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Ippolit, der gegen Ende des Lebedewschen Vortrages auf dem Sofa eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, als hätte ihm jemand einen Stoß in die Seite versetzt, fuhr zusammen, richtete sich auf, blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich endlich alles ins Gedächtnis zurückgerufen und begriffen hatte.

„Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist die Sonne schon aufgegangen?“ fragte er aufgeregt und griff nach der Hand des Fürsten. „Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr? Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?“ fügte er mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte, wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge.

„Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen“, antwortete Jewgenij Pawlowitsch.

Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach.

„Ah … nicht mehr! Also kann ich …“

Er holte tief und begierig Atem, als hätte er eine schwere Last von sich geworfen. Er merkte endlich, daß nichts „zu Ende war“, daß es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch aufgestanden waren und daß lediglich Lebedews Geschwätz aufgehört hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt zweier greller Flecke auf seinen Wangen.

„Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief, Jewgenij Pawlytsch“, sagte er spöttisch. „Sie haben den ganzen Abend über die Augen nicht von mir abgewandt, ich habe es wohl gesehen … Ah, da ist ja Rogoshin! Ich habe soeben von ihm geträumt“, flüsterte er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoshin hindeutete. „Ach ja“, fuhr er, plötzlich zu etwas anderem übergehend, fort, „wo ist denn der Redner? Wo ist denn Lebedew? Lebedew ist also zu Ende? Worüber hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren“, rief er allen laut zu, „der Fürst behauptet, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er jetzt deshalb so leichtsinnige Gedanken hat, weil er verliebt ist. Meine Herren, der Fürst ist verliebt; vorhin, sowie er hereinkam, habe ich mich davon überzeugt. Erröten Sie nicht, Fürst, das würde mir leid tun. Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt erlöst werden wird? Mir hat Kolja das wiedererzählt … Sind Sie ein eifriger Christ? Kolja sagt, Sie bezeichneten sich selbst als Christ.“

Der Fürst sah ihn aufmerksam an, ohne ihm zu antworten.

„Sie antworten mir nicht? Sie glauben vielleicht, daß ich Sie sehr gern habe?“ fügte Ippolit plötzlich ganz unvermittelt hinzu.

„Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können.“

„Wie? Selbst nach dem, was gestern geschehen ist? War ich gestern gegen Sie nicht aufrichtig?“

„Ich wußte auch gestern, daß Sie mich nicht leiden können.“

„Sie meinen, weil ich Sie beneide? Das haben Sie immer gedacht und denken es auch jetzt, aber … aber warum rede ich mit Ihnen davon? Ich will noch Champagner trinken; gießen Sie mir ein, Keller!“

„Sie dürfen nicht mehr trinken, Ippolit, ich gebe Ihnen keinen mehr …“

Der Fürst schob das Glas von ihm weg.

„Nun gut …“, sagte er, sofort damit einverstanden, und schien in Gedanken zu versinken. „Die Leute werden womöglich noch sagen … aber was schere ich mich um das, was die Leute sagen werden! Nicht wahr? Nicht wahr? Mögen die Leute nachher reden, was sie wollen, nicht wahr, Fürst? Und was kümmert es uns alle, was nachher sein wird! … Ich bin übrigens noch schlaftrunken. Was ich für einen schrecklichen Traum gehabt habe, jetzt fällt es mir wieder ein … Ich wünsche Ihnen solche Träume nicht, Fürst, wenn ich Sie auch vielleicht wirklich nicht leiden kann. Übrigens, wenn man jemand auch nicht leiden kann, warum soll man ihm Böses wünschen, nicht wahr? Warum frage ich nur fortwährend? Fortwährend frage ich! Geben Sie mir Ihre Hand, ich werde sie kräftig drücken, sehen Sie, so! … Sie haben mir also doch die Hand gereicht! Sie wissen also, daß mein Händedruck aufrichtig gemeint ist? … Meinetwegen, ich werde nicht mehr trinken. Was ist die Uhr? Übrigens brauchen Sie es mir nicht zu sagen; ich weiß, was die Uhr ist. Die Stunde ist gekommen! Jetzt ist genau die Zeit. Was? Wird der Imbiß dort in die Ecke gestellt? Also bleibt dieser Tisch frei? Vorzüglich! Meine Herren, ich … aber diese Herren hören ja alle nicht … ich beabsichtige, einen Artikel vorzulesen, Fürst; der Imbiß ist natürlich interessanter, aber …“

Und ganz unerwartet zog er aus seiner oberen Seitentasche ein mit einem großen roten Siegel verschlossenes Kuvert in Kanzleiformat heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch.

