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‚In der Tat, vor kurzer Zeit hatte ich wirklich noch vor, Rasumichin um Arbeit zu bitten. Er sollte mir Privatstunden oder sonst etwas verschaffen‘, überlegte Raskolnikow; ‚aber womit kann er mir jetzt helfen? Angenommen, er verschafft mir Stunden, angenommen sogar, er teilt mit mir seine letzte Kopeke, wenn er noch eine hat, so daß ich sogar imstande bin, mir Stiefel zu kaufen und meinen Anzug ausbessern zu lassen, um zu den Privatstunden gehen zu können,… hm. Aber was dann weiter? Was kann ich mit so ein paar Groschen anfangen? Entspricht das etwa meinem jetzigen Bedürfnisse? Es ist rein lächerlich, daß ich jetzt zu Rasumichin gehen wollte.‘

Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehen wollte, regte ihn in Wirklichkeit mehr auf, als er selbst glaubte; voll Unruhe suchte er irgendwelchen für ihn unheilverkündenden tieferen Sinn in diesem anscheinend ganz gewöhnlichen Vorhaben.

‚Wollte ich denn die ganze Angelegenheit einzig und allein durch Rasumichins Beihilfe in Ordnung bringen, und glaubte ich, bei Rasumichin Rettung aus aller Not zu finden?‘ fragte er sich verwundert.

Er sann nach und rieb sich die Stirn, und — seltsam! — ganz unvermutet, plötzlich und fast von selbst kam ihm nach langer Überlegung ein sonderbarer Gedanke.

‚Hm… zu Rasumichin‘, sagte er im Tone einer endgültigen Entscheidung vor sich hin und fühlte sich auf einmal völlig ruhig, ‚zu Rasumichin werde ich gehen, bestimmt, … aber nicht jetzt gleich. Ich will zu ihm hingehen am Tage nach der betreffenden Sache, wenn die bereits erledigt ist und mein ganzes Leben einen neuen Anfang nimmt.‘

Und auf einmal kam er zur Besinnung.

„Nach der betreffenden Sache!“ rief er und sprang von der Bank auf. „Aber wird die denn stattfinden? Wird sie wirklich stattfinden?“

Er verließ die Bank und ging weiter, er lief beinahe. Er war schon im Begriff, umzukehren und nach Hause zu gehen; aber hiergegen stieg ihm ein furchtbarer Ekel auf: dort, in jenem gräßlichen, schrankartigen Kämmerchen, war schon seit mehr als einem Monat dieser ganze Plan in seinem Gehirne herangereift — und er ging immer geradeaus weiter.

Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand sogar ein Frösteln; bei dieser Hitze fror ihn! Mit großer Anstrengung begann er, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, einem inneren Zwange gehorchend, alle Gegenstände, an denen er vorbeikam, zu betrachten, als suche er sich gewaltsam zu zerstreuen; aber das gelang ihm nur schlecht, und er geriet alle Augenblicke von neuem in seine Grübeleien. Wenn er aber dann wieder zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so hatte er sofort vergessen, woran er eben gedacht hatte, und sogar, wo er ging. Auf diese Weise durchquerte er die ganze Wassilij-Insel, gelangte dann an die Kleine Newa, überschritt die Brücke und wandte sich den Ostrowa, den „Inseln“, zu. Das grüne Laub und die frische Luft taten anfangs seinen müden Augen wohl, die an den Straßenstaub, den Dunst des Kalks und die gewaltigen, beengenden und erdrückenden Häuser gewöhnt waren. Hier gab es keine dumpfe Luft, keinen üblen Geruch, keine Kneipen. Aber bald gingen auch diese angenehmen Empfindungen in krankhafte, aufregende über. Manchmal blieb er vor einer ganz im Grünen liegenden Villa stehen, blickte durch den Zaun und sah von weitem auf den Balkonen und Terrassen elegant gekleidete Frauen und in den Gärten herumlaufende Kinder. Besonders fesselten seine Aufmerksamkeit die Blumen; diese betrachtete er am längsten. Es begegneten ihm auch glänzende Karossen, Reiter und Reiterinnen; er verfolgte sie voll Interesse mit den Blicken, hatte sie aber vergessen, noch ehe sie seinen Augen entschwunden waren. Einmal blieb er stehen und überzählte sein Geld; er hatte noch etwa dreißig Kopeken übrig: ‚Zwanzig dem Schutzmann, drei an Nastasja für den Brief; also habe ich bei Marmeladows gestern siebenundvierzig bis fünfzig Kopeken hingelegt‘, dachte er, indem er zu irgendwelchem Zwecke nachrechnete; aber gleich darauf hatte er schon vergessen, warum er das Geld überhaupt aus der Tasche geholt hatte. Er erinnerte sich wieder daran, als er an einer Garküche vorbeikam, und fühlte, daß er Hunger hatte. Er ging hinein, trank ein Glas Schnaps und ließ sich einen Pirog mit irgendwelchem Füllsel darin geben; zu Ende aß er ihn erst, während er schon wieder weiterging. Er hatte sehr lange keinen Branntwein genossen und so spürte er denn jetzt sofort die Wirkung, wiewohl er nur ein Glas getrunken hatte. Die Beine wurden ihm auf einmal schwer, und er empfand ein starkes Bedürfnis nach Schlaf. Er machte sich auf den Heimweg; aber als er schon bis zur Petrowskij-Insel gekommen war, blieb er vollständig erschöpft stehen, bog vom Wege seitwärts ab, ging in ein Gebüsch, ließ sich auf das Gras sinken und schlief in demselben Augenblicke ein.

