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Drittes Kapitel

Fremde Sünden

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Es verging ungefähr eine Woche, und der Schwebezustand der Sache wurde peinlich.

Ich bemerke in Parenthese, daß ich in dieser unglücklichen Woche viel auszustehen hatte, da ich in meiner Eigenschaft als nächster Vertrauter fast ununterbrochen bei meinem armen verlobten Freunde blieb. Was ihn quälte, war besonders das Gefühl der Scham, obwohl wir in dieser Woche keinen Menschen zu sehen bekamen und immer allein saßen; aber er schämte sich sogar vor mir, und das ging so weit, daß er, je mehr er sich vor mir decouvrierte, um so mehr deswegen auf mich ärgerlich wurde. Bei seiner Neigung zum Argwohn bildete er sich ein, daß schon alles allen, der ganzen Stadt bekannt sei, und fürchtete sich davor, im Klub, ja selbst in seinem Verein zu erscheinen. Auch Spaziergänge zum Zwecke der notwendigen Bewegung unternahm er nur, wenn es schon vollständig dunkel geworden war.

Eine Woche war vergangen, und er wußte immer noch nicht, ob er Bräutigam war oder nicht, und vermochte das auf keine Weise trotz all seiner Bemühungen mit Sicherheit zu erfahren. Mit der Braut war er noch nicht zusammengekommen; er wußte nicht einmal, ob sie seine Braut sei; er wußte nicht einmal, ob an der ganzen Sache überhaupt etwas Ernsthaftes war. Aus unbekanntem Grunde lehnte Warwara Petrowna es entschieden ab, ihn zu empfangen. Auf einen seiner ersten Briefe (er hatte deren eine ganze Menge an sie geschrieben) antwortete sie ihm geradezu mit der Bitte, sie für einige Zeit von jedem Verkehr mit ihm zu dispensieren, weil sie sehr beschäftigt sei; sie habe ihm auch ihrerseits viele, sehr wichtige Mitteilungen zu machen, warte aber damit absichtlich auf eine minder besetzte Zeit, als es die jetzige sei, und werde es ihn selbst seinerzeit wissen lassen, wann er wieder zu ihr kommen könne. Weitere Briefe aber werde sie ihm uneröffnet zurückschicken; denn das sei doch nur Torheit. Diese Zuschrift habe ich mit eigenen Augen gelesen; er hat sie mir selbst gezeigt.

Aber der Verdruß darüber, daß Warwara Petrowna ihn so grob behandelte und in Ungewißheit ließ, war nichts im Vergleiche mit seiner Hauptsorge. Diese Sorge quälte ihn außerordentlich und ohne Aufhören; sie bewirkte, daß er abmagerte und kleinmütig wurde. Es handelte sich dabei um etwas, worüber er sich am allermeisten schämte, und worüber er nicht einmal mit mir reden wollte; vielmehr log er, wenn das Gespräch darauf kam, und machte vor mir Ausflüchte wie ein kleiner Knabe; trotzdem aber ließ er mich selbst alle Tage zu sich rufen; er konnte es nicht zwei Stunden ohne mich aushalten; er hatte mich nötig, wie man Wasser oder Luft nötig hat.

Ein solches Benehmen beleidigte mein Ehrgefühl einigermaßen. Es versteht sich von selbst, daß ich dieses sein Hauptgeheimnis schon längst im stillen erraten hatte und völlig durchschaute. Nach meiner tiefsten damaligen Überzeugung hätte die Enthüllung dieses Geheimnisses, dieser Hauptsorge Stepan Trofimowitschs, ihm keine Ehre gemacht, und daher war ich, als ein noch junger Mensch, über die Niedrigkeit seiner Gedanken und die Häßlichkeit gewisser argwöhnischer Vermutungen, die er hegte, etwas entrüstet. In meiner Hitze (und ich muß bekennen, weil es mir langweilig wurde, sein Vertrauter zu sein) beschuldigte ich ihn vielleicht zu hart. In meiner Grausamkeit zwang ich ihn, mir alles zu bekennen, obwohl ich mir sagte, daß manches davon zu bekennen allerdings recht peinlich sei. Er durchschaute mich seinerseits völlig, das heißt, er sah klar, daß ich ihn durchschaute und auf ihn ärgerlich war, und er war selbst auf mich ärgerlich, weil ich auf ihn ärgerlich war und ihn durchschaute. Vielleicht war meine Gereiztheit kleinlich und dumm; aber es schadet manchmal der wahren Freundschaft sehr, wenn zwei Freunde zu lange miteinander allein zusammen sind. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus faßte er einige Seiten seiner Lage richtig auf und definierte sogar seine Lage sehr genau in denjenigen Punkten, bei denen er nicht für nötig fand, sich zu verstecken.

