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iv

Ich habe schon einiges von dem Äußeren dieses Herrn gesagt: er war ein hochgewachsener, kraushaariger, vierschrötiger Mann, etwa vierzig Jahre alt, mit rotem, etwas schwammigem, aufgedunsenem Gesichte, in welchem die Backen bei jeder Kopfbewegung zitterten, mit kleinen, blutunterlaufenen, manchmal sehr schlau blickenden Augen, mit Schnurrbart und Backenbart und mit einem vorstehenden, fleischigen Kehlkopf von recht häßlichem Aussehen. Aber am meisten überraschte bei ihm der Umstand, daß er jetzt im Frack und mit reiner Wäsche erschien. „Bei manchen Leuten sieht reine Wäsche geradezu unanständig aus,“ hatte Liputin einmal gesagt, als ihm Stepan Trofimowitsch einen scherzhaften Vorwurf wegen seiner Unsauberkeit machte. Der Hauptmann hatte auch schwarze Handschuhe, von denen er den rechten noch nicht angezogen hatte, sondern in der Hand hielt, während der linke, straff anliegend und nicht zugeknöpft, nur zur Hälfte seine dicke linke Tatze bedeckte, in welcher er einen ganz neuen, glänzenden und gewiß zum ersten Male in Gebrauch genommenen Zylinderhut hielt. Es erwies sich also, daß der „Liebesfrack“, von dem er Schatow gestern etwas zugeschrien hatte, tatsächlich existierte. Alles dies, das heißt der Frack und die Wäsche, war, wie ich nachher erfuhr, auf Liputins Rat für irgendwelche geheimen Zwecke angeschafft worden. Und wenn er jetzt hierher gefahren war (in einer Droschke!), so war auch dies zweifellos nach fremder Anweisung und mit jemandes Beihilfe geschehen; allein würde er es in Zeit von etwa dreiviertel Stunden nicht fertig gebracht haben, auf diesen Einfall zu kommen, sich zu entschließen, sich anzukleiden und fertigzumachen, angenommen sogar, daß die Szene in der Vorhalle des Domes sogleich zu seiner Kenntnis gelangt wäre. Er war nicht betrunken, befand sich aber in dem peinlichen, benommenen, dumpfen Zustande eines Menschen, der nach mehrtägiger Betrunkenheit auf einmal zur Besinnung kommt. Ich glaube, man hatte ihn nur ein paarmal mit der Hand an der Schulter hin und her zu biegen gebraucht, und er wäre sofort wieder betrunken gewesen.

Er wollte schnell und forsch in den Salon eintreten, stolperte aber an der Tür über den Teppich. Marja Timofejewna lachte sich darüber beinah tot. Er sah sie mit einem wilden Blicke an und machte plötzlich einige schnelle Schritte auf Warwara Petrowna zu.

„Ich bin gekommen, gnädige Frau …“ begann er trompetenhaft loszuschmettern.

„Tun Sie mir den Gefallen, mein Herr,“ sagte Warwara Petrowna, sich gerade aufrichtend, „und nehmen Sie dort Platz, auf jenem Stuhle! Ich kann Sie auch von dort aus hören und werde Sie von hier aus besser ansehen können.“

Der Hauptmann blieb stehen und starrte stumpfsinnig vor sich hin, drehte sich aber dann doch um und setzte sich auf den angewiesenen Platz, dicht an der Tür. Ein starkes Mißtrauen gegen sich selbst, zugleich damit aber auch Frechheit und eine ständige Reizbarkeit kamen auf seinem Gesichte zum Ausdruck. Er hatte schreckliche Angst, das war augenscheinlich; aber auch sein Selbstgefühl hatte schwer zu leiden, und man mußte darauf gefaßt sein, daß er aus verletztem Selbstgefühl trotz seiner Angst sich bei Gelegenheit zu irgendwelcher Frechheit entschließen werde. Augenscheinlich machte ihm jede Bewegung seines ungeschlachten Körpers Sorge. Bekanntlich sind bei all solchen Herren, wenn dieselben durch einen wunderlichen Zufall in gute Gesellschaft hineingeraten, das Hauptunglück ihre eigenen Hände und das dauernde Bewußtsein, daß sie sie nicht anständig unterzubringen wissen. Der Hauptmann saß starr auf seinem Stuhle, mit seinem Hute und den Handschuhen in der Hand, und wandte seinen gedankenlosen Blick nicht von Warwara Petrownas ernstem Gesichte ab. Er hätte vielleicht gern aufmerksamer um sich gesehen, wagte das aber vorläufig noch nicht. Marja Timofejewna, die seine Figur wahrscheinlich wieder furchtbar lächerlich fand, kicherte von neuem los; aber er rührte sich nicht. Warwara Petrowna ließ ihn lange, eine ganze Minute lang, ohne Erbarmen in dieser Positur verbleiben, indem sie ihn schonungslos musterte.