Bei krankhaften Zuständen zeichnen sich die Träume oft durch ungemeine Lebhaftigkeit, Klarheit und außerordentliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Der eigentliche Gegenstand des Traumes ist dabei manchmal ganz ungeheuerlich, die näheren Umstände aber und die ganze Art, wie sich der Hergang abspielt, so wahrscheinlich und mit so feinen, überraschenden, aber künstlerisch zu dem Gesamtbilde durchaus passenden Einzelheiten ausgestattet, daß der Träumende im wachen Zustande, und wenn er ein Dichter wie Puschkin oder Turgenjew wäre, sie nicht ersinnen könnte. Solche krankhaften Träume haften immer lange im Gedächtnis und wirken stark auf den gestörten und schon erregten Organismus des Menschen.

Raskolnikow hatte einen furchtbaren Traum. Er träumte von seiner Kindheit, wo er noch in seinem Heimatstädtchen lebte. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater vor der Stadt spazieren. Es ist trübes Wetter, ein schwüler Tag; die Örtlichkeit ist genau dieselbe, wie sie sich in seinem Gedächtnisse erhalten hat; sie ist sogar in seinem Gedächtnisse lange nicht so scharf umrissen, wie sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das Städtchen steht deutlich vor ihm da, zum Greifen nahe; ringsum auch nicht ein Weidenbaum; irgendwo, in sehr weiter Ferne, ganz am Horizonte, sieht man die dunkle Silhouette eines Wäldchens. Einige Schritte von dem letzten zur Stadt gehörigen Gemüsegarten entfernt steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen unangenehmen Eindruck gemacht, ja, ihm sogar Furcht eingeflößt hatte, wenn er mit seinem Vater auf dem Spaziergange daran vorbeigekommen war. Dort war immer ein großer Haufen von Menschen, die so entsetzlich schrien, lachten, schimpften, so unanständig und heiser sangen und sich so oft prügelten; in der Umgebung dieser Kneipe trieben sich immer betrunkene Kerle mit greulichen Gesichtern umher. Wenn sie ihnen begegneten, drückte er sich dicht an den Vater und zitterte am ganzen Leibe. Bei der Schenke führt ein Fahrweg vorbei, die Verbindungsstraße zum nächsten Dorf, die immer staubig ist, und der Staub auf dieser Straße ist immer ganz schwarz. Der Weg zieht sich in mehrfachen Windungen weiter und biegt nach ungefähr dreihundert Schritten rechts um den städtischen Kirchhof herum. Mitten auf dem Kirchhofe steht eine steinerne Kirche mit grüner Kuppel; in diese Kirche ging er ein paarmal im Jahre mit seinem Vater und seiner Mutter zum Hochamt, wenn für seine Großmutter, die schon vor sehr langer Zeit gestorben war, so daß er sie nicht mehr gekannt hatte, die Totenmesse gehalten wurde. Dann nahmen sie jedesmal Kutja auf einer weißen Schüssel, in einer Serviette, mit; die Kutja war aus Reis, mit Zucker und Rosinen, und die Rosinen waren oben in den Reis in Form eines Kreuzes hineingedrückt. Er hatte diese Kirche gern und auch die alten Heiligenbilder darin, die größtenteils keine Einfassung hatten, und auch den alten Geistlichen, der immer so mit dem Kopfe wackelte. Neben dem Grabhügel seiner Großmutter, auf dem ein Leichenstein lag, war auch das kleine Grab seines jüngeren Bruders, der im Alter von sechs Monaten gestorben war; auch diesen hatte er