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Dritter Teil

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Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine praktischen Menschen gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber es mangle an praktischen Menschen. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschifffahrtsgesellschaft eine halbwegs erträgliche Verwaltung zusammenzubringen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder ein paar Wagen von einer Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren abgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern würde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat, wie man hört (es ist übrigens kaum zu glauben), dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei „in Eifer geraten“. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial anständiges Verwaltungspersonal für eine Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bekommen?

Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, so einfach, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln, aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu sprechen gekommen; wir wollten eigentlich von den praktischen Menschen sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines praktischen Menschen gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir uns beschuldigen — wenn überhaupt diese Meinung eine Beschuldigung ist. Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer als die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch sehr niedrig angesetzt) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders.

Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als Dummköpfe gehalten worden — das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so mußte selbstverständlich, als die Leihbank abgeschafft wurde und alle sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener Millionen unfehlbar im Aktienfieber und in den Händen von Gaunern untergehen — und das forderten sogar der Anstand und die gute Sitte. Namentlich die gute Sitte; wenn eine wohlgesittete Schüchternheit und ein gehöriger Mangel an Originalität bei uns bisher nach der allgemeinen Anschauung eine unerläßliche Eigenschaft eines tüchtigen, ordentlichen Menschen bildeten, so wäre es geradezu ungehörig und unschicklich, sich plötzlich zu ändern. Welche Mutter zum Beispiel, die ihr Kind zärtlich liebt, wird nicht einen Schreck bekommen und vor Angst krank werden, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter auch nur ein wenig das gewohnte Geleise verläßt? ‚Nein‘, denkt jede Mutter, die ihr Kind in Schlaf wiegt, ‚mag es lieber ohne Originalität glücklich sein und zufrieden leben!‘ Und wenn unsere Kinderfrauen die Kinder in der Wiege schaukeln, so sprechen und singen sie dabei seit undenklichen Zeiten: „In goldenen Kleidern wirst du gehen, ‚Exzellenz‘ wird man zu dir sagen!“ Somit galt auch bei unseren Kinderfrauen der Generalsrang von jeher als Gipfelpunkt russischen Glücks und war also das populärste nationale Ideal eines schönen, geruhsamen, seligen Daseins. Und in der Tat: wer, der sein Examen auch nur mittelmäßig bestanden und dann fünfunddreißig Jahre gedient hatte, konnte bei uns nicht schließlich Exzellenz werden und sich eine erkleckliche Summe auf der Bank zusammensparen? Auf diese Weise erlangte der Russe fast ohne alle Anstrengung schließlich eine Stellung, wie sie eigentlich nur einem tüchtigen, praktischen Menschen zukommt. Wahrhaftig, die Unmöglichkeit, Exzellenz zu werden, bestand bei uns nur für einen originellen Menschen, mit andern Worten: für einen unruhigen Kopf. Vielleicht liegt hier bis zu einem gewissen Grade ein Mißverständnis vor; aber im allgemeinen scheint es doch zuzutreffen, und unsere Gesellschaft war vollkommen berechtigt, sich ihr Ideal eines praktischen Menschen in dieser Weise zu gestalten. Indessen wir haben viel gesagt, was nicht hierhergehört; wir wollten eigentlich nur ein paar erklärende Worte über die uns bekannte Familie Jepantschin einfügen. Diese Leute oder wenigstens diejenigen Mitglieder dieser Familie, die am meisten zum Nachdenken veranlagt waren, litten ständig an einer ihnen fast allen gemeinsamen Familieneigenschaft, die den Tugenden, über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne sich dieser Tatsache völlig bewußt zu sein (weil das eben seine Schwierigkeiten hatte), hatten sie doch manchmal den Argwohn, daß in ihrer Familie alles anders zugehe als bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im Übermaß ängstlich, aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum guten Ton gehörige Schüchternheit, die ihnen so erstrebenswert schien. Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich darüber beunruhigte: die Mädchen waren noch jung — wenn auch ein sehr scharfsinniges Völkchen mit Neigung zur Ironie, während der General zwar Verständnis besaß (allerdings ein langsames und schwerfälliges), in schwierigen Fällen aber nur „Hm!“ sagte und schließlich seine ganze Zuversicht auf Lisaweta Prokofjewna setzte. Auf ihr ruhte also die Verantwortung. Nicht als ob diese Familie sich durch irgendwelche besondere Initiative ausgezeichnet hätte oder infolge eines bewußten Hanges zur Originalität aus dem Geleise gesprungen wäre, was sich ja freilich mit der Schicklichkeit ganz und gar nicht vertragen hätte. O nein! Das war wirklich nicht der Fall; das heißt, es lag bei ihnen keine bewußte Absicht vor, aber dennoch kam es schließlich so heraus, daß die Familie Jepantschin trotz all ihrer Respektabilität von anderer Art war, als respektable Familien sein müssen. In letzter Zeit hatte Lisaweta Prokofjewna angefangen, die Schuld an alledem lediglich sich und ihrem „unglücklichen“ Charakter beizumessen, wodurch ihre Leiden nur noch vermehrt wurden. Sie selbst nannte sich alle Augenblicke „eine dumme, taktlose Person, eine verdrehte Schraube“, quälte sich mit ihrem Mißtrauen, war beständig außer sich, fand bei ganz gewöhnlichen Dingen, die ihr zustießen, keinen Ausweg und übertrieb fortwährend das Unglück.