Dieser unerwartete Vorgang übte auf die angeheiterte Gesellschaft, die vorbereitet war, aber nicht darauf, eine starke Wirkung aus. Jewgenij Pawlowitsch sprang sogar von seinem Stuhl auf; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoshin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten.

„Was haben Sie denn da?“ fragte der Fürst beunruhigt.

„Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst, ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es sehen!“ rief Ippolit. „Aber … aber … glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?“ fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte.

Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.

„Niemand von uns glaubt das“, antwortete der Fürst für alle. „Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was … was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?“

„Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?“ wurde von allen Seiten gefragt.

Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet.

„Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann die ganze Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum …“

„Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?“ unterbrach ihn der Fürst schüchtern.

„Morgen wird ‚keine Zeit mehr sein‘“1, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. „Beunruhigen Sie sich übrigens nicht, das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern, na — oder eine Stunde … Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie hergekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert verpackt und versiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert aufbrechen, meine Herren, oder nicht?“ rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. „Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ‚hinfort keine Zeit mehr sein soll‘? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Apokalypse.“

„Es ist das beste, die Vorlesung unterbleibt!“ rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch, aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.

„Lesen Sie nicht!“ rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.

„Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe“, bemerkte jemand.

„Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?“ erkundigte sich ein anderer.

„Vielleicht ist es langweilig“, fügte ein dritter hinzu.

„Aber was ist es denn eigentlich?“ fragten die übrigen. Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.

„Also … soll ich es nicht vorlesen?“ flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. „Nicht vorlesen?“ murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ, als wollte er sich wieder mit der gleichen, sozusagen anstürmenden Expansivität an alle klammern. „Sie … fürchten sich?“ sagte er, wieder zu dem Fürsten gewandt.

„Wovor sollte ich mich fürchten?“ fragte dieser, während sein Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.

„Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?“ rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. „Oder irgendeine andere Münze?“

„Hier!“ sagte Lebedew, ihm schnell eine Münze hinreichend. Ihm huschte der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.

„Wera Lukjanowna!“ rief Ippolit eilig. „Bitte, nehmen Sie die Münze und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler oben liegt, will ich es vorlesen!“

Wera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann warf sie, den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, diese mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen.

„Also vorlesen!“ flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: „Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?“ Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. „Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!“ rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. „Das … das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!“ wiederholte er, wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. „Notieren Sie sich das, Fürst, merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung … Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!“ Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. „Da muß man sich ja geradezu schämen! … Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!“ rief er, den Kopf sogleich wieder hebend. „Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!“ verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. „Übrigens … ich zwinge niemand zuzuhören! …“

Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt.

„Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?“ murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst, in fast gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen hatte.

„Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen“, schickte Ippolit aus irgendeinem Grunde voraus und begann dann seine Vorlesung: „Eine notwendige Erklärung! Motto: Après moi le déluge … Pfui! Hol's der Teufel!“ rief er, als ob er sich verbrannt hätte. „Habe ich wirklich im Ernst ein solches dummes Motto hinsetzen können? … Hören Sie, meine Herren! … Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir … Wenn Sie glauben, daß das hier … irgend etwas Geheimnisvolles oder … Verbotenes ist … mit einem Wort …“

„Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!“ unterbrach ihn Ganja.

„Er kneift!“ fügte jemand hinzu.

„Viel unnützes Gerede!“ mischte sich Rogoshin ein, der bisher die ganze Zeit geschwiegen hatte.

Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, fletschte Rogoshin bitter und grimmig die Zähne und sprach langsam die seltsamen Worte:

„Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders …“

Was Rogoshin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand, aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke berührte einen jeden von ihnen. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte. Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoshin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung:

„Also Sie … Sie waren es … Sie?“

„Was soll ich gewesen sein? Ich?“ antwortete Rogoshin verständnislos. Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme:

„Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tage, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war, Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?“

„In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?“

Der „Junge“ schwieg wieder ungefähr eine Minute, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf.

„Das waren Sie!“ wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. „Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen … Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht, aber das waren Sie!“

Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf.

„Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren, ich … ich … hören Sie nur zu …“

Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten, er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam.

„Er ist verrückt geworden oder er redet im Fieber!“ murmelte Rogoshin kaum hörbar.

Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es dem Verfasser der unerwarteten Abhandlung noch schwer, Luft zu bekommen, und er las unzusammenhängend und ungleichmäßig, aber dann wurde seine Stimme fest und vermochte den Sinn des Gelesenen vollständig zum Ausdruck zu bringen. Nur wurde er manchmal von einem ziemlich starken Husten unterbrochen; von der Mitte des Schriftstücks an war er sehr heiser. Der gewaltige Eifer, der sich seiner, je weiter die Vorlesung fortschritt, immer mehr bemächtigte, erreichte gegen Ende den höchsten Grad, ebenso wie die peinliche Empfindung der Zuhörer. Hier ist diese ganze „Abhandlung“.

„Meine notwendige Erklärung.

Après moi le déluge.

Gestern vormittag war der Fürst bei mir; unter anderm überredete er mich, nach seinem Landhaus überzusiedeln. Ich wußte, daß er unbedingt darauf bestehen würde, und war überzeugt, daß er geradezu mit der Bemerkung herausplatzen werde, es werde mir in dem Landhaus unter den Menschen und Bäumen leichter sein, zu sterben, wie er sich ausdrückt. Heute jedoch sagte er nicht sterben, sondern er sagte: ‚Es wird Ihnen leichter sein zu leben‘, was indessen für mich in meiner Lage beinah dasselbe ist. Ich fragte ihn, was er denn mit den Bäumen, von denen er fortwährend redete, eigentlich wolle und warum er mir diese Bäume so aufdränge, — und erfuhr von ihm zu meiner Verwunderung, daß ich selbst an jenem Abend geäußert hätte, ich sei nach Pawlowsk gekommen, um zum letztenmal Bäume zu sehen. Als ich ihm bemerkte, es sei ja doch ganz gleich, ob ich unter Bäumen stürbe oder mit dem Blick durchs Fenster auf meine Backsteinmauer, und daß es um zweier Wochen willen sich nicht lohne, besondere Umstände zu machen, stimmte er mir sogleich bei; aber er meinte, das Grün und die reine Luft würden sicherlich bei mir eine physische Veränderung hervorrufen, und meine Aufregung und meine Träume würden vielleicht einen linderen Charakter annehmen. Ich erwiderte ihm lachend, er rede wie ein Materialist. Er antwortete mir mit seinem Lächeln, er sei immer ein Materialist gewesen. Da er nie lügt, sind diese Worte bedeutungsvoll. Sein Lächeln ist gut und angenehm; ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt gern habe oder nicht; aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich muß aber bemerken, daß mein fünfmonatiger Haß gegen ihn sich im letzten Monat ganz gelegt hat. Wer weiß, vielleicht bin ich nach Pawlowsk hauptsächlich gefahren, um ihn kennenzulernen. Aber … weshalb habe ich damals mein Zimmer verlassen? Wer zum Tode verurteilt ist, muß in seinem Winkel bleiben; und wenn ich jetzt nicht einen definitiven Entschluß gefaßt hätte, sondern entschieden hätte, die letzte Stunde abzuwarten, so würde ich natürlich mein Zimmer um keinen Preis verlassen und seinen Vorschlag, zu ihm überzusiedeln, um in Pawlowsk zu ‚sterben‘, nicht annehmen.

Ich muß mich beeilen und diese ganze Erklärung unter allen Umständen bis morgen zu Ende bringen. Somit werde ich keine Zeit haben, sie noch einmal durchzulesen und zu korrigieren; ich werde sie erst morgen wieder durchlesen, wenn ich sie dem Fürsten und zwei oder drei Zeugen, die ich bei ihm vorzufinden hoffe, vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ‚die letzte, feierliche Wahrheit‘ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (NB. Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.)

Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben, aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist.

Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer für immer! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu empfinden oder sich irgendwelchen derartigen Gefühlen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben habe.

Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B-n hat nichts zu mir gesagt und mich nie gesehen, aber man hat vor etwa einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; ebendeswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme, möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag: solche Fälle seien vorgekommen, erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in Kolomna2, deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches alles negierendes höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei, für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache, zu sterben. Aber am Ende blieb doch wie eingerahmt die Tatsache: einen Monat und nicht ein bißchen mehr. Daß er sich nicht irrte, davon war ich überzeugt.