eigentlich nicht gekannt und konnte sich seiner nicht erinnern. Aber es war ihm gesagt worden, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und jedesmal, wenn er den Kirchhof besuchte, bekreuzigte er sich fromm und ehrfürchtig über dem kleinen Grabe, verneigte sich gegen dasselbe und küßte es. Und nun träumt ihm: er geht mit dem Vater auf der Landstraße nach dem Kirchhofe, und sie kommen bei der Schenke vorbei; er hat den Vater an der Hand gefaßt und blickt angstvoll nach der Schenke hin. Ein besonderer Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit: heute scheint hier ein Volksvergnügen stattzufinden; da drängt sich ein dichter Menschenhaufe, aus geputzten Bürger- und Bauersfrauen, ihren Männern und allerlei Gesindel bestehend. Alle sind betrunken, alle singen Lieder, und vor der Tür der Schenke steht ein Wagen, aber ein seltsamer Wagen. Es ist einer jener großen Wagen, vor die man große Lastpferde spannt und auf denen man Waren und Branntweinfässer transportiert. Er hatte immer gern diese riesigen Lastpferde betrachtet, mit den langen Mähnen und den dicken Beinen, wie sie ruhig und gemessen einherschritten und einen ganzen Berg hinter sich herzogen, ohne besondere Anstrengung, ja, als wäre es ihnen mit der beladenen Fuhre leichter zu gehen als ohne diese. Aber jetzt ist wunderlicherweise an einen solchen großen Frachtwagen eine kleine, magere, falbe Bauernkracke gespannt, von der Art, wie sie sich (er hatte das oft gesehen) vielfach mit einer hochgepackten Fuhre Holz oder Heu abquälen, namentlich wenn der Wagen im Schmutze oder in tiefen Geleisen stecken bleibt; und dabei hauen dann die Bauern immer so roh, so roh mit der Peitsche auf sie los, manchmal gerade auf das Maul und in die Augen. Und es hatte ihm immer so leid, so leid getan, das mitanzusehen, daß er beinahe geweint hatte; die Mama hatte ihn dann immer vom Fenster weggeführt. Aber plötzlich erhebt sich ein großer Lärm: aus der Schenke kommen unter Schreien und Singen, mit Balalaiken in den Händen, stierartig betrunkene Bauern heraus, große Kerle in roten und blauen Hemden, die Röcke nur lose übergeworfen.

„Setzt euch rauf, setzt euch alle rauf!“ schreit einer, ein junger Kerl mit dickem Halse und fleischigem, rotem Gesichte. „Ich fahre euch alle, setzt euch nur rauf!“

Gelächter antwortet auf diese Aufforderung, und es wird geschrien:

„So eine Kracke! Die wird uns auch gerade ziehen können!“

„Du bist wohl nicht gescheit, Mikolka? So eine kleine Stute vor so einen Wagen zu spannen!“

„Die kleine Falbe ist gewiß schon ihre zwanzig Jahre alt, Brüder!“

„Setzt euch nur rauf; ich fahre euch alle!“ schreit Mikolka wieder, springt als erster auf den Wagen, faßt die Zügel und stellt sich in seiner ganzen Größe auf das Vorderteil. „Der Braune ist schon lange mit Matwej davon“, schreit er vom Wagen herunter. „Aber diese Stute tut weiter nichts als mich ärgern, Brüder; ich möchte sie am liebsten totschlagen; sie frißt ihr Futter umsonst! Hört ihr wohl: setzt euch rauf! Ich will sie Galopp laufen lassen! Galopp soll sie laufen!“

Er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich mit einer wahren Wonne darauf vor, das Pferd zu schlagen.