Schon zu Beginn unserer Erzählung haben wir erwähnt, daß Jepantschins sich allgemeiner, aufrichtiger Hochachtung erfreuten. Sogar der General Iwan Fjodorowitsch selbst, ein Mann von geringer Herkunft, wurde überall ohne Widerstreben achtungsvoll empfangen. Diese Achtung verdiente er erstens wegen seines Reichtums und seiner hohen Stellung und zweitens als ein durchaus ordentlicher, wenn auch nicht geistreicher Mann. Aber eine gewisse Stumpfheit des Geistes bildet ja, wie es scheint, eine notwendige Eigenschaft, wenn nicht eines jeden praktisch tätigen Mannes, so doch wenigstens eines jeden, der ernstlich auf Gelderwerb bedacht ist. Endlich besaß der General gute Manieren, war bescheiden, verstand zu schweigen, gleichzeitig aber auch, sich nichts bieten zu lassen, und zwar nicht allein mit Rücksicht auf seinen Generalsrang, sondern auch als ehrenhafter, anständiger Mensch. Das allerwichtigste war, daß er sich starker Protektion erfreute. Was Lisaweta Prokofjewna anlangt, so stammte sie, wie schon oben dargelegt, aus einem vornehmen Geschlecht, obwohl man bei uns auf solche Herkunft keinen großen Wert legt, wenn nicht die notwendigen Verbindungen hinzukommen. Aber auch an denen fehlte es ihr nicht; sie wurde von so hohen Persönlichkeiten geachtet, ja geliebt, daß natürlich auch alle andern sie dementsprechend achten und empfangen mußten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ihre Qualen bezüglich ihrer Familie keinen rechten Anlaß hatten, einer ernsten Ursache entbehrten und in komischer Weise übertrieben waren; aber wenn jemand auf der Nase oder auf der Stirn eine Warze hat, so meint er immer, alle Leute hätten auf der Welt nichts anderes zu tun, als seine Warze anzusehen, darüber zu spotten und ihn deswegen geringzuschätzen, selbst wenn er sich durch die Entdeckung von Amerika verdient gemacht hätte. Es ist auch nicht daran zu zweifeln, daß man in der Gesellschaft Lisaweta Prokofjewna wirklich für eine „verdrehte Schraube“ hielt; indes genoß sie trotzdem unstreitig alle Achtung; aber Lisaweta Prokofjewna mochte zuletzt an diese Achtung nicht mehr glauben — und das war das ganze Unglück. Wenn sie ihre Töchter ansah, so quälte sie sich mit dem Verdacht, sie schädige fortwährend deren Lebensweg durch irgend etwas, sie habe einen lächerlichen, taktlosen, unerträglichen Charakter, und natürlich beschuldigte sie deswegen unaufhörlich ihre Töchter und Iwan Fjodorowitsch und zankte sich ganze Tage lang mit ihnen herum, obwohl sie sie gleichzeitig leidenschaftlich und bis zur Selbstvergessenheit liebte.

Am meisten quälte sie die Befürchtung, ihre Töchter könnten ebenso „verdrehte Schrauben“ werden wie sie; solche Mädchen wie die ihrigen, meinte sie, gebe es auf der ganzen Welt nicht mehr und könne es auch gar nicht mehr geben. ‚Sie werden die reinen Nihilistinnen, das ist's!‘ sagte sie sich alle Augenblicke. Im letzten Jahr und besonders in der allerletzten Zeit hatte sich dieser traurige Gedanke immer mehr und mehr bei ihr festgesetzt. ‚Erstens, warum heiraten sie nicht?‘ fragte sie sich fortwährend. ‚Um ihre Mutter zu ärgern — darin sehen sie ihren Lebenszweck, und das kommt natürlich alles von den neuen Ideen und der verdammten Frauenfrage! Kam nicht Aglaja vor einem halben Jahr auf den Einfall, sich ihr prächtiges Haar abzuschneiden? (O Gott, solches Haar habe ich in meiner Jugend nicht gehabt!) Sie hatte ja sogar schon die Schere in der Hand, und ich habe sie auf den Knien bitten müssen, es zu lassen! … Na, die hat das allerdings aus Bosheit getan, um ihre Mutter zu quälen, denn sie ist ein boshaftes, eigenwilliges, verzogenes Mädchen, vor allem boshaft, boshaft, boshaft! Aber wollte nicht die dicke Alexandra es ihr nachmachen und sich ebenfalls ihre Zotteln abschneiden? Und die nicht aus Bosheit und Laune, sondern in aufrichtiger Dummheit, weil Aglaja ihr eingeredet hatte, sie werde ohne Haar besser schlafen und keine Kopfschmerzen mehr haben. Und wie viele, viele Bewerber haben sie nicht in diesen fünf Jahren gehabt? Und es waren doch wirklich nette Männer darunter, sogar ganz prächtige Männer! Worauf warten sie denn noch? Warum heiraten sie nicht? Nur, um ihre Mutter zu ärgern — das ist der einzige Grund! Der einzige! Der einzige!‘

