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viii

Sie lachte, war aber zugleich ungehalten.

„Er schläft! Sie haben geschlafen!“ rief sie verwundert und geringschätzig.

„Sie sind es!“ murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte. „Ach ja! Das Rendezvous … Ich habe hier geschlafen.“

„Das habe ich gesehen.“

„Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei … eine andere Frau hiergewesen.“

„Eine andere Frau sollte hiergewesen sein?“

Endlich hatte er seine Gedanken gesammelt.

„Es war nur ein Traum“, sagte er nachdenklich. „Sonderbar, daß ich in einem solchen Augenblick von so etwas träumte … Setzen Sie sich!“ Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als sähe er sie überhaupt nicht vor sich. Sie errötete.

„Ach ja!“ sagte der Fürst zusammenfahrend. „Ippolit hat sich erschossen!“

„Wann? In Ihrer Wohnung?“ fragte sie, jedoch ohne großes Erstaunen. „Gestern abend lebte er ja wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?“ rief sie, plötzlich lebhaft werdend.

„Aber er ist ja nicht tot, die Pistole versagte.“

Auf Aglajas dringende Bitten mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit die Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgenij Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte hierzu einige Male sogar Fragen.

„Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen“, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. „Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber wegen einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen viel mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagt hat, das paßt am besten zu seiner Persönlichkeit. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Schwindel war?“

„Es war bestimmt kein Schwindel.“

„Das ist das wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?“

„Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn danach fragen.“

„Bringen Sie sie mir auf jeden Fall, Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm sicher sehr angenehm sein, weil er vielleicht überhaupt mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte lachen Sie nicht über meine Worte, Lew Nikolajitsch; es ist sehr wohl möglich, daß es sich so verhält.“

„Ich lache nicht, denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.“

„Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?“ fragte Aglaja höchst erstaunt.

Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte oft die Sätze nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene zeigte, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen.

„Natürlich wünschte er“, erklärte der Fürst, „daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten …“

„Wieso loben?“

„Das heißt, es ist … Wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und ihm sagen, daß sie ihn sehr lieben und achten, und ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Sehr möglich, daß er Sie dabei mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte … obwohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.“

„Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, was er im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst an die dreißig Mal, sogar zu der Zeit, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran gedacht habe, mich zu vergiften, und alles das in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien … Warum lächeln Sie wieder?“ fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. „Woran denken Sie denn, wenn Sie sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.“

„Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daran denke ich, besonders beim Einschlafen“, antwortete der Fürst lachend. „Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.“

„Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Lew Nikolajitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr, denn es ist sehr roh, eine Menschenseele so zu untersuchen und zu beurteilen, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zartheit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.“

Der Fürst dachte nach.

„Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind“, sagte er dann. „Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat, denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt … er wünschte, zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle, nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch von etwas anderem! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt …“

„Damit meinen Sie wohl sich selbst?“ bemerkte Aglaja.

„Allerdings“, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.

„Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein, das ist gar nicht hübsch von Ihnen.“

„Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz …“

„Auf welchem Musikplatz?“

„Da, wo gestern konzertiert wurde, und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, hin und her überlegt und bin eingeschlafen.“

„Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten … Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?“

„Das weiß ich nicht, nur so …“

„Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immerzu, und was geht es mich überhaupt an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie da geträumt?“

„Von … von … Sie haben sie gesehen …“

„Ich verstehe … verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr … Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen“, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Tone hinzu. „Unterbrechen Sie mich nicht …“

Sie wartete ein wenig, als wollte sie sich ein Herz fassen oder als suchte sie ihren Ärger zu überwinden.

„Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?“ fügte sie beinahe zornig hinzu.

Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was deutlich in ihren blitzenden Augen zum Ausdruck kam; gewöhnlich richtete sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn gegen denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, beteiligte sie sich gewöhnlich nur wenig an dem Gespräch und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, gar nicht umhinkonnte zu reden, so tat sie das zunächst sehr hochmütig und irgendwie herausfordernd. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfing oder anfangen wollte zu erröten.

„Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?“ fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an.

„O doch, ich will ihn annehmen, nur ist das gar nicht erforderlich … ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte“, erwiderte der Fürst verlegen.

„Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was denken Sie sich eigentlich? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?“

„Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält, ich … ich halte Sie nicht dafür.“

„Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr vernünftig, daß Sie es sagen.“

„Meiner Ansicht nach sind Sie vielleicht mitunter sogar sehr vernünftig“, fuhr der Fürst fort. „Sie haben vorhin einen sehr vernünftigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ‚Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‘ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.“

Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, als er sie anblickte.

„So hören Sie denn“, begann sie wieder, „ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen alles zu erzählen, schon von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher … Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle andern, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand … das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe, denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das gewiß nicht übelnehmen, ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, und sogar so gut, wie jene es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?“

„Vielleicht ist es so“, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.