„Na, setzt euch doch rauf! Immer zu!“ wird unter Lachen in der Menge gerufen. „Hört ihr wohl? Sie soll Galopp laufen!“

„Die ist wohl schon seit zehn Jahren nicht mehr Galopp gelaufen.“

„Das wird ein schöner Galopp werden!“

„Nur keine Schonung, Brüder! Jeder muß eine Peitsche nehmen; macht euch fertig!“

„Jawohl, jawohl! Die soll's kriegen!“

Alle klettern unter Gelächter und Witzworten auf Mikolkas Wagen. Sechs Mann sind hinaufgestiegen, und es können noch mehr sitzen. Sie nehmen noch ein dickes Weib mit gesunder, roter Gesichtsfarbe mit hinauf. Sie trägt ein rotes baumwollnes Kleid, einen Kopfputz aus Glasperlen, an den Füßen plumpe Schuhe; sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge wird gleichfalls gelacht; und wirklich: warum sollten sie auch nicht lachen? So eine jämmerliche Mähre, und soll eine solche Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen auf dem Wagen nehmen sofort jeder eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. „Hüh!“ ruft dieser, und die Mähre zieht aus Leibeskräften, kann aber nicht einmal im Schritt damit zurechtkommen, geschweige denn im Galopp; sie trippelt nur mit den Beinen herum, ächzt und knickt ein unter den Hieben der drei Peitschen, die hageldicht auf sie niedersausen. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge verdoppelt sich; aber Mikolka wird ärgerlich und peitscht in seiner Wut immer wieder auf die Stute los, als ob er wirklich dächte, sie würde noch galoppieren.

„Laßt mich auch mitmachen, Brüder!“ schreit ein Bursche aus der Menge, der gleichfalls Lust bekommen hat.

„Steig nur rauf! Steigt nur alle rauf!“ ruft Mikolka. „Sie muß alle ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!“

Und er peitscht und peitscht und blickt sich um, womit er sie wohl sonst noch in seiner Raserei schlagen könnte.

„Papa, Papa!“ ruft das Kind seinem Vater zu. „Papa, was tun sie da? Papa, sie schlagen das arme Pferd!“

„Komm weg, komm weg!“ antwortet der Vater. „Es sind Betrunkene; sie treiben Tollheiten, die Narren. Komm weg; sieh nicht hin.“ Und er will ihn wegführen; doch das Kind reißt sich von seiner Hand los und läuft, seiner selbst nicht mächtig, zu dem Pferde. Aber mit dem armen Tiere steht es schon schlecht. Es verliert den Atem, bleibt stehen, zieht wieder an und fällt beinahe hin.

„Peitscht sie tot!“ schreit Mikolka. „Jetzt geht's los! Ich peitsche sie zu Tode!“

„Bist du denn kein Christenmensch, du Satan?" ruft ein alter Mann aus dem Haufen.

„Hat man denn so etwas schon gesehen, daß so eine Kracke so eine Fuhre ziehen soll!“ fügt ein andrer hinzu.

„Du wirst sie noch zu Tode quälen!“ ruft ein Dritter.

„Das geht dich nichts an! Sie ist mein Eigentum. Ich kann mit ihr tun, was ich will. Steigt auch ihr noch rauf! Steigt alle noch rauf! Sie muß noch Galopp laufen!“

Plötzlich bricht ein allgemeines Gelächter los und übertönt alles: die Stute hat die unaufhörlichen Hiebe nicht mehr aushalten können und in ihrer Not angefangen auszuschlagen. Selbst der alte Mann kann sich des Lächelns nicht erwehren; wahrhaftig komisch: so ein jämmerliches Tier, und schlägt noch aus!