Endlich ging nun auch für ihr Mutterherz die Freudensonne auf: es war Aussicht, daß wenigstens eine Tochter, Adelaida, endlich unter die Haube kommen würde. „Wenigstens eine werde ich loswerden“, sagte Lisaweta Prokofjewna, wenn es sich traf, daß sie laut darüber sprach (im stillen für sich drückte sie sich sehr viel zärtlicher aus). Und in wie netter, schicklicher Weise sich die ganze Sache gemacht hatte; selbst in den Kreisen der vornehmen Welt wurde davon mit Achtung gesprochen. Der Bräutigam war eine allgemein bekannte Persönlichkeit, ein Fürst; mit bedeutendem Vermögen, ein guter Mensch und ihr von Herzen zugetan: was konnte man sich Besseres denken? Aber wegen Adelaida hatte sie auch früher weniger Befürchtungen gehegt als wegen der andern Töchter, obwohl ihre künstlerischen Neigungen dem stets von Zweifeln geplagten Mutterherzen Lisaweta Prokofjewnas manchmal bedenklich gewesen waren. ‚Dafür hat sie ein heiteres Gemüt und außerdem viel Verstand — also wird das Mädchen nicht zugrunde gehen‘, tröstete sie sich schließlich. Um Aglaja ängstigte sie sich am allermeisten. Beiläufig gesagt, was die Älteste, Alexandra, betraf, so wußte Lisaweta Prokofjewna selbst nicht, wie sie sich bei ihr verhalten sollte: sollte sie sich um sie ängstigen oder nicht? Manchmal schien es ihr, als sei mit dem Mädchen „schon alles vorbei“; fünfundzwanzig Jahre alt, also würde sie sitzenbleiben. ‚Und bei solcher Schönheit!‘ Lisaweta Prokofjewna weinte sogar nachts um sie, während Alexandra Iwanowna zur selben Zeit sehr ruhig schlief. ‚Was ist sie denn eigentlich? Eine Nihilistin oder einfach dumm?‘ Daß sie übrigens nicht dumm war, davon war auch Lisaweta Prokofjewna durchaus überzeugt; sie legte auf Alexandra Iwanownas Urteil hohen Wert und beriet sich gern mit ihr. Aber daß sie ein „begossenes Huhn“ war, daran konnte kein Zweifel sein: ‚Sie ist von einer solchen Seelenruhe, daß man sie gar nicht aufrütteln kann! Übrigens ist es mit der Seelenruhe auch bei solchen begossenen Hühnern manchmal nicht weit her — na! Ich bin an meinen Töchtern wirklich ganz irre geworden!‘ Lisaweta Prokofjewna empfand für Alexandra Iwanowna eine Art unerklärlicher, mitleidiger Sympathie, sogar in noch höherem Grade als für Aglaja, die ihr Abgott war. Aber ihre galligen Bemerkungen (in denen im wesentlichen nur ihre mütterliche Sorge und Liebe zum Ausdruck kamen), ihre Sticheleien und solche Bezeichnungen wie „ein begossenes Huhn“ brachten Alexandra nur zum Lachen. Es kam mitunter so weit, daß Lisaweta Prokofjewna über die nichtigsten Dinge furchtbar zornig wurde und außer sich geriet. So zum Beispiel liebte Alexandra Iwanowna es, lange zu schlafen, wobei sie viel träumte; aber ihre Träume zeichneten sich stets durch außerordentliche Harmlosigkeit und Naivität aus, ganz wie bei einem siebenjährigen Kind, und nun hatte sogar diese Naivität der Träume die Wirkung, die Mama in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Einmal hatte Alexandra Iwanowna von neun Hennen geträumt, und hieraus entstand ein regelrechter Streit zwischen ihr und der Mutter; warum, war schwer zu sagen. Ein andermal, nur ein einziges Mal, glückte es ihr, daß sie einen einigermaßen originellen Traum hatte: sie träumte von einem Mönch in einem dunklen Zimmer, in welches hineinzugehen sie sich fürchtete. Der Traum wurde von den beiden andern Schwestern sofort unter großem Gelächter triumphierend Lisaweta Prokofjewna mitgeteilt; aber die Mama wurde wieder ärgerlich und nannte sie alle drei Dummköpfe. ‚Hm! Sie besitzt die Seelenruhe eines Dummkopfes, sie ist vollständig ein begossenes Huhn und läßt sich nicht aufrütteln; aber dabei ist sie doch traurig und sieht manchmal ganz trübselig aus! Worüber mag sie sich grämen? Ja, worüber?‘ Mitunter richtete sie diese Frage auch an Iwan Fjodorowitsch, und zwar wie immer in hysterischer Erregung, in drohendem Ton und in Erwartung einer unverzüglichen Antwort.

Iwan Fjodorowitsch sagte „Hm!“, machte ein finsteres Gesicht, zuckte mit den Schultern und gab endlich, die Arme ausbreitend, sein Urteil dahin ab:

„Sie braucht einen Mann!“

„Nur wolle Gott ihr nicht einen solchen bescheren, wie Sie einer sind, Iwan Fjodorytsch!“ explodierte Lisaweta Prokofjewna plötzlich wie eine Bombe. „Nicht einen mit solchen Anschauungen und Urteilen wie Sie, Iwan Fjodorytsch, nicht einen solchen Grobian wie Sie, Iwan Fjodorytsch …“ Iwan Fjodorowitsch machte schleunigst, daß er davonkam, und Lisaweta Prokofjewna beruhigte sich nach dieser Explosion. Selbstverständlich war sie am Abend dieses Tages besonders liebenswürdig, sanft, freundlich und respektvoll gegen Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren „groben Grobian“ Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren guten, lieben, vergötterten Iwan Fjodorowitsch; denn in Wirklichkeit liebte sie ihren Iwan Fjodorowitsch ihr ganzes Leben lang, ja sie war in ihn sogar verliebt, was Iwan Fjodorowitsch selbst genau wußte, der auch seinerseits seine Lisaweta Prokofjewna außerordentlich hochschätzte.

Aber die ärgste Qual bereitete ihr beständig Aglaja.

‚Sie ist ganz, aber auch ganz wie ich, mein Ebenbild in jeder Beziehung‘, sagte Lisaweta Prokofjewna bei sich im stillen, ‚ein eigenwilliger, abscheulicher Unhold! Eine Nihilistin, eine verdrehte Schraube, verrückt, boshaft, boshaft, boshaft! O Gott, wie unglücklich wird sie werden!‘

Aber wie schon gesagt, die aufgehende Freudensonne besänftigte und erhellte alles für eine Weile. Infolgedessen gab es in Lisaweta Prokofjewnas Leben fast einen ganzen Monat, in dem sie sich von aller Unruhe wieder völlig erholte. Anläßlich der nahe bevorstehenden Hochzeit Adelaidas wurde in den vornehmen Kreisen auch über Aglaja viel gesprochen, und dabei benahm sich Aglaja überall ganz vortrefflich, ruhig, verständig, auch etwas siegesgewiß und stolz, aber das stand ihr ja gerade gut! Den ganzen Monat war sie so freundlich und liebenswürdig zu ihrer Mutter! (‚Allerdings, diesen Jewgenij Pawlowitsch muß man sich noch sehr, sehr genau ansehen und gründlich kennenlernen, Aglaja scheint ja auch an ihm nicht sehr viel mehr Gefallen zu finden als an andern!‘) Sie war auf einmal ein so prächtiges Mädchen geworden, und wie schön sie war, o Gott, wie schön, von Tag zu Tag wurde sie schöner! Und da …

Und da war nun soeben dieser gräßliche Fürst wieder erschienen, dieser jämmerliche Idiot, und alles war wieder in Unruhe geraten, alles im Hause ging wieder drunter und drüber!

