu suchen. Er suchte Jewgenij Pawlowitsch, der ganz in der Nähe, rechts von ihm, auf demselben Fleck stand wie vorher; er hatte das jedoch bereits vergessen und suchte ihn ringsumher. „Ah, Sie sind nicht fortgegangen!“ sagte er, als er ihn endlich gefunden hatte. „Sie haben sich vorhin darüber lustig gemacht, daß ich eine Viertelstunde lang aus dem Fenster sprechen wollte … Aber wissen Sie, ich bin noch nicht achtzehn Jahre alt: ich habe so viel auf dem Bett gelegen und so viel durch dieses Fenster geschaut und so viel nachgedacht … über alles mögliche … daß … Ein Toter hat kein Alter, wie Sie wissen; noch in der vorigen Woche habe ich darüber nachgedacht, als ich in der Nacht aufgewacht war … Wissen Sie aber, was Sie am meisten fürchten? Am meisten fürchten Sie unsere Aufrichtigkeit, obwohl Sie uns verachten! Auch das habe ich damals in der Nacht im Bett überlegt … Sie meinen, ich hätte mich vorhin über Sie lustig machen wollen, Lisaweta Prokofjewna? Nein, ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht; ich wollte Sie nur loben … Kolja hat mir gesagt, der Fürst habe Sie ein Kind genannt … Das ist gut … Ja, was hatte ich doch noch … ich wollte noch etwas sagen …“ Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. „Das war's: als Sie vorhin Abschied nahmen, da dachte ich auf einmal: da sind nun diese Menschen, und sie werden für immer vergehen, für immer! Und diese Bäume auch. Nur die Backsteinwand wird bestehen bleiben, die rote Backsteinwand des Meyerschen Hauses … meinem Fenster gegenüber … Nun, sprich ihnen einmal von alledem … versuch es, rede davon; da ist ein schönes Mädchen … du bist ja ein Toter, stelle dich als Toter vor; sage, daß ‚ein Toter alles sagen darf‘ … und daß es ihn nicht mehr kümmert, ob die Fürstin Marja Alexejewna schilt,1 haha! … Sie lachen doch nicht?“ Er ließ seinen Blick mißtrauisch über alle hinschweifen. „Wissen Sie, wenn ich so im Bett lag, da kamen mir viele Gedanken … wissen Sie, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Natur sehr spottlustig ist … Sie sagten vorhin, ich sei ein Atheist, aber wissen Sie, die Natur … Warum lachen Sie wieder? Sie sind furchtbar grausam!“ sagte er traurig und unwillig, indem er alle ringsum ansah. „Ich habe Kolja nicht verdorben“, schloß er in völlig verändertem, ernstem Ton, im Ton fester Überzeugung, als ob ihm auch dies eben einfiele …
„Niemand, niemand lacht hier über dich, beruhige dich!“ sagte Lisaweta Prokofjewna fast gequält. „Morgen wird ein neuer Arzt zu dir kommen, dein bisheriger hat sich geirrt. Aber so setz dich doch; du kannst ja nicht auf den Beinen stehen! Du redest wirr … Ach, was sollen wir jetzt mit ihm anfangen?“ sagte sie, indem sie ihn eifrig veranlassen wollte, sich auf einen Lehnstuhl zu setzen. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.
Ippolit blieb überrascht stehen; dann hob er den Arm, streckte ihn furchtsam aus und berührte mit der Hand diese Träne. Auf seinem Gesicht spielte ein eigentümliches, kindliches Lächeln.