Zwei Burschen aus der Menge holen sich jeder eine Peitsche und laufen zu der Stute hin, um sie von den Seiten zu hauen. Jeder haut von seiner Seite.

„Aufs Maul! Haut sie in die Augen, in die Augen!“ schreit Mikolka.

„Ein Lied, Brüder!“ ruft einer auf dem Wagen, und alle, die darauf sind, fallen mit ein. Ein Gassenhauer ertönt; ein Tambourin rasselt; im Refrain wird gepfiffen. Das Weib knackt Nüsse und lacht.

Der Knabe läuft von hinten an das Pferd heran, läuft nach vorn; er sieht, wie es in die Augen geschlagen wird, gerade in die Augen! Er weint; das Herz will ihm brechen; die Tränen laufen ihm über die Wangen. Ein Peitschenhieb streift ihm das Gesicht, er fühlt es nicht; er ringt die Hände, er schreit, er stürzt zu dem grauköpfigen, graubärtigen Manne hin, der den Kopf schüttelt und dieses ganze Treiben mißbilligt. Eine Frau faßt ihn an der Hand und will ihn fortführen; aber er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Das Tier ist schon beinahe mit seiner Kraft zu Ende; aber es beginnt noch einmal auszuschlagen.

„Hol dich der Satan!“ schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche hin, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange, dicke Deichselstange hervor, faßt sie mit beiden Händen am einen Ende und holt mit starker Anstrengung über der Falben aus.

„Er macht sie kaputt!“ schreien die Umstehenden.

„Er schlägt sie tot!“

„Sie ist mein Eigentum!“ schreit Mikolka und läßt mit aller Wucht die Deichselstange niederschmettern. Man hört einen schweren, dumpfen Schlag.

„Haut sie doch mit der Peitsche, haut sie! Was steht ihr!“ rufen Stimmen aus dem Haufen.

Mikolka aber holt zum zweiten Male aus, und ein zweiter Schlag fällt mit aller Wucht auf den Rücken der unglücklichen Mähre. Sie knickt mit dem ganzen Hinterteil ein, springt aber auf und zieht und zieht mit dem Aufgebot der letzten Kräfte nach dieser und jener Seite, um den Wagen in Bewegung zu bringen; aber von allen Seiten schlagen sechs Peitschen auf sie ein, und die Deichselstange erhebt sich von neuem und fällt zum dritten und vierten Male im Takt wuchtig nieder. Mikolka ist ganz rasend, daß er die Stute nicht mit einem Schlage tot bekommt.

„Die ist zählebig!“ rufen die Umstehenden.

„Jetzt wird sie bestimmt gleich fallen, Brüder; dann ist's mit ihr aus!“ ruft aus dem Haufen ein interessierter Zuschauer.

„Du solltest ein Beil nehmen und ihr flink den Garaus machen!“ ruft ein Dritter.

„Ach was, hol dich der Kuckuck! Macht mal Platz da!“ schreit Mikolka grimmig, wirft die Deichselstange von sich, bückt sich noch einmal zum Wagen hinunter und zieht eine eiserne Brechstange hervor. „Vorgesehen!“ ruft er und holt mit aller Kraft nach seinem armen Pferdchen aus. Der Schlag schmettert nieder; die Stute schwankt, sinkt zusammen, macht einen Versuch anzuziehen; aber die Brechstange trifft sie von neuem mit voller Wucht in den Rücken, und das Tier fällt auf die Erde, als wären ihm alle vier Beine mit einem Male abgehauen.

„Nun gebt ihr den Rest!“ schreit Mikolka und springt wie ein Besessener vom Wagen herunter. Einige Burschen, gleichfalls betrunken und mit geröteten Gesichtern, ergreifen, was ihnen in die Hände kommt, Peitschen, Stöcke, die Deichselstange, und laufen zu der verendenden Stute hin. Mikolka stellt sich auf der einen Seite neben das Tier und fängt an, es mit der Brechstange auf den Rücken zu schlagen, wohin er gerade trifft. Die Mähre streckt das Maul vor, holt noch einmal schwer Atem und stirbt.