„Ich wußte, daß Sie es verstehen würden“, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: „Fürst Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: maman hat es begriffen!“

„Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.“

„Wieso? Wirklich?“ fragte Aglaja erstaunt.

„Wahrhaftig, das ist meine Ansicht.“

„Ich danke Ihnen“, sagte sie nach kurzem Nachdenken. „Ich freue mich sehr, daß ich mit maman Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr?“ fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage zu bemerken.

„Sehr, wirklich sehr, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.“

„Ich freue mich ebenfalls, denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal … über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht … Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgenij Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will … ich will … nun, ich will von Hause weglaufen, und ich habe Sie ausgewählt, mir zu helfen.“

„Von Hause weglaufen!?“ rief der Fürst.

„Ja, ja, ja, von Hause weglaufen!“ rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. „Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgenij Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste, und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen, davon zu reden, daß ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief gar nicht gezeigt, aber jetzt reden sie schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will mich nützlich machen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen, ich will in Rom sein, ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen, ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen, ich habe alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen alle Bücher, die dürfen das. Aber mir gibt man nicht alle, ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten, aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige, erzieherisch tätig zu sein, und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht gleich, so doch in Zukunft? Wir werden gemeinsam Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein … Sagen Sie, Sie sind doch ein sehr gelehrter Mann?“

„Oh, durchaus nicht!“

„Das ist schade, ich hatte es geglaubt … wie bin ich nur darauf gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden mich dabei doch anleiten, denn ich habe Sie ausgewählt.“

„Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.“

„Ich will von Hause weglaufen, ich will!“ rief sie, und ihre Augen funkelten wieder. „Wenn Sie mir Ihre Hilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein schlechtes Frauenzimmer hält und mir Gott weiß was vorwirft.“

„Sind Sie bei Sinnen!“ rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. „Was wirft man Ihnen vor? Wer tut so etwas?“

„Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Maman war einen ganzen Tag krank, und am nächsten Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstünde schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als maman das hörte, fiel sie beinah in Ohnmacht.“

Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.

Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht alle Ausdrücke verstand.

„Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?“ fragte er. „Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?“

„Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich sehe, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten“, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. „Machen Sie mich nicht ärgerlich, ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht … Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt bin und Sie zu einem Rendezvous bestellt habe“, sagte sie in gereiztem Ton.

„Ich habe das gestern wirklich befürchtet“, versetzte der Fürst in unbedachter Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). „Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie …“

„Wie!“ rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. „Sie haben befürchtet, daß ich … Sie haben zu denken gewagt, daß ich … O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierherbestellt, um Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten …“

„Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich nicht? Wie konnte nur ein so schmutziger Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten … Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!“

Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, als hätte sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen.

„Ich schäme mich gar nicht“, murmelte sie. „Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?“

„Den Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war in der schwersten Stunde meines Lebens aus meinem Herzen geströmt! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt … ich …“

„Nun gut, gut“, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus dem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie beugte sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. „Gut“, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, „ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt … um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an, wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr schmutziger Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte, aber plötzlich sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben … Ich weiß, was das für eine Stunde war“, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.

„Oh, wenn Sie alles wissen könnten!“

„Ich weiß alles!“ rief sie in erneuter Erregung. „Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in einer Wohnung mit dieser schlechten Frau, mit der Sie fortgegangen waren …“

Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, gleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute. Der Fürst war durch diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.

„Ich liebe Sie durchaus nicht“, sagte sie plötzlich kurz und scharf.

Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.

„Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch …“, sagte sie hastig, aber kaum hörbar, und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

„Das ist nicht wahr“, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.

„Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser Bank.“

Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.

„Das ist nicht wahr“, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. „Sie haben sich das alles nur ausgedacht.“

„Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.“

„Er hat seine Hand verbrannt?“

„Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.“

Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.

„Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier geschehen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen …“

„Jawohl … eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?“

„Eine bloße Kerze oder eine auf einem Leuchter?“

„Nun ja … nein … eine halbe Kerze … ein Stümpfchen … eine ganze Kerze … das ist ja ganz egal, lassen Sie doch das Gerede! … Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?“

„Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.“

Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein schallendes Gelächter aus.

„Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?“ wandte sie sich mit der kindlichsten Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. „Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, etwas Exzentrisches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe …“

Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, als fiele ihr etwas ein.