„Erlauben Sie mir zunächst, Sie selbst nach Ihrem Namen zu fragen,“ sagte sie dann in gemessenem, nachdrücklichem Tone.

„Hauptmann Lebjadkin,“ donnerte der Hauptmann. „Ich bin gekommen, gnädige Frau …“ er wollte sich wieder von seinem Platze rühren.

„Erlauben Sie!“ unterbrach ihn Warwara Petrowna und hielt ihn durch eine Handbewegung zurück. „Ist diese bemitleidenswerte Person, die in so hohem Grade meine Teilnahme erweckt hat, wirklich Ihre Schwester?“

„Jawohl, sie ist meine Schwester, gnädige Frau; sie ist der Aufsicht entronnen; denn sie befindet sich in einem solchen Zustande …“

Er stockte plötzlich und wurde dunkelrot.

„Fassen Sie das nicht falsch auf, gnädige Frau,“ fuhr er dann in schrecklicher Verwirrung fort; „der leibliche Bruder wird nichts Beschimpfendes sagen … in einem solchen Zustande, das bedeutet nicht in einem solchen Zustande … in einem den Ruf befleckenden Sinne … in der letzten Zeit …“

Er brach plötzlich ab.

„Mein Herr!“ Warwara Petrowna hob den Kopf in die Höhe.

„Sehen Sie: in einem solchen Zustande!“ schloß er plötzlich, indem er sich mit dem Finger mitten auf die Stirn tippte.

Es trat für eine Weile Stillschweigen ein.

„Leidet sie daran schon lange?“ fragte Warwara Petrowna langsam.

„Gnädige Frau, ich bin gekommen, um Ihnen für die Großmut, die Sie ihr in der Vorhalle des Domes erwiesen haben, auf echt russische Art brüderlich zu danken …“

„Brüderlich?“

„Das heißt, nicht brüderlich, sondern nur in dem Sinne, daß ich der Bruder meiner Schwester bin, gnädige Frau, und seien Sie überzeugt, gnädige Frau,“ fuhr er, die Anrede häufig wiederholend, fort und wurde wieder dunkelrot, „daß ich nicht so ungebildet bin, wie ich in Ihrem Salon auf den ersten Blick vielleicht erscheine. Ich und meine Schwester sind ein Nichts, gnädige Frau, im Vergleiche zu der Pracht, die wir hier wahrnehmen. Außerdem haben wir Feinde, die uns verleumden. Aber auf seinen Ruf ist Lebjadkin stolz, gnädige Frau, und … und … ich bin gekommen, um zu danken … Hier ist das Geld, gnädige Frau!“

Er zog eine Brieftasche hervor, entnahm ihr ein Päckchen Banknoten und begann unter ihnen mit zitternden Fingern in einem wütenden Anfall von Ungeduld zu suchen. Offenbar wollte er noch möglichst schnell etwas zur Erklärung sagen, und das war ja auch sehr notwendig; aber da er wahrscheinlich selbst merkte, daß das Herumkramen in dem Gelde ihm ein noch dümmeres Ansehen gab, so verlor er den letzten Rest von Selbstbeherrschung; das Geld wollte sich absolut nicht zusammenzählen lassen; seine Finger hinderten sich gegenseitig, und um die Blamage voll zu machen, glitt ein grüner Schein aus der Brieftasche heraus und flatterte im Zickzack auf den Teppich.

„Zwanzig Rubel, gnädige Frau,“ sagte er und sprang mit einigen Banknoten in der Hand auf; sein Gesicht war von der ausgestandenen Qual mit Schweiß bedeckt; als er auf dem Fußboden die hingefallene Banknote bemerkte, wollte er sich schon bücken, um sie aufzuheben, schämte sich aber aus irgendwelchem Grunde und machte eine verzichtende Handbewegung.

„Für Ihre Leute, gnädige Frau, für den Bedienten, der es aufheben wird; mag er sich an Lebjadkin erinnern!“

„Das kann ich unter keinen Umständen zulassen,“ versetzte Warwara Petrowna eilig und ein wenig ängstlich.

„Nun dann …“

Er bückte sich, hob den Schein auf, wurde dunkelrot, trat plötzlich auf Warwara Petrowna zu und hielt ihr das abgezählte Geld hin.

„Was ist das?“ fragte sie; sie war jetzt ganz erschrocken und bog sich sogar in ihrem Lehnstuhl zurück.

