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Fünftes Kapitel

Die kluge Schlange

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Warwara Petrowna zog an der Klingelschnur und warf sich in einen Lehnstuhl am Fenster.

„Setzen Sie sich dorthin, liebes Kind!“ sagte sie zu Marja Timofejewna, indem sie ihr einen Platz in der Mitte des Zimmers an dem großen runden Tische anwies. „Stepan Trofimowitsch, was hat das zu bedeuten? Da, da, sehen Sie dieses Mädchen an; was hat das zu bedeuten?“

„Ich … ich …“ stammelte Stepan Trofimowitsch.

Aber ein Diener trat ein.

„Eine Tasse Kaffee, sofort, so schnell wie irgend möglich! Die Pferde sollen nicht ausgespannt werden!“

„Mais, chère et exccllente amie, dans quelle inquiétude! …“ rief Stepan Trofimowitsch mit matter Stimme.

„Ach, französisch, französisch! Da sieht man gleich, daß man in vornehmer Gesellschaft ist!“ rief Marja Timofejewna, vor Vergnügen in die Hände klatschend, und schickte sich ganz begeistert an, das französische Gespräch mit anzuhören.

Warwara Petrowna starrte beinah ängstlich nach ihr hin.

Wir schwiegen sämtlich und warteten auf eine Auflösung des Rätsels. Schatow hob den Kopf nicht in die Höhe, und Stepan Trofimowitsch sah so bestürzt aus, als ob er an allem schuld wäre; der Schweiß trat ihm an den Schläfen heraus. Ich sah nach Lisa hin; sie saß in einer Ecke, ziemlich nahe bei Schatow. Ihre Augen wanderten mit scharfem Blicke von Warwara Petrowna zu dem lahmen Mädchen und wieder zurück; ihre Lippen verzogen sich zu einem unangenehmen Lächeln. Warwara Petrowna sah dieses Lächeln. Inzwischen schwamm Marja Timofejewna in Wonne; mit Entzücken und ohne die geringste Verlegenheit betrachtete sie Warwara Petrownas schönen Salon: die Möbel, die Teppiche, die Bilder an den Wanden, die altertümliche gemalte Decke, das große bronzene Kruzifix in der Ecke, die Porzellanlampe, die Albums, die Nippsachen auf dem Tische.

„Also du bist auch hier, lieber Schatow!“ rief sie auf einmal. „Kannst du dir das vorstellen: ich sehe dich schon lange an und denke bei mir: er ist es nicht; wie soll er hierherkommen?“

Und sie lachte fröhlich auf.

„Sie kennen dieses Mädchen?“ wandle sich Warwara Petrowna sogleich an ihn.

„Ja, ich kenne sie,“ murmelte Schatow; er rührte sich auf seinem Stuhle, blieb aber sitzen.

„Was wissen Sie denn von ihr? Bitte, schnell!“

„Was soll ich von ihr wissen?“ erwiderte er mit einem unmotivierten Lächeln und stockte dann. „Sie sehen ja selbst …“

„Was sehe ich? So reden Sie doch etwas!“

„Sie wohnt in demselben Hause wie ich … mit ihrem Bruder … er ist Offizier.“

„Nun?“

Schatow stockte wieder.

„Es lohnt nicht, davon zu reden …“ brummte er und verstummte nun endgültig. Er errötete sogar vor Entschlossenheit.

„Natürlich, von Ihnen kann man nichts anderes erwarten!“ rief Warwara Petrowna unwillig.

Es war ihr jetzt klar, daß alle etwas wußten, dabei aber sämtlich etwas fürchteten, ihren Fragen auswichen und ihr etwas verheimlichen wollten.

Der Diener trat ein und präsentierte auf einem kleinen silbernen Teller die so dringlich verlangte Tasse Kaffee; aber auf ihren Wink ging er damit sogleich zu Marja Timofejewna.

„Sie haben vorhin sehr gefroren, liebes Kind; trinken Sie recht schnell, und erwärmen Sie sich!“

„ Merci!“ sagte Marja Timofejewna, indem sie die Tasse hinnahm.

Plötzlich aber brach sie in ein Gelächter darüber aus, daß sie zu dem Diener „ merci!“ gesagt hatte. Als sie jedoch Warwara Petrownas drohendem Blicke begegnete, wurde sie ängstlich und stellte die Tasse auf den Tisch.