Es hat mich sehr gewundert, wieso der Fürst vorhin erraten hat, daß ich ‚böse Träume‘ habe; er sagte wörtlich, ‚meine Aufregung und meine Träume‘ würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume? Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß er aber im Grunde doch ein ‚Idiot‘ ist, daran kann kein Zweifel bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie jetzt zu Hunderten habe). Ich war eingeschlafen — ich glaube, eine Stunde vor seiner Ankunft — und sah mich in einem Zimmer (aber nicht in dem meinigen). Das Zimmer war größer und höher als das meine, besser möbliert und hell; darin standen ein Schrank, eine Kommode, ein Sofa und mein Bett, ein großes, breites Bett, mit einer grünseidenen Steppdecke darauf. Aber in diesem Zimmer bemerkte ich ein schreckliches Tier, eine Art Ungeheuer. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Skorpion, war aber kein Skorpion, sondern widerwärtiger und weit furchtbarer, anscheinend ebendeswegen, weil es solche Tiere in der Natur nicht gibt und weil es sich absichtlich gerade bei mir eingefunden hatte und weil eben darin irgendein Geheimnis zu liegen schien. Ich betrachtete es sehr genau: es war ein mit einer braunen Schale bekleidetes Kriechtier, ungefähr vier Werschok lang, am Kopf etwa zwei Finger dick, nach dem Schwanz zu wurde es allmählich dünner, so daß die Schwanzspitze selbst nicht dicker als ein Zehntel Werschok war. Etwa einen Werschok vom Kopf entfernt traten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Rumpf zwei Pfoten heraus, auf jeder Seite eine, etwa zwei Werschok lang, so daß das ganze Tier, von oben gesehen, die Gestalt eines Dreizacks hatte. Den Kopf konnte ich nicht deutlich erkennen, aber ich sah zwei Fühler, nicht besonders lang, in Form zweier starker Nadeln, gleichfalls von brauner Farbe. Zwei ebensolche Fühler befanden sich am Ende des Schwanzes und am Ende jeder der Pfoten, so daß es also im ganzen acht Fühler waren. Das Tier lief sehr schnell im Zimmer umher, wobei es sich auf die Pfoten und den Schwanz stützte, und wenn es lief, wanden sich die Pfoten und der Rumpf trotz der Schale mit großer Schnelligkeit wie kleine Schlangen, was sehr widerwärtig anzusehen war. Ich hatte schreckliche Angst, es könnte mich stechen; mir war gesagt worden, es sei giftig. Ganz besonders aber quälte mich der Gedanke, wer es wohl in mein Zimmer geschickt hatte, was man mir antun wollte und worin dieses Geheimnis bestand. Das Tier versteckte sich unter der Kommode, unter dem Schrank und kroch in die Ecken. Ich zog meine Beine auf den Stuhl hinauf und schlug sie unter den Leib. Das Tier lief schnell schräg durch das ganze Zimmer und verschwand irgendwo in der Gegend meines Stuhls. Voller Furcht blickte ich rings um mich, aber da ich mit untergeschlagenen Beinen dasaß, so hoffte ich, daß es nicht werde auf den Stuhl heraufkriechen können. Plötzlich hörte ich hinter mir, fast bei meinem Kopf, ein knisterndes Geräusch; ich drehte mich um und sah, daß das Scheusal an der Wand hinaufkroch, sich schon in gleicher Höhe mit meinem Kopf befand und sogar meine Haare mit seinem Schwanz berührte, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit drehte und wand. Ich sprang auf, und im gleichen Augenblick war auch das Tier verschwunden. Auf das Bett mochte ich mich nicht legen, aus Furcht, es könnte unter das Kissen kriechen. Da traten meine Mutter und ein Bekannter von ihr ins Zimmer. Sie begannen, auf das garstige Tier Jagd zu machen, aber sie waren ruhiger als ich und fürchteten sich nicht einmal. Sie konnten jedoch nichts begreifen. Auf einmal kam das Untier wieder hervorgekrochen; es kroch diesmal sehr sachte und wand sich, wie mit besonderer Absicht, nur langsam, was noch viel greulicher aussah; es nahm seinen Weg wieder schräg durch das Zimmer nach der Tür hin. Da öffnete meine Mutter die Tür und rief Norma, unsere Hündin, einen riesigen schwarzen, zottigen Neufundländer; sie ist vor fünf Jahren gestorben. Norma kam ins Zimmer gestürzt und blieb vor dem Reptil wie angewurzelt stehen. Auch dieses machte halt, wand sich aber immer noch hin und her und kratzte mit den Enden der Pfoten und des Schwanzes auf dem Fußboden herum. Tiere sind, wenn ich nicht irre, nicht imstande, eine mystische Angst zu empfinden, aber in diesem Augenblick schien es mir doch, als ob auch in Normas Angst etwas sehr Ungewöhnliches, beinah Mystisches lag und sie ebenso wie ich ahnte, daß in dem Tier etwas Verhängnisvolles, ein Geheimnis steckte. Sie wich langsam vor dem Reptil zurück, das sachte und vorsichtig auf sie zukroch und, wie es schien, sich plötzlich auf sie stürzen und sie stechen wollte. Aber trotz aller Angst und obwohl sie an allen Gliedern zitterte, machte Norma doch schrecklich grimmige Augen. Auf einmal fletschte sie langsam ihre furchtbaren Zähne, öffnete weit ihren gewaltigen roten Rachen, duckte sich, paßte geschickt die Entfernung ab, faßte einen Entschluß und packte plötzlich das garstige Tier mit den Zähnen. Dieses machte heftige Bewegungen, um zu entschlüpfen, so daß Norma es noch einmal, jetzt im Fluge, griff und es zweimal, immer im Fluge, mit dem ganzen Rachen in sich hineinzog, als wollte sie es hinunterschlucken. Die Schale knackte unter ihren Zähnen; der Schwanz des Tieres und die Pfoten, die aus dem Maul herausragten, bewegten sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Auf einmal begann Norma kläglich zu winseln: das Reptil hatte es doch noch fertiggebracht, sie in die Zunge zu stechen. Vor Schmerz winselnd und heulend, öffnete sie das Maul, und ich sah, daß das zerbissene, quer im Maul liegende Reptil sich noch bewegte und aus seinem halbzerquetschten Körper auf Normas Zunge eine Menge weißen Saftes floß, ähnlich dem Saft einer zerdrückten schwarzen Schabe … In diesem Augenblicke wachte ich auf, und der Fürst trat herein.