„Na, nun hast du ihr das Lebenslicht ausgeblasen!“ ruft jemand in dein Haufen.

„Warum wollte sie auch nicht Galopp laufen!“

„Sie ist mein Eigentum!“ schreit Mikolka, die Brechstange in den Händen, mit blutunterlaufenen Augen. Er steht da, als bedauerte er, daß nichts mehr da ist, was er schlagen könnte.

„Aber du bist wirklich ein rechter Unchrist!" rufen jetzt viele Stimmen aus der Menge.

Der arme Knabe ist ganz fassungslos. Laut aufschreiend drängt er sich durch den Schwarm hindurch zu der Falben hin, umfaßt ihren toten, blutigen Kopf und küßt ihn; er küßt sie auf die Augen, auf die Lefzen. Dann springt er plötzlich auf und stürzt in heller Wut, die kleinen Fäuste ballend, auf Mikolka los. In diesem Augenblicke bekommt der Vater, der schon lange hinter ihm her ist, ihn endlich zu fassen und trägt ihn aus dem Gedränge hinaus.

„Komm weg, komm weg!“ sagt er zu ihm. „Wir wollen nach Hause gehen!“

„Papa! Warum haben sie… das arme Pferd… totgeschlagen?" schluchzt er; aber er bekommt keine Luft, und die Worte ringen sich wie einzelne Schreie aus der gepreßten Brust.

„Sie sind betrunken,… sie treiben Unfug,… es geht uns nichts an,… komm weg!“ sagt der Vater. Der Knabe schlingt beide Arme um den Vater; aber die Brust ist ihm so beengt, so furchtbar beengt. Er möchte Luft holen, aufschreien, und — er erwacht.

Er erwachte, ganz in Schweiß gebadet, mit feuchtem Haar, keuchend, und stand angstvoll auf.

„Gott sei Dank“, sagte er, „es war nur ein Traum.“ Er setzte sich unter einen Baum und holte tief Atem. „Aber wie kommt das? Kündigt sich ein hitziges Fieber bei mir an? So ein grauenhafter Traum!“

Am ganzen Körper fühlte er sich wie zerschlagen; trüb und dunkel war es in seiner Seele. Er setzte die Ellbogen auf die Knie und stützte den Kopf in beide Hände. „Mein Gott!“ rief er aus. „Werde ich denn wirklich, wirklich ein Beil nehmen, sie auf den Kopf schlagen, ihr den Schädel zerschmettern,… werde ich in das glitschige, warme Blut treten, das Schloß erbrechen, stehlen und zittern, mich verstecken, ganz mit Blut befleckt,… mit dem Beile… Mein Gott, kann das wirklich geschehen?“

Er zitterte, während er das sagte, wie Espenlaub.

„Aber was ist denn mit dir!“ fuhr er, sich wieder aufrichtend, in tiefem Staunen fort. „Ich habe ja doch gewußt, daß ich es nicht würde ertragen können; also warum habe ich mich denn bis jetzt mit diesem Plane gequält? Erst gestern noch, als ich hinging, um diese Probe anzustellen, erst gestern noch wurde es mir vollständig klar, daß ich es nicht aushalten kann… Was will ich denn nun jetzt noch? Warum zweifle ich denn noch immer? Gestern, als ich die Treppe hinunterging, habe ich ja selbst gesagt, daß es gemein, häßlich, niedrig, ja niedrig ist; der bloße Gedanke hat ja ausgereicht, mir Übelkeit hervorzurufen und mich in Schrecken zu versetzen…

Nein, ich werde es nicht aushalten, ich werde es nicht aushalten! Und wenn auch in all diesen Berechnungen kein einziger zweifelhafter Punkt ist; und wenn auch alles, was ich mir in diesem Monate zurechtgelegt habe, klar wie der Tag und richtig wie das Einmaleins ist. O Gott! Ich werde mich ja doch nicht dazu entschließen! Ich werde es nicht aushalten können, nein!… Warum… warum habe ich nur bis jetzt…“