Was war denn eigentlich geschehen?

Andere hätten wohl kaum gespürt, daß etwas Besonderes vorgegangen war. Aber Lisaweta Prokofjewna zeichnete sich eben dadurch aus, daß sie in dem bunten Durcheinander der gewöhnlichsten Dinge bei ihrer steten Unruhe immer etwas herausfand, was sie manchmal mit einer geradezu krankhaften Angst, mit einer unerklärlichen, argwöhnischen und infolgedessen höchst peinlichen Furcht erfüllte. Wie mußte ihr da zumute sein, als jetzt plötzlich aus der ganzen wüsten Menge lächerlicher, unbegründeter Befürchtungen wirklich etwas herausschaute, was tatsächlich wichtig zu sein schien, etwas, was tatsächlich zu Beunruhigung, Zweifel und Argwohn Anlaß gab!

‚Wie hat nur jemand wagen können, wie hat nur jemand wagen können, mir diesen verdammten anonymen Brief über diese Kreatur zu schreiben, mir zu schreiben, daß sie mit Aglaja Beziehungen unterhalte?‘ dachte Lisaweta Prokofjewna auf dem ganzen Weg, während sie den Fürsten hinter sich herzog, und zu Hause, als sie ihn an dem runden Tisch Platz nehmen ließ, um den die ganze Familie versammelt war. ‚Wie konnte sich jemand erdreisten, so etwas nur zu denken? Ich müßte mich ja totschämen, wenn ich auch nur die Spur davon glaubte oder diesen Brief Aglaja zeigte! Solcher Hohn und Spott über uns, die Familie Jepantschin! Und alles um Iwan Fjodorytschs willen, alles um Ihretwillen, Iwan Fjodorytsch! Ach, warum sind wir nicht nach Jelagin1 gegangen; ich sagte ja, wir sollten nach Jelagin ziehen! Den Brief hat vielleicht Warjka geschrieben, denke ich mir, oder vielleicht … Aber an allem, an allem ist Iwan Fjodorytsch schuld! Diesen Streich hat ihm diese Kreatur zur Erinnerung an ihre früheren Beziehungen gespielt, um ihn zu blamieren, gerade wie sie sich früher über den Dummkopf lustig machte und ihn an der Nase herumführte, als er ihr noch Perlen schenkte … Und nun werden schließlich auch noch wir mit hineingezogen, Ihre Töchter werden mit hineingezogen, Iwan Fjodorytsch, junge Damen, die zur besten Gesellschaft gehören und in heiratsfähigem Alter stehen, die sind da mit dabeigewesen, haben dabeigestanden, haben alles mit angehört, und auch bei der Geschichte mit den dummen Burschen sind sie zugegen gewesen — freuen Sie sich doch! —, auch da sind sie dabeigewesen und haben zugehört! Ich werde das diesem Menschen, dem Fürsten, nicht verzeihen, nein, niemals werde ich ihm das verzeihen! Und warum ist Aglaja drei Tage lang so nervös gewesen, warum hat sie sich mit ihren Schwestern gezankt, sogar mit Alexandra, der sie sonst immer wie einer Mutter die Hände geküßt hat — so hat sie sie verehrt? Warum gibt sie seit drei Tagen uns allen Rätsel auf? Was hat das mit Gawrila Iwolgin zu bedeuten? Wie kam sie gestern und heute darauf, Gawrila Iwolgin zu loben, und brach dann in Tränen aus? Warum wird in diesem anonymen Brief dieser verdammte „arme Ritter“ erwähnt, während sie den Brief, den sie vom Fürsten bekommen hatte, nicht einmal ihren Schwestern gezeigt hat? Und warum … weshalb, weshalb bin ich jetzt wie eine Verrückte zu ihm hingerannt und habe ihn selbst hierhergeschleppt? O Gott, ich habe wohl den Verstand verloren, daß ich so etwas anrichte! Mit einem jungen Mann von den Geheimnissen meiner Tochter zu reden, und noch dazu … noch dazu von solchen Geheimnissen, die beinah ihn selbst betreffen! O Gott, es ist noch ein Glück, daß er ein Idiot und … und … ein Freund unseres Hauses ist! Aber hat sich Aglaja denn wirklich in eine solche Mißgeburt verlieben können! O Gott, was fasele ich da! Pfui! Wir sind die reinen Originale … man müßte uns alle unter Glas ausstellen, mich zuerst, für zehn Kopeken Eintrittspreis. Das werde ich Ihnen nicht verzeihen, Iwan Fjodorytsch, niemals werde ich Ihnen das verzeihen! Und warum nimmt sie ihn sich jetzt nicht gehörig vor? Sie hatte gesagt, daß sie das tun wolle, und nun tut sie es nicht! Da, da, sie sieht ihn mit weitgeöffneten Augen an, schweigt, geht nicht weg, bleibt da, und dabei hatte sie ihm doch selbst verboten herzukommen … Er sitzt ganz blaß da. Und dieser verdammte, verdammte Schwätzer Jewgenij Pawlowitsch hat das ganze Gespräch an sich gerissen! Sieh mal, wie ihm das Mundwerk geht, keinen andern läßt er zu Worte kommen. Ich würde alles sofort erfahren, wenn ich nur die Rede darauf bringen könnte …‘

Der Fürst saß tatsächlich ganz blaß an dem runden Tisch und schien sich gleichzeitig in großer Angst und für Augenblicke in einem ihm selbst unbegreiflichen Entzücken zu befinden, das seine Seele ergriffen hatte. Oh, wie er sich fürchtete, nach jener Seite hinzusehen, nach jenem Winkel, von wo zwei wohlbekannte schwarze Augen beharrlich auf ihn gerichtet waren, und wie er gleichzeitig fast verging vor Glückseligkeit darüber, daß er hier wieder unter ihnen saß und die wohlbekannte Stimme hörte — trotz allem, was sie ihm geschrieben hatte! ‚O Gott, was wird sie jetzt sagen!‘ Er selbst hatte noch kein einziges Wort gesprochen und hörte mit Anstrengung dem unaufhaltsam redenden Jewgenij Pawlowitsch zu, der sich selten in so zufriedener, angeregter Stimmung befunden hatte wie jetzt an diesem Abend. Der Fürst hörte ihn lange reden und verstand kaum ein Wort. Außer Iwan Fjodorytsch, der noch nicht aus Petersburg zurückgekehrt war, waren alle vollzählig versammelt. Fürst Schtsch. war ebenfalls anwesend. Wie es schien, hatten sie sich versammelt, um nach einiger Zeit, noch vor dem Tee, zum Konzert zu gehen. Das jetzige Gespräch war offenbar schon vor der Ankunft des Fürsten in Gang gekommen. Bald darauf schlüpfte auch Kolja in die Veranda herein, ohne daß man gewußt hätte, von wo er kam. ‚Also wird er hier wie früher empfangen‘, sagte sich der Fürst im stillen.