Mawriki Nikolajewitsch, ich und Stepan Trofimowitsch taten jeder ein paar Schritte vorwärts.

„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich; ich bin nicht verrückt; ich bin wahrhaftig nicht verrückt,“ versicherte der Hauptmann in großer Aufregung nach allen Seiten hin.

„Doch, mein Herr; Sie haben den Verstand verloren.“

„Gnädige Frau, das verhält sich alles anders, als Sie meinen! Ich bin freilich nur ein unbedeutendes Glied in der Kette … Oh, gnädige Frau, Ihre Prunkgemächer sind reich, und armselig ist die Wohnung meiner Schwester Marja Namenlos, geborenen Lebjadkina; aber wir nennen sie vorläufig Marja Namenlos, vorläufig, gnädige Frau, nur vorläufig; denn für die Dauer wird das Gott selbst nicht zulassen! Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Rubel gegeben, und sie hat sie angenommen, aber nur weil sie von Ihnen kamen, gnädige Frau! Hören Sie, gnädige Frau! Von keinem andern in der Welt nimmt diese Marja Namenlos etwas an; sonst müßte sich ja ihr Großvater, der Stabsoffizier, der im Kaukasus vor Jermolows eigenen Augen fiel, im Grabe umdrehen; aber von Ihnen, gnädige Frau, von Ihnen nimmt sie alles an. Aber mit der einen Hand nimmt sie an, und mit der andern reicht sie Ihnen hier zwanzig Rubel, in Gestalt einer Spende für eines der hauptstädtischen Wohltätigkeitskomitees, deren Mitglied Sie, gnädige Frau, sind … wie Sie ja selbst, gnädige Frau, in den ‚Moskauer Nachrichten‘ angezeigt haben, daß bei Ihnen hier in unserer Stadt das Gabenbuch einer wohltätigen Gesellschaft ausliegt, in das sich jeder eintragen kann …“

Der Hauptmann brach plötzlich ab; er atmete mühsam, wie nach einer schweren Heldentat. Alles, was er über das Wohltätigkeitskomitee gesagt hatte, war wahrscheinlich vorher zurechtgelegt, vielleicht ebenfalls unter Liputins Redaktion. Er schwitzte jetzt noch ärger; der Schweiß stand ihm in großen Tropfen an den Schläfen. Warwara Petrowna blickte ihn durchdringend an.

„Dieses Buch“, erwiderte sie in strengem Tone, „befindet sich immer unten bei dem Portier meines Hauses; dort können Sie Ihre Gabe eintragen, wenn Sie wollen. Deshalb bitte ich Sie, Ihr Geld jetzt einzustecken und nicht damit in der Luft herumzufuchteln. So ist's schön. Ferner bitte ich Sie, Ihren früheren Platz wieder einzunehmen. So ist's schön. Ich bedauere sehr, mein Herr, daß ich mich in betreff Ihrer Schwester geirrt und ihr eine Unterstützung gegeben habe, während sie so reich ist. Nur eines verstehe ich nicht: warum sie von mir allein etwas annehmen kann, von andern aber um keinen Preis etwas annehmen will. Sie haben darauf einen solchen Nachdruck gelegt, daß ich eine ganz genaue Erklärung zu erhalten wünsche.“

„Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das vielleicht erst im Sarge begraben sein wird!“ antwortete der Hauptmann.

„Warum denn?“ fragte Warwara Petrowna, aber ihr Ton war nicht mehr ganz so fest.

„Gnädige Frau, gnädige Frau! …“

Er schwieg mit finsterer Miene, blickte zu Boden und legte die rechte Hand auf das Herz. Warwara Petrowna wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden.

„Gnädige Frau!“ brüllte er auf einmal los, „erlauben Sie, daß ich Ihnen eine Frage vorlege, nur eine einzige, aber offen, geradezu, in echt russischer Art, von Herzen?“

„Bitte sehr.“

„Haben Sie in Ihrem Leben gelitten, gnädige Frau?“

„Sie wollen einfach sagen, daß Sie selbst von jemandem zu leiden gehabt haben oder noch zu leiden haben?“

„Gnädige Frau, gnädige Frau!“ Er sprang auf einmal wieder auf, wahrscheinlich ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, und schlug sich gegen die Brust. „Hier in diesem Herzen hat sich so viel angesetzt von allem, was darin gesiedet hat, so viel, daß beim Jüngsten Gerichte Gott selbst sich wundern wird, wenn es zutage kommt!“

„Hm! Das ist stark ausgedrückt.“

„Gnädige Frau, ich spreche vielleicht in etwas gereiztem Tone …“

„Seien Sie unbesorgt; ich weiß schon selbst, wann es nötig sein wird, Sie anzuhalten.“

„Darf ich Ihnen noch eine Frage vorlegen, gnädige Frau?“

„Tun Sie das!“

„Kann man einzig und allein an Edelmut des Herzens sterben?“

„Das weiß ich nicht; ich habe mir diese Frage noch nicht vorgelegt.“

„Sie wissen es nicht! Sie haben sich diese Frage noch nicht vorgelegt!“ schrie er mit spöttischem Pathos. „Wenn's so ist, wenn's so ist, dann

‚Schweig still, mein hoffnungsleeres Herz!‘“

Und er schlug sich wütend gegen die Brust.