Er stand auf, blickte erstaunt um sich, wie in Verwunderung darüber, daß er hierhergeraten war, und ging nach der T… brücke. Er war blaß, die Augen brannten ihm, alle seine Glieder waren matt und kraftlos; aber auf einmal hatte er die Empfindung, daß er wieder freier atmen könne. Er fühlte, daß er diese schreckliche Last, die ihn so lange bedrückt hatte, nunmehr abgeworfen habe, und es wurde ihm auf einmal leicht und friedlich ums Herz. ‚O Gott‘ betete er, ‚zeige mir meinen Weg, und ich entsage diesem unseligen Plane!‘

Als er über die Brücke ging, betrachtete er still und ruhig die Newa und die leuchtend rot untergehende Sonne. Trotz seiner Schwäche verspürte er eigentlich keine Müdigkeit. Es war, als ob an seinem Herzen plötzlich ein Geschwür aufgegangen wäre, das sich einen ganzen Monat lang entwickelt hatte. Freiheit! Freiheit! Jetzt war er frei von dieser Bezauberung, dieser Behexung, diesem Taumel, dieser Verlockung!

Sooft er sich später an diese Zeit und an all das erinnerte, was sich mit ihm in diesen Tagen von einer Minute zur ändern, Punkt für Punkt zugetragen hatte, fiel ihm immer ein bestimmter einzelner Umstand auf, so daß er ihn beinahe abergläubisch machte; dieser Umstand war zwar in Wirklichkeit eigentlich nicht besonders ungewöhnlich, erschien ihm aber später stets wie eine Art Vorherbestimmung seines Schicksals.

Nämlich: er konnte es gar nicht begreifen und sich erklären, warum er, statt auf dem kürzesten und geradesten Wege nach Hause zurückzukehren, was bei seiner Schwäche und Erschöpfung das Zweckmäßigste gewesen wäre, über den Heumarkt nach Hause ging, den zu passieren er nicht den geringsten Anlaß hatte. Der Umweg war ja kein großer, aber es war eben doch ein Umweg und völlig überflüssig. Gewiß, es war bei ihm schon wer weiß wie oft vorgekommen, daß er nach Hause zurückkam, ohne sich erinnern zu können, durch welche Straßen er gegangen war. Aber warum — so fragte er sich später immer — warum ereignete sich eine so wichtige, für ihn so entscheidende und zugleich so höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte (über den er gar nicht zu gehen brauchte) gerade jetzt zu dieser Stunde, in diesem Augenblicke seines Lebens, gerade bei einer solchen Stimmung seiner Seele und gerade unter solchen Umständen, die allein es ermöglichten, daß diese Begegnung eine entscheidende, endgültige Einwirkung auf sein ganzes Schicksal ausübte? Als ob sie hier absichtlich auf ihn gewartet hätte!

Es war gegen neun Uhr, als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer, die auf Tischen, in Mulden, in Läden und Buden ihre Waren feilgehalten hatten, schlossen ihre Geschäfte oder nahmen ihren Kram weg und verwahrten ihn und begaben sich, ebenso wie ihre Käufer, nach Hause. Bei den Speisewirtschaften, die sich in den Kellergeschossen und auf den schmutzigen, übelriechenden Höfen der Häuser des Heumarktes befanden, und besonders bei den Schenken drängten sich Haufen von allerlei kleinen Gewerbsleuten und Gesindel. Raskolnikow hatte für diese Gegend sowie für die umliegenden Gassen eine besondere Vorliebe, wenn er so ohne bestimmtes Ziel ausging. Hier erregte seine zerlumpte Kleidung bei keinem Menschen eine naserümpfende Aufmerksamkeit; hier konnte man aussehen, wie man wollte, ohne bei jemand Anstoß zu erregen. Gleich an der Ecke der K…gasse hielten ein Kleinbürger und ein altes Weib, seine Frau, auf zwei Tischen ihre Ware feil: Zwirn, Band, baumwollne Tücher und dergleichen. Sie waren gleichfalls schon im Begriff, sich nach Hause zu begeben, wurden aber durch das Gespräch mit einer herangetretenen Bekannten noch aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder schlechthin, wie sie von allen Leuten genannt wurde, Lisaweta, die jüngere Schwester eben jener alten Aljona Iwanowna, der verwitweten Kollegienregistratorin und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um seine Uhr zu versetzen und eine Probe vorzunehmen … Über diese Lisaweta war er schon lange vollständig unterrichtet, und auch sie kannte ihn einigermaßen. Sie war ein großes, plumpes, schüchternes und bescheidenes Mädchen, fast schwachsinnig, fünfunddreißig Jahre alt; sie lebte bei ihrer Schwester in richtiger Sklaverei, arbeitete für sie Tag und Nacht, zitterte vor ihr und ließ es sich sogar gefallen, daß diese sie schlug. Sie stand überlegend mit einem Bündel in der Hand vor dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die beiden setzten ihr etwas mit besonderem Eifer auseinander. Als Raskolnikow auf einmal Lisaweta erblickte, überkam ihn ein seltsames Gefühl, eine Art tiefen Staunens, obgleich an dieser Begegnung eigentlich nichts Erstaunliches war.