„Wenn ich damals“, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, „wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ‚armen Ritter‘ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte …“

„Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.“

„Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie ihr vor einem halben Jahr vor aller Ohren Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie sehen, ich spreche ganz ohne Kommentar. Darauf ist sie mit Rogoshin davongelaufen, dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu einem andern begeben.“ (Aglaja errötete stark.) „Dann ist sie wieder zu Rogoshin zurückgekehrt, der sie wie … wie ein Wahnsinniger liebt. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr vernünftiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger gemacht, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt … Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierhergereist, nicht wahr, um ihretwillen?“

„Ja, um ihretwillen“, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. „Um ihretwillen, nur um zu erfahren … Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoshin, obgleich … kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun und wie ich ihr helfen kann, aber ich bin trotzdem hergekommen.“

Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.

„Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr“, sagte sie schließlich.

„Nein“, versetzte der Fürst, „nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!“

Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.

„Erzählen Sie mir alles!“ sagte Aglaja.

„Es gibt nichts, was Sie nicht hören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und nur Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, sagen Sie nicht Schlechtes von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie wie rasend, sie bekenne sich nicht schuldig, sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts, aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, die das nicht glaubt, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld sei. Sobald ich versuchte, diese düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als wäre mein Herz durchbohrt worden und hörte nicht auf zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das schrecklichste ist, daß sie vielleicht selbst nicht wußte, daß sie mir nur das beweisen wollte, und sie lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann sagen zu können: ‚Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen, also bist du ein gemeines Geschöpf!‘ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort empörte sie sich wieder, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich stellte mich hoch über sie (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder daß man sie ‚zu sich emporhebe‘. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!“

„Haben Sie ihr dort auch solche … Predigten gehalten?“

„O nein“, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten, „ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden, aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte. Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie, ich liebte sie sehr … aber dann … dann … dann hat sie alles erraten.“

„Was hat sie erraten?“

„Daß ich nur Mitleid mit ihr habe und daß ich … sie nicht mehr liebe.“

„Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen … Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?“

„Nein, das war nicht der Fall, ich weiß alles; sie machte sich nur über ihn lustig.“

„Und über Sie hat sie sich niemals lustig gemacht?“

„N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht — und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber … dann … oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!“

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

„Wissen Sie, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?“

„Also ist das wahr!“ rief der Fürst in starker Erregung. „Ich habe es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.“

„Von wem haben Sie es gehört?“ fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend.

„Rogoshin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.“ „Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?“

„Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.“

„Ah so! Nun, wenn es Rogoshin war … Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?“

„Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.“

„Da sind die Briefe.“ (Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin.) „Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie … nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich … sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt, sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich, sie wisse das, sie habe es längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann … Sie schreibt so wild … so sonderbar … Ich habe die Briefe niemandem gezeigt, ich habe auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Erraten Sie nichts?“

„Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit“, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten.

„Sie weinen doch nicht?“

„Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht“, erwiderte der Fürst, sie anblickend.

„Was soll ich denn tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!“

„Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!“ rief der Fürst. „Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.“

„Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!“ rief Aglaja. „Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können, aber dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht, das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau … glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoshin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!“

Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung, zu erkennen, daß dieses Kind schon längst eine Frau geworden war.

„Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen, aber … ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!“

„So bringen Sie sich zum Opfer, das steht Ihnen doch so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ‚Aglaja‘ zu mir … Sie haben auch vorhin schon einfach ‚Aglaja‘ zu mir gesagt … Sie müssen ihr zu einem neuen Leben verhelfen. Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder fortreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!“

„Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und … vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrunde gehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen, aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrunde gehen! Das ist unnatürlich, aber hier ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt, aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!“

„Wie blaß Sie geworden sind!“ rief Aglaja erschrocken.

„Das macht nichts, ich habe wenig geschlafen; ich bin etwas schwach geworden, ich … Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja …“

„Also ist das wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr über mich zu sprechen? Und … und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen haben, da Sie mich doch nur ein einziges Mal gesehen hatten?“

„Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte ich, ahnte ich vielleicht von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Traum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam … Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und wäre drei Jahre lang nicht wieder hergereist …“

„Also sind Sie um ihretwillen hergereist?“

Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang.

„Ja, um ihretwillen.“

Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf.

„Wenn Sie sagen“, begann sie mit unsicherer Stimme, „wenn Sie selbst glauben, daß diese … daß diese Frau … irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an. .. Ich bitte Sie, Lew Nikolajitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr“, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, „wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde in eine Besserungsanstalt gebracht werden …“

Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an, und auf einmal schien sich vor seinen Augen ein Nebel zu zerteilen …

„Sie können nicht so fühlen … das ist nicht wahr!“ murmelte er.

„Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!“ schrie Aglaja fast außer sich.

„Was ist wahr? Was soll wahr sein?“ ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme.

Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna.

„Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen davonlaufen werde!“ rief Aglaja ihr heftig zu. „Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?“

Und sie lief nach Hause.

Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. „Nein, Väterchen“, sagte sie, „geh jetzt nicht weg, tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben! … Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.“

Der Fürst folgte ihr.