„Ich … habe Sie …“, begann er erfreut, „Sie wissen nicht, wie ich Sie … er hat immer mit solcher Begeisterung von Ihnen gesprochen, er, Kolja … ich liebe seine Begeisterung. Ich habe ihn nicht verdorben! Er ist der einzige Freund, den ich zurücklasse … ich hätte gern alle Menschen als meine Freunde zurückgelassen, alle, aber ich habe keinen zum Freund gewinnen können, keinen … Ich wollte tätig sein, ich hatte ein Recht darauf … Oh, wie vieles wollte ich! Jetzt will ich nichts mehr; ich will nichts mehr wollen; ich habe mir das Wort darauf gegeben, nichts mehr zu wollen; mögen sie, mögen sie jetzt ohne mich die Wahrheit suchen! Ja, die Natur ist spottlustig! Warum“, fuhr er, plötzlich lebhafter werdend, fort, „warum schafft sie die besten Wesen, um sich dann über sie lustig zu machen? Sie hat es so eingerichtet, daß das einzige Wesen, das man auf Erden als vollkommen anerkannt hat … sie hat es eingerichtet, daß, als sie es den Menschen gezeigt hatte, sie gerade dieses Wesen dazu prädestiniert hat, Lehren zu verkünden, infolge deren so viel Blut vergossen worden ist, daß, wenn es alles auf einmal vergossen worden wäre, die Menschen darin sicher ertrunken wären! Oh, es ist gut, daß ich sterbe! Ich hätte auch vielleicht irgendeine furchtbare Lüge gesagt; die Natur würde es schon so eingerichtet haben! … Ich habe niemand verdorben … Ich wollte leben, um das Glück aller Menschen zu fördern, um die Wahrheit zu entdecken und zu verkünden … Ich blickte durch das Fenster nach der Meyerschen Mauer und dachte, ich brauchte nur eine Viertelstunde zu reden, dann würde ich alle, alle überzeugen, und nun bin ich einmal im Leben mit Menschen zusammengekommen, wenn auch nicht mit vielen Menschen, so doch mit Ihnen, und was ist nun das Resultat? Nichts! Das Resultat ist, daß Sie mich verachten! Also bin ich ein Dummkopf, also tauge ich zu nichts, also ist es Zeit, daß ich gehe! Und ich habe es nicht verstanden, irgendwelche Erinnerung an mich zurückzulassen! Kein Laut, keine Spur, keine Tat bleibt von mir zurück; keine einzige Überzeugung habe ich verbreitet! … Lachen Sie nicht über den Toren! Vergessen Sie mich! Vergessen Sie alles … vergessen Sie bitte, seien Sie nicht so grausam! Wissen Sie, wenn sich diese Schwindsucht nicht eingestellt hätte, hätte ich mir selbst das Leben genommen …“
Er schien noch vieles sagen zu wollen, aber er sprach nicht zu Ende, warf sich in den Lehnstuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte wie ein kleines Kind.
„Na, nun sagen Sie bloß, was soll man nun mit ihm anfangen?“ rief Lisaweta Prokofjewna, stürzte auf ihn zu, faßte seinen Kopf und drückte ihn fest, ganz fest gegen ihre Brust. Er schluchzte krampfhaft. „Nun, nun, nun! Nun, weine nur nicht, nun, laß nur gut sein; du bist ein guter Junge, Gott wird dir wegen deiner Unwissenheit verzeihen; nun, hör nur auf, zeig dich mannhaft! … Sonst mußt du dich ja auch schämen …“
„Ich habe da zu Hause“, redete Ippolit weiter, indem er mit Anstrengung den Kopf ein wenig in die Höhe hob, „ich habe einen Bruder und zwei Schwestern, kleine, arme, unschuldige Kinder … Sie wird sie verderben! Sie sind eine Heilige, Sie … sind selbst ein Kind, — retten Sie sie! Entreißen Sie sie dieser … sie ist … es ist eine Schande … Oh, helfen Sie ihnen, helfen Sie ihnen; Gott wird es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie um Gottes Willen, um Christi willen! …“
„Nun sagen Sie doch endlich, Iwan Fjodorowitsch, was jetzt geschehen soll!“ rief Lisaweta Prokofjewna in gereiztem Ton. „Tun Sie mir den Gefallen und brechen Sie Ihr majestätisches Schweigen! Wenn Sie keine Entscheidung treffen, so mögen Sie wissen, daß ich selbst hierbleiben und hier übernachten werde; Sie haben mich genug mit Ihrer Herrschsucht tyrannisiert!“
Solche lebhaften, zornigen Fragen waren bei Lisaweta Prokofjewna nichts Seltenes, und sie erwartete dann eine sofortige Antwort. Aber in solchen Fällen pflegen die meisten Anwesenden, auch wenn ihrer viele sind, mit Stillschweigen und passiver Neugier zu antworten, ohne daß sie Verlangen tragen, etwas auf sich zu beziehen und entsprechend zu handeln; ihre Gedanken sprechen sie dann erst lange nachher aus. Unter den hier Anwesenden befanden sich auch einige, die bereit waren, ohne ein Wort zu sagen, nötigenfalls bis zum Morgen dazusitzen, zum Beispiel Warwara Ardalionowna, die den ganzen Abend über schweigsam in einiger Entfernung gesessen und während der ganzen Zeit mit außerordentlichem Interesse zugehört hatte, wozu sie vielleicht ihre besonderen Gründe hatte.