„Sie sollten mit den Leuten selber mal reden und sich danach entscheiden, Lisaweta Iwanowna“, sagte der Händler laut. „Kommen Sie morgen zu uns, so gegen sieben Uhr. Die andern werden auch herkommen.“

„Morgen?“ antwortete Lisaweta gedehnt und zögernd, als ob sie sich nicht entschließen könne.

„Sie haben viel zuviel Angst vor Aljona Iwanowna!“ schwadronierte die Frau des Händlers, ein resolutes Weib. „Wenn man Sie so ansieht — ganz wie ein kleines Kind. Und dabei ist sie nicht einmal Ihre richtige Schwester, sondern nur Ihre Stiefschwester, und was hat sie sich für eine Herrschaft über Sie angemaßt!“

„Ich möchte Ihnen raten“, unterbrach sie der Mann, „sagen Sie Ihrer Schwester diesmal doch nichts davon; sondern kommen Sie zu uns, ohne sie erst zu fragen. Es ist ein vorteilhaftes Geschäft. Nachher wird es Ihre Schwester selbst finden.“

„Dann soll ich also herkommen?“

„Morgen um sieben; und von denen werden auch welche hier sein. Dann können Sie persönlich die Sache ins reine bringen.“

„Tee wollen wir auch machen“, fügte die Frau hinzu.

„Nun gut, ich werde kommen“, erwiderte Lisaweta, immer noch überlegend, und schickte sich langsam an fortzugehen.

Raskolnikow war nun schon an ihnen vorbei und hörte nichts mehr. Er war sachte und unauffällig vorbeigegangen, bemüht, kein Wort von dem Gespräche sich entgehen zu lassen. Sein anfängliches Staunen ging allmählich in Schrecken über, und Kälte lief ihm über den Rücken. Er hatte erfahren, plötzlich und ganz unerwartet erfahren, daß morgen, genau um sieben Uhr abends, Lisaweta, die Schwester der Alten und deren einzige Wohnungsgenossin, nicht zu Hause sein werde und daß also die Alte genau um sieben Uhr abends allein zu Hause war.

Bis zu seiner Wohnung hatte er nur noch wenige Schritte zu gehen. Er kam nach Hause wie ein zum Tode Verurteilter. Er überlegte nichts und war auch völlig außerstande, etwas zu überlegen; aber in seinem ganzen innersten Wesen fühlte er plötzlich, daß er jetzt keine Freiheit der Überlegung, keinen eigenen Willen mehr besitze und daß auf einmal alles endgültig entschieden sei.

Gewiß: wenn er auch jahrelang auf einen günstigen Zufall hätte warten wollen, so wäre doch nicht mit Sicherheit auf eine bessere Chance für das Gelingen seines Planes zu rechnen gewesen, als diese war, die sich ihm soeben auf einmal darbot. Jedenfalls würde es schwer sein, einen Tag vorher zuverlässig, mit größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliche Befragungen und Nachforschungen, in Erfahrung zu bringen, daß am andern Tage um soundso viel Uhr das und das alte Weib, auf das man einen Anschlag plant, mutterseelenallein zu Hause sein wird.