Das Jepantschinsche Landhaus war luxuriös im Schweizerstil gebaut und auf allen Seiten mit Blumen und Blattpflanzen schön geschmückt. Auf allen Seiten war es von einem kleinen, aber hübschen Blumengarten umgeben. Alle saßen in der Veranda wie vor kurzem beim Fürsten; nur war die Veranda etwas geräumiger und eleganter eingerichtet.

Der Gegenstand des Gespräches, das geführt wurde, schien nicht allen sonderlich zu behagen; dieses Gespräch hatte, wie man merken konnte, seinen Ursprung von einer hitzigen Debatte genommen, und alle hätten gewiß gern das Thema gewechselt; aber Jewgenij Pawlowitsch schien nun erst recht eigensinnig an ihm festzuhalten, ohne sich um die Empfindungen der übrigen zu kümmern, und es war, als würde durch die Ankunft des Fürsten sein Eifer noch erhöht. Lisaweta Prokofjewna machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie nicht alles verstand. Aglaja, die abseits, fast in einer Ecke, saß, ging nicht fort, hörte zu und schwieg hartnäckig.

„Erlauben Sie“, sagte Jewgenij Pawlowitsch eifrig, „ich sage nichts gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist keine Sünde, er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservativismus. Ich greife jedoch den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, daß ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Rußland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler. Zeigen Sie mir einen russischen Liberalen, und ich will ihn sogleich vor Ihren Augen küssen.“

„Wenn er Sie nur wird küssen wollen“, bemerkte Alexandra Iwanowna, die sich in großer Erregung befand. Selbst ihre Wangen waren röter als sonst.

‚Nun sieh mal an!‘ dachte Lisaweta Prokofjewna für sich. ‚Sonst schläft und ißt sie nur und ist gar nicht aufzurütteln, und dann richtet sie sich einmal im Jahr auf und redet so lebhaft, daß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.‘

Der Fürst nahm schon bei flüchtiger Beobachtung wahr, daß es Alexandra Iwanowna stark mißfiel, daß Jewgenij Pawlowitsch in so munterem Ton sprach, nämlich daß er über einen ernsten Gegenstand sprach und anscheinend in Eifer geriet, dabei aber doch scherzte.

„Ich habe soeben kurz vor Ihrer Ankunft, Fürst“, fuhr Jewgenij Pawlowitsch fort, „die Behauptung aufgestellt, daß bei uns bisher die Liberalen nur zwei Gesellschaftsschichten angehört haben: der früheren (jetzt abgeschafften) gutsherrlichen und der seminaristischen. Und da diese beiden Stände sich schließlich in richtige Kasten, in etwas von der Nation völlig Abgesondertes verwandelten, und zwar je länger, in um so höherem Grad, von einer Generation zur andern immer mehr, so war und ist auch alles, was sie getan haben und tun, ganz nicht-national …“

„Wie? Also wäre alles, was auf diesem Gebiete getan worden ist, nichtrussisch?“ versetzte Fürst Schtsch.

„Es ist nicht national; obgleich es von Russen getan ist, ist es doch nicht national; weder unsere Liberalen noch unsere Konservativen sind echte Russen, keiner … Und seien Sie überzeugt, daß die Nation nichts von dem anerkennen wird, was von den Gutsherren und Seminaristen getan ist, weder jetzt noch später …“

„Nun, das ist ja nett! Wie können Sie nur eine so paradoxe Behauptung verfechten, wenn Sie es überhaupt ernst meinen! Ich kann solchen Angriffen auf die russischen Gutsherrn keine Berechtigung zuerkennen, Sie selbst sind ja ein russischer Gutsherr!“ erwiderte Fürst Schtsch. sehr erregt.

„Ich rede ja von den russischen Gutsherren auch nicht in dem Sinne, wie Sie das annehmen. Das ist ein Stand, der alle Achtung verdient, und wär's auch nur deswegen, weil ich zu ihm gehöre; besonders jetzt, wo er aufgehört hat, ein Stand zu sein …“

„Hat es etwa auch in der Literatur nichts Nationales gegeben?“ unterbrach ihn Alexandra Iwanowna.

„Ich bin mit der Literatur nicht vertraut, aber auch die russische Literatur ist meiner Ansicht nach in ihrem ganzen Umfang nichtrussisch, ausgenommen etwa Lomonossow, Puschkin und Gogol.“

„Erstens ist das gerade nicht wenig, und zweitens stammt einer von ihnen aus dem Volk, während die beiden andern Gutsherren waren“, versetzte Adelaida lachend.