„Meine Meinung, liebe Frau“, versetzte der General, „geht dahin, daß hier jetzt sozusagen eine Krankenpflegerin besser angebracht wäre als wir mit unserer Aufregung, und vielleicht außerdem noch ein zuverlässiger, nüchterner Mensch für die Nacht. Jedenfalls müssen wir den Fürsten fragen und … dann sofort für Ruhe sorgen. Morgen können wir ja unsere Teilnahme weiter bekunden.“
„Es ist gleich zwölf Uhr; wir wollen fahren. Soll er nun mit uns fahren oder bei Ihnen bleiben?“ wandte sich Doktorenko gereizt und ärgerlich an den Fürsten.
„Wenn Sie wollen, können auch Sie bei ihm hierbleiben“, antwortete der Fürst. „Es wird Platz genug da sein.“
„Exzellenz“, sagte unerwartet Herr Keller, der rasch und eifrig an den General herantrat, „wenn ein zuverlässiger Mensch für die Nacht erforderlich ist, so bin ich bereit, für meinen Freund dieses Opfer zu bringen … er ist eine ganz herrliche Seele! Ich halte ihn schon lange für einen bedeutenden Menschen, Exzellenz! Meine eigene Bildung ist ja natürlich nur mangelhaft; aber wenn er etwas kritisiert, ist jedes Wort von ihm eine Perle, er streut die Perlen nur so um sich, Exzellenz! …“
Der General wandte sich mit einer Miene der Verzweiflung ab.
„Ich würde mich sehr freuen, wenn er hierbleibt; das Fahren würde für ihn natürlich eine böse Sache sein“, erklärte der Fürst auf Lisaweta Prokofjewnas erregte Fragen.
„Aber wirst du denn dann selbst zum Schlafen kommen? Wenn du ihn nicht hierbehalten magst, Väterchen, dann werde ich ihn zu uns transportieren lassen! O Gott, er kann sich ja kaum selbst auf den Beinen halten! Du bist krank, nicht wahr?“
Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten nicht auf dem Sterbebette fand, hatte sie, nach dem äußeren Aussehen urteilend, seinen Gesundheitszustand für viel befriedigender gehalten, als er in Wirklichkeit war; aber die soeben überstandene Krankheit, die schweren mit ihr verbundenen Erinnerungen, die Ermüdung von dem unruhigen Abend, die Affäre mit dem „Sohn Pawlischtschews“ und der jetzige Vorfall mit Ippolit, alles dies hatte zusammengewirkt, um die krankhafte Empfindsamkeit des Fürsten bis zu einem fieberhaften Zustand zu steigern. Aber außerdem beunruhigte ihn jetzt noch eine andere Sorge, ja eine Befürchtung; er beobachtete ängstlich Ippolit, als ob er von ihm noch etwas erwartete.
Plötzlich erhob sich Ippolit; er war schrecklich blaß, und sein verzerrtes Gesicht trug den Ausdruck furchtbarer, verzweifelter Scham. Das trat namentlich in seinem Blick zutage, der voll Haß und Furcht auf die Anwesenden gerichtet war, und in dem verlegenen, schiefen, umherirrenden Lächeln auf seinen zuckenden Lippen. Die Augen schlug er sofort wieder nieder und ging mit schwankenden Schritten, immer noch in gleicher Weise lächelnd, auf Burdowskij und Doktorenko zu, die am Ausgang der Veranda standen; er wollte mit ihnen wegfahren.
„Das war es, was ich befürchtete!“ rief der Fürst. „So mußte es kommen!“
Mit rasendem Ingrimm wandte sich Ippolit schnell zu ihm um; jeder Muskel seines Gesichts zitterte und schien zu sprechen.