Meine Herren“, sagte Ippolit, indem er seine Vorlesung plötzlich unterbrach und ein beschämtes Gesicht machte, „ich habe es nicht noch einmal durchgelesen, aber ich habe, wie es scheint, tatsächlich viel Überflüssiges hingeschrieben. Dieser Traum …“

„Ja, das ist richtig“, beeilte sich Ganja zu bemerken.

„Ich muß zugeben, es ist zuviel Persönliches dabei, das heißt Dinge, die eigentlich nur auf mich Bezug haben …“

Als Ippolit das sagte, sah er müde und erschöpft aus und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

„Ja, Sie interessieren sich zu sehr für sich selbst“, zischte Lebedew.

„Meine Herren, noch einmal: ich nötige niemand; wer nicht zuhören will, kann sich entfernen.“

„Er jagt uns weg … aus einem fremden Haus“, brummte Rogoshin kaum vernehmbar.

„Aber wie können wir denn alle auf einmal aufstehen und uns entfernen?“ sagte plötzlich Ferdyschtschenko, der bis dahin nicht gewagt hatte, laut zu reden.

Ippolit schlug die Augen nieder und griff nach seinem Manuskript; aber in derselben Sekunde hob er den Kopf wieder und sagte mit funkelnden Augen und zwei roten Flecken auf den Backen, indem er Ferdyschtschenko gerade ins Gesicht blickte: „Sie können mich gar nicht leiden!“

Man hörte Lachen; indes war es nicht die Mehrzahl, die lachte. Ippolit wurde dunkelrot.

„Ippolit“, sagte der Fürst, „machen Sie Ihr Manuskript zu und geben Sie es mir und legen Sie selbst sich hier in meinem Zimmer schlafen. Wir wollen, bevor Sie einschlafen, noch ein bißchen mit Ihnen reden und das Gespräch dann morgen fortsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Blätter nie wieder aufschlagen. Wollen Sie das tun?“

„Ist das denn möglich?“ rief Ippolit, indem er ihn mit wirklicher Verwunderung anblickte. „Meine Herren“, fuhr er, wieder in fieberhafter Lebhaftigkeit, fort, „das war ein dummer Zwischenakt, in dem ich mich nicht richtig zu benehmen verstand. Ich werde in der Vorlesung keine Unterbrechung mehr eintreten lassen. Wer zuhören will, mag zuhören …“

Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber …

„Der Gedanke“, fuhr er fort zu lesen, „daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte, aber meiner völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskijs, ‚meines Nächsten‘, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ‚die letzte Überzeugung‘ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese ‚Überzeugung‘ habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich angefangen zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.

Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser schmutzigen Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.

Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben jener zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja, wenn ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu ein Klatschmaul wurde. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). Ich kannte einen armen Kerl, von dem man mir später erzählte, er sei Hungers gestorben, und ich erinnere mich, daß mich dies ganz aus der Fassung brachte: hätte man diesen armen Menschen ins Leben zurückrufen können, so hätte ich ihn, glaube ich, hinrichten lassen. Es ging mir manchmal ganze Wochen lang besser, und ich konnte auf die Straße gehen; aber was ich auf der Straße sah, versetzte mich in eine so ärgerliche Stimmung, daß ich ganze Tage lang absichtlich im verschlossenen Zimmer saß, obgleich ich wie alle Leute hätte ausgehen können. Ich konnte dieses hin und her rennende, hastende, immer sorgenvolle, mürrische, aufgeregte Volk nicht vertragen, das auf dem Gehsteig um mich herumwimmelte. Wozu ihre ewige Traurigkeit, Unruhe und Geschäftigkeit, ihre ewige mürrische Bosheit (denn sie sind boshaft, boshaft, boshaft). Wer ist schuld daran, daß sie unglücklich sind und nicht zu leben verstehen, obwohl jeder von ihnen sechzig Lebensjahre vor sich hat? Warum hat Sarnizyn es dahin kommen lassen, daß er Hungers starb, obgleich er sechzig Jahre vor sich hatte? Und jeder weist auf seine abgetragene Kleidung hin und auf seine zerarbeiteten Hände und ist böse und schreit: ‚Wir arbeiten wie die Ochsen und quälen uns, aber wir sind hungrig wie die Hunde und arm! Andere arbeiten nicht und quälen sich nicht und sind reich!‘ (Das ist der ewige Refrain!) Und mit ihnen zugleich läuft so ein unglücklicher Jammermensch ‚aus besserer Familie‘ herum und rackert sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend ab; ich denke an Iwan Fomitsch Surikow, der in unserm Haus über uns wohnt; er hat immer zerrissene Ellbogen und durchgeriebene Knöpfe und macht für allerlei Leute Gänge und übernimmt Aufträge vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Läßt man sich mit ihm in ein Gespräch ein, dann bekommt man zu hören: ‚Ich bin arm, geradezu ein Bettler, meine Frau ist mir gestorben, ich hatte kein Geld, um ihr Medizin zu kaufen, und im Winter ist mir ein kleines Kind erfroren; meine älteste Tochter lebt als Mätresse …‘ So jammert und weint er fortwährend! Oh, ich habe kein Mitleid, nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen, ich habe jetzt keines und habe es auch früher nicht gehabt, das sage ich mit Stolz! Warum ist er denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperiale und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift?

Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig, jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern, aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und biß tatsächlich nachts vor Wut in mein Kopfkissen und zerriß meine Bettdecke. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich gezeigt …

Was hätte ich gezeigt?

Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ‚Erklärung‘ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.

Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem denn? Ich habe mich damals mit ihnen belustigt, als ich klar einsehen mußte, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; mir fiel zur rechten Zeit ein: ‚Ehe ich noch bis zur Syntax gelangt bin, werde ich sterben.‘ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe Matrjona verboten, es aufzuheben.

Mag immerhin, wer meine ‚Erklärung‘ in die Hände bekommt und die Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten oder auch für einen Gymnasiasten oder noch besser für einen zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zuwenig zu schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag man so denken! Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt und daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig ist. Man frage doch nur die Menschen, worin sie alle, vom ersten bis zum letzten, das Glück sehen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus nicht damals glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa zurückzusteuern! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich entdeckt wurde, die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, ewig damit beschäftigt ist zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat eine solche Ähnlichkeit mit den landläufigsten Redensarten, daß man mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird, der seinen Aufsatz über den ‚Sonnenaufgang‘ vorlegt, oder daß man sagen wird, ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht verstanden, es zu … ‚entwickeln‘. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei jedem genialen oder neuen menschlichen Gedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten menschlichen Gedanken, der in irgendeinem Kopf entsteht, immer ein Rest übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und ewig darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ‚letzte Überzeugung‘, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ‚Erklärung‘ hervorzuheben. Indessen, ich fahre fort.“

1 Offenbarung des Johannes, 10,6. (A.d.Ü.) 2 Ein Stadtteil von Petersburg. (A.d.Ü.)