„Ganz richtig, aber triumphieren Sie nicht zu früh! Da es von allen russischen Schriftstellern bisher nur diesen dreien gelungen ist, etwas wirklich Eigenes zu sagen, etwas, was sie von keinem andern entlehnt haben, so sind sie eben dadurch alle drei sofort national geworden. Wenn ein Russe etwas Eigenes sagt, schreibt oder tut, etwas Eigenes, das er von niemand übernommen und entlehnt hat, so wird er unfehlbar national, selbst wenn er schlecht russisch spricht. Das ist für mich ein Axiom. Aber wir sprachen ursprünglich nicht von der Literatur, wir begannen von den Sozialisten zu sprechen, und durch sie hat das Gespräch diesen Gang genommen; nun also, ich behaupte, daß wir keinen einzigen russischen Sozialisten haben; es gibt keinen und hat keinen gegeben, weil alle unsere Sozialisten aus den Gutsherren- oder Seminaristenkreisen hervorgegangen sind. Alle unsere überzeugten, erklärten Sozialisten, sowohl die hiesigen als die im Ausland lebenden, sind weiter nichts als liberale Gutsherren aus den Zeiten der Leibeigenschaft. Warum lachen Sie? Geben Sie mir ihre Bücher, ihre Lehren, ihre Memoiren, und obgleich ich kein zünftiger Kritiker bin, mache ich mich anheischig, Ihnen eine überzeugende Kritik abzufassen, in der ich sonnenklar beweisen werde, daß jede Seite ihrer Bücher, Broschüren und Memoiren mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem früheren russischen Gutsherrn geschrieben ist. Ihr Zorn, ihre Entrüstung, ihr Witz, alles weist auf Gutsherren als Verfasser hin (sogar auf solche aus der Zeit vor Famussow2); nicht minder ihr Entzücken, ihre Tränen, die vielleicht wahr und echt sind. Alles paßt zu Gutsherren oder auch zu Seminaristen … Sie lachen wieder, und auch Sie lachen, Fürst? Sind auch Sie nicht meiner Meinung?“

In der Tat lachten alle, auch der Fürst lächelte.

„Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich Ihrer Meinung bin oder nicht“, erwiderte der Fürst, indem er plötzlich aufhörte zu lächeln und wie ein ertappter Schuljunge zusammenfuhr, „Aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen mit außerordentlichem Vergnügen zuhöre …“

Als er dies sagte, konnte er kaum Luft holen, und es trat ihm sogar kalter Schweiß auf die Stirn. Dies waren die ersten Worte, die er sprach, seit er sich hingesetzt hatte. Er wollte den Versuch machen, sich im Kreis der Anwesenden umzuschauen, aber er wagte es nicht; Jewgenij Pawlowitsch hatte seine Kopfbewegung bemerkt und lächelte.

„Ich werde Ihnen eine Tatsache mitteilen, meine Herrschaften“, fuhr er in dem früheren Ton fort, das heißt scheinbar mit großem Eifer und großer Anteilnahme, gleichzeitig aber beinah lachend, vielleicht über seine eigenen Worte, „eine Tatsache, eine Beobachtung, sogar eine Entdeckung, die ich die Ehre habe, mir selbst zuzuschreiben und sogar mir ganz allein; wenigstens ist darüber nirgends etwas gesagt oder geschrieben worden. In dieser Tatsache kommt das ganze Wesen jener Art von russischem Liberalismus, von der ich rede, zum Ausdruck. Erstens: was ist denn der Liberalismus, allgemein gesprochen, anderes als ein Angriff (vernünftig oder unsinnig, das ist eine andere Frage) auf die bestehende Ordnung der Dinge? Nicht wahr? Die von mir beobachtete Tatsache besteht nun darin, daß der russische Liberalismus nicht ein Angriff auf die bestehende Ordnung der Dinge ist, sondern ein Angriff auf das Wesen unserer Dinge selbst, auf die Dinge selbst und nicht nur auf ihre Ordnung, ein Angriff nicht auf russische Einrichtungen, sondern auf Rußland selbst. Mein Liberaler ist dahin gelangt, die Existenzberechtigung Rußlands selbst zu verneinen, das heißt, er haßt und schlägt seine eigene Mutter. Alles, was in Rußland unglücklich ausfällt und mißlingt, bringt ihn zum Lachen und versetzt ihn beinah in Entzücken. Er haßt die Volkssitten, die russische Geschichte und alles. Wenn es für ihn eine Entschuldigung gibt, so kann sie höchstens darin bestehen, daß er nicht weiß, was er tut, und seinen Haß gegen Rußland für den fruchtbarsten Liberalismus hält (oh, Sie können bei uns nicht selten einen Liberalen finden, dem die übrigen Beifall klatschen und der vielleicht in Wirklichkeit der abgeschmackteste, stumpfsinnigste und gefährlichste Konservative ist, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben!). Diesen Haß gegen Rußland hielten vor noch nicht allzulanger Zeit manche unserer Liberalen beinah für die wahre Vaterlandsliebe und rühmten sich, besser als andere Leute zu erkennen, worin diese bestehen müsse; aber jetzt sind sie schon aufrichtiger geworden und haben sich sogar des Wortes ‚Vaterlandsliebe‘ zu schämen angefangen, ja sogar den Begriff als nichtig und schädlich ausgemerzt und entfernt. Das ist eine sichere Tatsache, die ich verbürgen kann … es muß doch einmal die Wahrheit vollständig, schlicht und aufrichtig ausgesprochen werden. Ein solches Verhalten des Liberalismus ist aber seit Menschengedenken nie und bei keinem Volke vorgekommen, und es mag daher etwas Zufälliges sein und vielleicht vorübergehen, das will ich zugeben. Ein Liberaler, der einen Haß auf sein eigenes Vaterland hätte, ist in keinem andern Lande möglich. Wodurch läßt sich nun diese Erscheinung bei uns erklären? Durch denselben Gedanken, den ich schon vorhin aussprach: dadurch, daß der Liberale in Rußland vorläufig noch nicht ein russischer Liberaler ist; meiner Ansicht nach ist das die einzig mögliche Erklärung.“

„Ich fasse alles, was du gesagt hast, als Scherz auf, Jewgenij Pawlowitsch“, bemerkte Fürst Schtsch. in ernstem Tone.