„Ah, Sie haben das befürchtet! So mußte es nach Ihrer Meinung kommen! So mögen Sie denn wissen“, heulte er heiser und kreischend, und Speicheltröpfchen flogen ihm dabei aus dem Mund, „daß, wenn ich jemand hier hasse (und ich hasse Sie alle, alle!), ich Sie von allen und von allem, was es auf der Welt gibt, am meisten hasse, Sie Jesuit, Sie Sirupseele, Sie Idiot, Sie Millionär und Wohltäter! Ich habe Sie schon lange durchschaut und gehaßt, schon damals, als ich Sie nur erst vom Hörensagen kannte; ich habe Sie gehaßt mit dem ganzen Haß meiner Seele … Das haben Sie hier jetzt alles kunstvoll arrangiert! Sie haben bei mir einen Anfall herbeigeführt! Sie haben einen Sterbenden dahin gebracht, sich zu schämen; Sie, Sie, Sie sind an meinem unwürdigen Kleinmut schuld! Ich würde Sie ermorden, wenn ich am Leben bliebe! Ich brauche Ihre Wohltaten nicht; ich nehme von niemand Wohltaten an, hören Sie, von niemand und nichts! Ich habe vorhin im Delirium gesprochen; erdreisten Sie sich nicht zu triumphieren! … Ich verfluche Sie alle ein für allemal!“
Hier ging ihm die Luft völlig aus.
„Er schämt sich seiner Tränen!“ flüsterte Lebedew der Generalin zu. „‚So mußte es kommen!‘ Ja, ja, der Fürst! Der hat in seiner Seele gelesen …“
Aber Lisaweta Prokofjewna würdigte ihn keines Blickes. Sie stand stolz aufgerichtet mit zurückgeworfenem Kopf da und betrachtete mit geringschätziger Neugier „diese Jammermenschen“. Als Ippolit schwieg, zuckte der General die Schultern, aber seine Frau sah ihn zornig vom Kopf bis zu den Füßen an, als wollte sie ihn wegen dieser Bewegung zur Rechenschaft ziehen, und wandte sich sogleich zum Fürsten.
„Ich danke Ihnen, Fürst, Sie exzentrischer Freund unseres Hauses, für den angenehmen Abend, den Sie uns allen bereitet haben. Gewiß sind Sie jetzt im Herzen froh darüber, daß es Ihnen gelungen ist, auch uns in Ihre Dummheiten zu verwickeln … Machen wir Schluß, lieber Freund unseres Hauses; ich danke Ihnen, daß Sie uns Gelegenheit gegeben haben, wenigstens Sie genau kennenzulernen! …“
Mit allen Zeichen des Unwillens brachte sie ihre Mantille in Ordnung und wartete darauf, daß „jene da“ aufbrächen. Für „jene da“ fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor, die Doktorenko schon vor einer Viertelstunde durch Lebedews Sohn, den Gymnasiasten, hatte holen lassen. Der General fügte dem, was seine Gattin gesagt hatte, sofort auch seinerseits ein Wort hinzu.
„In der Tat, Fürst, ich hätte nicht erwartet … nach allem … nach all den freundschaftlichen Beziehungen … und schließlich hat Lisaweta Prokofjewna …“
„Aber wie ist es nur möglich, wie ist es nur möglich!“ rief Adelaida, indem sie schnell an den Fürsten herantrat und ihm die Hand reichte.
Der Fürst lächelte sie mit verwirrter Miene an. Plötzlich drang ein erregtes, hastiges Flüstern an sein Ohr.
„Wenn Sie nicht augenblicklich den Verkehr mit diesen garstigen Menschen abbrechen, werde ich Sie mein Leben lang, mein ganzes Leben lang hassen“, flüsterte Aglaja. Sie war ganz außer sich vor Empörung; aber sie wandte sich ab, ehe der Fürst Zeit fand, sie anzusehen. Übrigens hatte er zu einem Abbruch des Verkehrs keine Möglichkeit mehr: der kranke Ippolit war mittlerweile, so gut es ging, in die Droschke gepackt worden, und diese fuhr gerade ab.
„Nun, wird das noch lange dauern, Iwan Fjodorowitsch? Wie denken Sie darüber? Werde ich noch lange von diesen bösen Buben zu leiden haben?“
„Ja, liebe Frau, ich … ich bin natürlich bereit, und … der Fürst …“
Iwan Fjodorowitsch streckte dennoch dem Fürsten die Hand hin, lief aber, ohne daß es zu einem Händedruck gekommen wäre, hinter Lisaweta Prokofjewna her, die geräuschvoll und zornig die Stufen vor der Veranda hinunterstieg. Adelaida, ihr Bräutigam und Alexandra verabschiedeten sich freundlich und herzlich vom Fürsten. Jewgenij Pawlowitsch machte es ebenso; er war der einzige, der sich in heiterer Stimmung befand.