„Oh, was war sie damals für eine Frau!“ sagte er manchmal zu mir mit Bezug auf Warwara Petrowna. „Was war sie früher für eine Frau, wenn ich mich mit ihr unterhielt! Wissen Sie wohl, daß sie damals noch zu reden verstand? Können Sie es glauben, daß sie damals noch Gedanken hatte, eigene Gedanken? Jetzt hat sich alles verändert! Sie sagt, das sei alles nur altmodisches Gerede! Sie verachtet das Frühere … Jetzt hat sie so etwas Subalternes, Plebejisches, Erbittertes; immer ist sie aufgebracht …“

„Warum ist sie denn jetzt aufgebracht, obwohl Sie doch ihr Verlangen erfüllt haben?“ erwiderte ich ihm.

Er sah mich mit einem feinen Lächeln an.

„Cher ami, wenn ich nicht eingewilligt hätte, wäre sie furchtbar zornig geworden, ganz furcht-bar! Aber doch weniger als jetzt, wo ich eingewilligt habe.“

Dieser sein pointierter Ausspruch gefiel ihm sehr gut, und wir tranken an diesem Abend ein Fläschchen. Aber das dauerte nur einen Augenblick; am andern Tage war er verdrießlicher und mürrischer als je zuvor.

Aber am meisten ärgerte ich mich über ihn deswegen, weil er sich gar nicht entschließen konnte, zu den nunmehr eingetroffenen Drosdows zu gehen und ihnen zur Erneuerung der Bekanntschaft den notwendigen Besuch zu machen, was sie dem Vernehmen nach selbst wünschten, da sie, wie es hieß, nach ihm gefragt hatten; und auch er sehnte sich alle Tage zu ihnen hin. Von Lisaweta Nikolajewna redete er mit einem mir unbegreiflichen Entzücken. Ohne Zweifel hatte er sie in der Erinnerung, wie sie einst als Kind gewesen war, wo er sie außerordentlich gern gehabt hatte; aber außerdem hatte er eigentümlicherweise die Vorstellung, daß er beim Zusammensein mit ihr sogleich eine Erleichterung all seiner jetzigen Qualen verspüren und sogar über seine wichtigsten Zweifel ins klare kommen werde. Er erwartete in Lisaweta Nikolajewna ein ganz ungewöhnliches Wesen vorzufinden. Und doch ging er nicht zu ihr hin, wiewohl er es sich täglich vornahm. Die Hauptsache war, daß ich damals selbst den lebhaften Wunsch hatte, ihr vorgestellt zu werden, wobei ich einzig und allein auf Stepan Trofimowitsch angewiesen war. Großen Eindruck machten auf mich damals meine häufigen Begegnungen mit ihr, natürlich nur auf der Straße, wenn sie auf einem schönen Pferde in Begleitung ihres sogenannten Verwandten, des hübschen Offiziers, des Neffen des verstorbenen Generals Drosdow, spazieren ritt. Meine Verblendung dauerte nur ganz kurze Zeit, und ich erkannte dann sehr bald selbst die ganze Aussichtslosigkeit meiner Schwärmerei; aber wenn sie auch nur kurze Zeit dauerte, so war sie doch tatsächlich vorhanden, und daher kann man sich denken, wie empört ich damals manchmal über meinen armen Freund wegen seines eigensinnigen Einsiedlerlebens war.