„Ich habe nicht alle Liberalen kennengelernt und erlaube mir daher kein Urteil“, sagte Alexandra Iwanowna. „Aber ich bin über Ihre Darlegung ganz empört: Sie haben einen vereinzelten Fall genommen und eine allgemeine Regel daraus gemacht; folglich haben Sie verleumdet.“

„Einen vereinzelten Fall? Ah, ah! Das ist ein wichtiger Ausdruck, den Sie da gebraucht haben!“ versetzte Jewgenij Pawlowitsch. „Wie denken Sie darüber, Fürst? Ist es ein vereinzelter Fall oder nicht?“

„Ich muß ebenfalls bekennen, daß ich nur wenige Liberale kennengelernt und nur wenig mit ihnen verkehrt habe“, antwortete der Fürst. „Aber es scheint mir, daß Sie vielleicht bis zu einem gewissen Grade recht haben und daß dieser russische Liberalismus, von dem Sie gesprochen haben, tatsächlich teilweise dazu neigt, Rußland selbst zu hassen und nicht nur dessen Einrichtungen. Natürlich wird das nur teilweise zutreffen … und kann natürlich nicht von allen Liberalen gesagt werden.“

Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine scherzhafte Erwiderung von Seiten des andern befürchtete, spiegelten sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgenij Pawlowitsch sich sonst immer nur mit einem besonderen Lächeln an ihn wandte, so blickte er ihn jetzt bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort von ihm in keiner Weise erwartet hätte.

„So … aber das ist doch seltsam“, sagte er. „War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?“

„Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?“ erwiderte dieser erstaunt.

Alle lachten.

„Trauen Sie dem!“ sagte Adelaida. „Jewgenij Pawlytsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!“

„Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen“, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. „Wir wollten doch spazierengehen …“

„Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!“ rief Jewgenij Pawlowitsch. „Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe, und namentlich, um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch nicht, obwohl ich wirklich oberflächlich bin!), und … zu diesem Zweck, meine Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl, Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie mir beantwortet, aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war soeben von einem ‚vereinzelten Fall‘ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen Mord, den dieser … junge Mann an sechs Menschen begangen hat, und von der seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hat, dem Verbrecher habe bei seinen ärmlichen Verhältnissen naturgemäß der Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden. Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken auszusprechen, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?“

Alle lachten.

„Ein vereinzelter Fall, selbstverständlich ein vereinzelter Fall!“ riefen Alexandra und Adelaide lachend.

„Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgenij Pawlytsch“, fügte Fürst Schtsch. hinzu, „daß dein Scherz schon sehr abgenutzt ist.“

„Wie denken Sie darüber, Fürst?“ fragte, ohne darauf zu hören, Jewgenij Pawlowitsch, der wahrnahm, daß ihn Fürst Lew Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. „Was meinen Sie: war das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.“

„Nein, das war kein vereinzelter Fall“, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme.

„Aber ich bitte Sie, Lew Nikolajewitsch“, rief Fürst Schtsch. ein wenig ärgerlich, „sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt? Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig zu machen.“

„Ich glaubte, Jewgenij Pawlytsch spräche im Ernst“, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder.

„Lieber Fürst“, fuhr Fürst Schtsch. fort, „denken Sie doch an ein Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen namentlich darüber, daß es in unseren jungen, neueröffneten Gerichten bereits viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger gibt. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut, und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut …, wir sagten, daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein … Aber diese ungeschickte Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.“

Fürst Lew Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete aber dann im Ton festester Überzeugung, wenn auch leise und gewissermaßen schüchtern:

„Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgenij Pawlytsch ausdrückte) sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Und sogar so sehr, daß, wenn diese Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese …“

„Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns, sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen zu reden und sogar zu schreiben; daher entsteht nun der Anschein, als seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, glauben Sie mir“, sagte Fürst Schtsch. lächelnd.

„Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch furchtbarere Verbrecher als jenen jungen Mann, Verbrecher, von denen ein jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne irgendwelche Reue zu verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist, das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt hat, obwohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber diejenigen, von denen Jewgenij Pawlytsch gesprochen hat, wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und … hätten sogar gut gehandelt, das heißt, ungefähr so denken sie. Darin besteht meiner Ansicht nach der furchtbare Unterschied. Und beachten Sie, daß das lauter junge Leute sind, das heißt Leute in dem Lebensalter, in welchem man am leichtesten und schutzlosesten in eine Verdrehung der Anschauungen verfallen kann.“

Fürst Schtsch. lachte nicht mehr und hörte dem Fürsten erstaunt zu. Alexandra Iwanowna, die schon lange etwas hatte sagen wollen, schwieg, als hielte ein besonderer Gedanke sie vom Reden zurück. Jewgenij Pawlowitsch aber sah den Fürsten mit unverhohlener Verwunderung und jetzt ohne eine Spur von Lächeln an.

„Aber warum wundern Sie sich denn so über ihn, mein Herr?“ mischte sich Lisaweta Prokofjewna unerwartet in das Gespräch. „Ist er etwa dümmer als Sie, weil sein Urteil von dem Ihrigen abweicht?“

„Nein, so etwas denke ich nicht“, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch. „Aber wie geht es denn zu, Fürst (entschuldigen Sie die Frage!), wenn Sie das alles so scharf beobachten und erkennen, wie geht es denn zu, daß Sie (ich bitte nochmals um Verzeihung) bei dieser sonderbaren Angelegenheit … ich meine das, was sich vor einigen Tagen ereignete … bei der Angelegenheit dieses Herrn — Burdowskij heißt er ja wohl … wie geht es denn zu, daß Sie da die ganz gleiche Verdrehung der Ideen und moralischen Anschauungen nicht bemerkten? Es war ja doch ganz genau dasselbe! Ich hatte damals den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht bemerkt hatten.“

„Ja, sehen Sie mal, Väterchen“, ereiferte sich Lisaweta Prokofjewna, „wir haben es damals alle bemerkt, und nun sitzen wir hier und brüsten uns damit vor ihm, aber er, er hat heute von einem dieser Leute einen Brief erhalten, von der eigentlichen Hauptperson, von dem mit den Pickeln im Gesicht, erinnerst du dich, Alexandra? In dem Brief bittet er ihn um Verzeihung, wenn auch so auf seine Art, und teilt ihm mit, daß er sich von jenem Kameraden, der ihn damals aufgehetzt hatte, losgesagt habe — du erinnerst dich doch, Alexandra? Und er glaube dem Fürsten jetzt mehr als jenem. Na, aber wir haben einen solchen Brief noch nicht erhalten, obgleich wir uns hier dem Fürsten gegenüber so hochnäsig benehmen.“

„Und Ippolit ist auch jetzt eben zum Fürsten in das Landhaus gezogen!“ rief Kolja.