„Es ist so gegangen, wie ich es mir gedacht hatte! Nur schade, daß auch Sie Armer dabei zu leiden gehabt haben!“ flüsterte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln.
Aglaja ging weg, ohne sich zu verabschieden.
Aber die Ereignisse dieses Abends waren damit noch nicht zu ihrem Ende gelangt; Lisaweta Prokofjewna sollte noch eine höchst unerwartete Begegnung erleben.
Sie war noch nicht ganz die Stufen nach dem Weg, der sich um den Park herumzog, hinuntergestiegen, als eine elegante Equipage, eine mit zwei Schimmeln bespannte Kalesche, am Landhaus des Fürsten vorbeirollte. In dem Wagen saßen zwei schöngekleidete Damen. Aber als der Wagen kaum zehn Schritte vorbeigefahren war, hielt er plötzlich an; eine der Damen wendete sich schnell um, als ob sie plötzlich einen Bekannten erblickt hätte, mit dem sie notwendig sprechen müßte.
„Jewgenij Pawlytsch! Bist du es?“ rief eine wohl tönende, helle Stimme, bei deren Klang der Fürst und vielleicht sonst noch jemand zusammenfuhr. „Wie freue ich mich, daß ich dich endlich gefunden habe! Ich hatte einen expressen Boten an dich nach der Stadt geschickt und dann einen zweiten! Den ganzen Tag haben sie dich gesucht!“
Jewgenij Pawlowitsch stand auf den Treppenstufen wie vom Donner gerührt. Lisaweta Prokofjewna war ebenfalls stehengeblieben, aber nicht in starrem Schreck wie Jewgenij Pawlowitsch; sie schaute die dreiste Dame ebenso stolz und mit derselben kalten Verachtung an wie fünf Minuten vorher die „Jammermenschen“ und wandte dann ihren forschenden Blick sofort nach Jewgenij Pawlowitsch.
„Eine Neuigkeit!“ fuhr die helle Stimme fort. „Wegen der Kupferschen Wechsel kannst du unbesorgt sein; Rogoshin hat sie für dreißigtausend Rubel aufgekauft; ich habe ihn dazu überredet. Wenigstens für drei Monate kannst du beruhigt sein. Und mit Biskup und dieser ganzen Bande werden wir uns gewiß einigen, auf Grund unserer alten Bekanntschaft! Nun, du siehst also, es steht alles gut. Freue dich! Bis morgen!“
Die Equipage setzte sich wieder in Bewegung und verschwand schnell.
„Das ist eine Irrsinnige!“ rief Jewgenij Pawlowitsch endlich; er war vor Entrüstung ganz rot geworden und blickte erstaunt rings um sich. „Ich verstehe kein Wort von dem, was sie gesagt hat! Was sollen das für Wechsel sein? Wer ist die Person?“
Lisaweta Prokofjewna sah ihn noch ein paar Sekunden an; dann drehte sie sich kurz um und ging schnell nach ihrem Landhaus; die andern folgten ihr. Einen Augenblick darauf kehrte Jewgenij Pawlowitsch in großer Aufregung wieder zu dem Fürsten in die Veranda zurück.
„Fürst, sagen Sie mir die Wahrheit: wissen Sie nicht, was das zu bedeuten hat?“
„Ich weiß nichts davon“, antwortete der Fürst, der sich ebenfalls in einer ungewöhnlichen und krankhaften Aufregung befand.
„Nein?“
„Nein.“
„Und ich weiß auch nichts davon“, sagte Jewgenij Pawlowitsch, plötzlich auflachend. „Bei Gott, ich habe mit diesen Wechseln nichts zu schaffen; glauben Sie meinem Ehrenwort! … Aber was ist mit Ihnen? Fallen Sie in Ohnmacht?“
„O nein, nein, ich versichere Ihnen, es ist nichts …“
- Eine Anspielung auf die Schlußworte von Gribojedows Lustspiel „Verstand schafft Leiden“. (A.d.Ü.)↩