Alle Mitglieder unseres Vereins waren gleich zu Anfang offiziell benachrichtigt worden, daß Stepan Trofimowitsch eine Zeitlang niemanden empfangen werde und bitte, ihn vollständig in Ruhe zu lassen. Er hatte auf einer Mitteilung an jeden einzelnen bestanden, obwohl ich ihm davon abgeraten hatte. Auf seine Bitte ging ich bei allen herum und sagte ihnen, Warwara Petrowna habe unserm „Alten“ (so nannten wir alle Stepan Trofimowitsch unter uns) eine besondere Arbeit aufgetragen, nämlich eine mehrjährige Korrespondenz in Ordnung zu bringen; er habe sich eingeschlossen, und ich sei ihm dabei behilflich usw. usw. Nur zu Liputin war ich noch nicht gegangen und schob dies immer auf; richtiger gesagt, ich fürchtete mich davor, zu ihm hinzugehen. Ich wußte vorher, daß er mir kein Wort glauben, sondern unfehlbar denken werde, es stecke da ein Geheimnis dahinter, das man gerade vor ihm allein verbergen wolle, und daß er, sowie ich von ihm weggegangen sein würde, sogleich durch die ganze Stadt laufen werde, um sich zu erkundigen und es weiterzuklatschen. Während ich all das bei mir bedachte, traf es sich, daß ich mit ihm zufällig auf der Straße zusammenstieß. Es erwies sich, daß er von unseren Leuten, die durch mich soeben benachrichtigt waren, bereits alles erfahren hatte. Aber merkwürdig: er zeigte gar keine Neugier und erkundigte sich nicht weiter nach Stepan Trofimowitsch, sondern unterbrach mich sogar im Gegenteil, als ich mich entschuldigen wollte, daß ich nicht früher zu ihm gekommen wäre, und sprang sogleich auf ein anderes Thema über. Allerdings hatte sich bei ihm auch viel Gesprächsstoff angesammelt; er befand sich in sehr angeregter Stimmung und freute sich darüber, daß er an mir einen Zuhörer gefunden hatte. Er begann über die Stadtneuigkeiten zu reden, über die Ankunft der Frau Gouverneur, welche „neue Gesprächsthemata“ mitgebracht habe, über die Opposition, die sich bereits im Klub bilde, über das Geschrei, das alle von den neuen Ideen machten, und wie dies den einzelnen stehe usw. usw. Er sprach in dieser Art etwa eine Viertelstunde, und so amüsant, daß ich mich nicht losreißen konnte. Obgleich ich ihn nicht leiden konnte, so muß ich doch bekennen, daß er die Gabe besaß, einen Zuhörer zu fesseln, besonders wenn er über etwas sehr aufgebracht war. Dieser Mensch war meiner Ansicht nach der richtige, geborene Spion. Er wußte in jedem Augenblicke die sämtlichen letzten Neuigkeiten und alle Geheimnisse unserer Stadt, namentlich die von skandalösem Genre, und man mußte sich darüber wundern, wie sehr er sich für Dinge interessierte, die ihn manchmal gar nichts angingen. Ich hatte von ihm immer den Eindruck, daß der Hauptzug seines Charakters der Neid sei. Als ich am Abend desselben Tages Stepan Trofimowitsch erzählte, daß ich am Morgen Liputin getroffen hätte, und was wir miteinander gesprochen hätten, da geriet dieser zu meinem Erstaunen in große Aufregung und fragte mich ganz wild: „Weiß Liputin es oder nicht?“ Ich setzte ihm auseinander, daß es für jenen ein Ding der Unmöglichkeit sei, die Sache so schnell in Erfahrung zu bringen; von wem solle er auch etwas gehört haben; aber Stepan Trofimowitsch verblieb bei seiner Ansicht:

„Mögen Sie es nun glauben oder nicht,“ schloß er unerwartet, „aber ich bin überzeugt, daß ihm nicht nur alles mit allen Einzelheiten über unsere“ (so!) „Lage bereits bekannt ist, sondern daß er auch außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie bisher wissen, und was wir vielleicht niemals erfahren werden oder erst erfahren werden, wenn es schon zu spät ist und keine Umkehr mehr möglich ist! …“

Ich schwieg; aber diese Worte enthielten doch viele Andeutungen. Nach diesem Gespräche taten wir ganze fünf Tage lang Liputins mit keinem Worte Erwähnung; es war mir klar, daß Stepan Trofimowitsch es sehr bedauerte, mir gegenüber einen solchen Verdacht geäußert und sich verplappert zu haben.