„Wie? Ist er schon hier?“ fragte der Fürst aufgeregt.

„Gleich nachdem Sie mit Lisaweta Prokofjewna weggegangen waren, ist er eingetroffen; ich habe ihn hertransportiert!“

„Na, da möchte ich wetten“, fuhr Lisaweta Prokofjewna heftig auf, die ganz vergaß, daß sie den Fürsten einen Augenblick vorher gelobt hatte, „da möchte ich wetten, daß er gestern zu ihm hingefahren ist und ihn in seiner Dachkammer kniefällig um Verzeihung gebeten hat, damit diese boshafte Kanaille sich herablassen möchte, hierher überzusiedeln. Bist du gestern zu ihm hingefahren? Du hast ja neulich selbst bekannt, daß du es tun wolltest. Ja oder nein? Bist du vor ihm auf die Knie gefallen oder nicht?“

„Auf die Knie ist er ganz und gar nicht gefallen“, rief Kolja. „Ganz im Gegenteil: Ippolit hat gestern die Hand des Fürsten ergriffen und zweimal geküßt, das habe ich selbst gesehen, und damit endete die ganze Aussprache; der Fürst sagte nur noch ganz einfach, Ippolit werde sich in der Sommerfrische wohler fühlen, und der war sofort damit einverstanden überzusiedeln, sobald es ihm nur ein wenig besser gehen würde.“

„Sie hätten das nicht sagen sollen, Kolja …“, murmelte der Fürst, indem er aufstand und nach seinem Hut griff. „Warum erzählen Sie das? Ich …“

„Wohin willst du denn?“ hielt ihn Lisaweta Prokofjewna zurück.

„Lassen Sie sich hier nicht stören, Fürst!“ fuhr Kolja in seinem Feuereifer fort. „Gehen Sie nicht zu ihm hin, und beunruhigen Sie ihn nicht, er ist von der Fahrt ermüdet und eingeschlafen; er freut sich sehr; und wissen Sie, Fürst, meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie ihn jetzt nicht aufsuchen. Verschieben Sie es lieber auf morgen, sonst wird er wieder verlegen. Er hat heute vormittag zu mir gesagt, er habe sich schon seit einem halben Jahr nicht so wohl und kräftig gefühlt; er hustet sogar viel weniger.“

Der Fürst bemerkte, daß Aglaja plötzlich ihren Platz verließ und an den Tisch herantrat. Er wagte nicht, nach ihr hinzublicken, aber er fühlte mit seinem ganzen Wesen, daß sie ihn in diesem Augenblick ansah und vielleicht zornig ansah und daß in ihren schwarzen Augen jedenfalls ein Ausdruck des Unwillens lag und ihr Gesicht glühte.

„Ich glaube, Nikolai Ardalionowitsch, Sie haben nicht gut daran getan, ihn hierherzubringen, wenn es sich um jenen schwindsüchtigen jungen Menschen handelt, der damals zu weinen anfing und uns zu seinem Begräbnis einlud“, bemerkte Jewgenij Pawlowitsch. „Er sprach damals in so pathetischen Ausdrücken von der Mauer des Nachbarhauses, daß er sich unbedingt nach dieser Mauer zurücksehnen wird, davon können Sie überzeugt sein.“

„Das ist ganz richtig. Er wird sich mit dir zanken und überwerfen und wieder wegfahren — weiter kommt nichts dabei heraus!“

Nach diesen Worten zog Lisaweta Prokofjewna würdevoll den Korb mit ihrer Handarbeit zu sich heran, da sie ganz vergessen hatte, daß alle bereits aufgestanden waren, um den Spaziergang anzutreten.

„Es ist mir erinnerlich, daß er mit dieser Mauer sehr geprahlt hat“, begann Jewgenij Pawlowitsch von neuem. „Ohne diese Mauer wird er nicht mit großartigen Redewendungen sterben können, und daran ist ihm doch viel gelegen.“

„Nun gut“, murmelte der Fürst, „wenn Sie ihm nicht verzeihen wollen, wird er eben ohne Ihre Verzeihung sterben … Jetzt ist er um der Bäume willen hierher übergesiedelt.“

„Oh, ich meinerseits verzeihe ihm alles, das können Sie ihm ausrichten.“

„So darf die Sache nicht aufgefaßt werden“, antwortete der Fürst leise und anscheinend nur ungern, indem er fortfuhr, mit gesenkten Augen auf einen Punkt des Fußbodens zu blicken. „Es ist erforderlich, daß auch Sie bereit sind, von ihm Verzeihung anzunehmen.“

„Aber was habe ich denn damit zu tun? Was habe ich ihm denn zuleide getan?“

„Wenn Sie das nicht verstehen, so … aber Sie verstehen es ja; er wollte damals … Sie alle segnen und Ihren Segen empfangen, weiter nichts …“

„Lieber Fürst“, fiel Fürst Schtsch. schnell mit einer gewissen Behutsamkeit ein, nachdem er mit einem und dem andern von den Anwesenden einen Blick gewechselt hatte, „das Paradies läßt sich auf Erden nicht so leicht wiederherstellen, und doch rechnen Sie gewissermaßen mit einer Wiederherstellung des Paradieses; das ist ein schweres Ding, Fürst, weit schwerer, als es Ihrem prächtigen Herzen erscheint. Wir wollen lieber davon aufhören, sonst geraten wir alle am Ende wieder ins Streiten, und dann …“

„Wir wollen zur Musik gehen“, sagte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und erhob sich ärgerlich von ihrem Platz.

Alle schlossen sich ihr an.


  1. Eine Newa-Insel. (A.d.Ü.) Nördlich von Petersburg.
  2. Eine Person in Gribojedows Lustspiel „Verstand schafft Leiden“. (A.d.Ü.)