„Tante, Sie sind doch nicht böse?“ stammelte sie mit einer Art von leichtfertiger Scherzhaftigkeit.

„Wa-a-as?“ rief Warwara Petrowna aufschreckend und richtete sich in ihrem Lehnsessel gerade. „Bin ich denn Ihre Tante? Was wollen Sie damit sagen?“

Marja Timofejewna, die einen solchen Zorn nicht erwartet hatte, begann am ganzen Leibe mit kleinen krampfhaften Zuckungen wie bei einem Anfalle zu zittern und sank gegen die Lehne des Stuhles zurück.

„Ich … ich dachte, so müßte ich sagen,“ flüsterte sie und blickte Warwara Petrowna mit weit geöffneten Augen an. „So hat Lisa Sie doch genannt.“

„Was für eine Lisa?“

„Nun, das Fräulein da,“ antwortete Marja Timofejewna, mit dem Finger hinzeigend.

„Heißt die bei Ihnen auch schon Lisa?“

„Sie haben sie doch vorhin selbst so genannt,“ versetzte Marja Timofejewna etwas mutiger. „Und im Traum habe ich eine ganz ebensolche schöne Dame gesehen,“ fügte sie hinzu und lächelte dabei, anscheinend unwillkürlich.

Warwara Petrowna überlegte und beruhigte sich ein wenig; sie lächelte sogar ganz leise über Marja Timofejewnas letzte Bemerkung. Als diese das Lächeln bemerkte, stand sie auf und hinkte schüchtern zu ihr hin.

„Nehmen Sie; ich habe vergessen, es zurückzugeben; seien Sie nicht böse wegen meiner Unachtsamkeit!“ sagte sie und nahm das schwarze Schaltuch von den Schultern, das ihr Warwara Petrowna vorhin umgelegt hatte.

„Legen Sie es sofort wieder um, und behalten Sie es für immer! Gehen Sie, und setzen Sie sich hin; trinken Sie Ihren Kaffee, und haben Sie nur keine Furcht vor mir, liebes Kind; bitte beruhigen Sie sich! Ich fange an, Sie zu verstehen.“

„Chère amie …“ wagte Stepan Trofimowitsch wieder zu beginnen.

„Ach, Stepan Trofimowitsch, hier kann man auch schon ohne Ihre Bemerkungen die Fassung verlieren; schonen wenigstens Sie mich! … Bitte, ziehen Sie einmal da an dem Klingelzuge, neben Ihnen; er führt zum Mädchenzimmer.“

Es trat ein längeres Stillschweigen ein. Ihr argwöhnischer, gereizter Blick glitt über unser aller Gesichter hin. Agascha, ihre Lieblingszofe, erschien.

„Bring mir das karrierte Tuch, das ich in Genf gekauft habe! Was macht Darja Pawlowna?“

„Das Fräulein befindet sich nicht ganz wohl.“

„Geh hin und bitte sie hierher zu kommen! Sage, ich ließe sie sehr bitten, auch wenn sie nicht wohl sei.“

In diesem Augenblicke wurde aus den anstoßenden Zimmern wieder ungewöhnliches Geräusch von Schritten und Stimmen, ähnlich dem von vorhin, vernehmbar, und plötzlich erschien auf der Schwelle atemlos und aufgeregt Praskowja Iwanowna, auf Mawriki Nikolajewitschs Arm gestützt.

„Ach Herr Gott, ich habe mich nur mit Mühe hergeschleppt; Lisa, du Unsinnige, was tust du deiner Mutter an!“ jammerte sie und brachte in diesem Gejammer nach der Gewohnheit aller schwächlichen, leicht reizbaren Personen alles zum Ausdruck, was sich an Erregung bei ihr angesammelt hatte.

„Liebste Warwara Petrowna, ich komme zu Ihnen, um meine Tochter zu holen!“

Warwara Petrowna warf ihr einen mürrischen Blick zu, erhob sich nur wenig zu ihrer Begrüßung und sagte mit kaum verhehltem Ärger:

„Guten Tag, Praskowja Iwanowna; sei so freundlich und nimm Platz! Das habe ich mir gedacht, daß du kommen würdest.“