Er ging schon wieder im Zimmer auf und ab. Eine Eigenheit dieser Leute besteht darin, daß sie völlig außerstande sind, ihre Wünsche in ihrem Innern zurückzuhalten, und vielmehr einen unüberwindlichen Drang verspüren, dieselben sofort nach ihrem Entstehen zu äußern, sogar in ihrer ganzen Häßlichkeit. Wenn ein solcher Herr in eine Gesellschaft hineingerät, in die er nicht hineinpaßt, so benimmt er sich gewöhnlich anfangs schüchtern; aber sobald man ihm die Zügel auch nur ein klein wenig locker läßt, geht er sofort zu Dreistigkeiten über. Der Hauptmann war bereits in Hitze geraten; er ging hin und her, schwenkte die Arme, hörte nicht auf Fragen und redete in sehr schnellem Tempo von sich selbst, so daß die Zunge manchmal nicht mitkonnte und er, ohne den Satz zu Ende zu bringen, auf einen andern übersprang. Allerdings war er nicht ganz nüchtern; auch saß Lisaweta Nikolajewna dabei, nach der er zwar nie hinblickte, deren Gegenwart aber bei ihm anscheinend ein starkes Gefühl des Schwindels hervorrief. Übrigens war das von mir nur eine Vermutung. Es mußte also einen Grund geben, weshalb Warwara Petrowna mit Überwindung ihres Widerwillens sich entschloß, einen solchen Menschen anzuhören. Praskowja Iwanowna zitterte einfach vor Angst; allerdings schien sie nicht ganz zu verstehen, um was es sich handelte. Stepan Trofimowitsch zitterte ebenfalls, aber im Gegensatze zu ihr, weil er immer geneigt war, zuviel zu verstehen. Mawriki Nikolajewitsch stand in der Haltung des gemeinsamen Beschützers da. Lisa war etwas blaß und blickte mit weit geöffneten Augen unverwandt nach dem wilden Hauptmann hin. Schatow saß in seiner früheren Haltung da; aber was das Allerseltsamste war, Marja Timofejewna hatte nicht nur aufgehört zu lachen, sondern war sogar schrecklich traurig geworden. Sie hatte sich mit dem rechten Ellbogen auf den Tisch gestützt und verfolgte mit einem langen, traurigen Blicke ihren schwadronierenden Bruder. Nur Darja Pawlowna schien mir ruhig zu sein.

„Das ist ja lauter törichtes allgemeines Geschwätz!“ rief Warwara Petrowna endlich ärgerlich. „Sie haben noch nicht auf meine Frage ‚warum‘ geantwortet. Ich warte immer noch auf Ihre Antwort und dringe darauf.“

„Ich habe nicht geantwortet ‚warum‘? Sie erwarten eine Antwort auf die Frage ‚warum‘?“ erwiderte der Hauptmann, mit den Augen zwinkernd. „Dieses kleine Wörtchen ‚warum‘ ist seit dem ersten Schöpfungstage durch das ganze Weltall ausgegossen, gnädige Frau, und die ganze Natur schreit ihrem Schöpfer in jedem Augenblicke zu: ‚warum?‘ und erhält schon siebentausend Jahre lang keine Antwort. Soll wirklich nur Hauptmann Lebjadkin darauf antworten? Kann man diese Forderung als gerecht ansehen, gnädige Frau?“

„Das ist lauter Unsinn und keine Antwort, wie sie sich gehört!“ Warwara Petrowna war zornig geworden und hatte die Geduld verloren. „Das ist allgemeines Gerede; zudem erlauben Sie sich allzu hochfahrend zu sprechen, mein Herr, was ich für eine Dreistigkeit halte.“

„Gnädige Frau,“ redete der Hauptmann weiter, wie wenn er nicht gehört hätte, „ich würde vielleicht wünschen Erneste zu heißen, während ich genötigt bin, den plebejischen Namen Ignat zu tragen; warum? wie denken Sie darüber? Ich würde wünschen Fürst de Montbard zu heißen, während ich Lebjadkin heiße, von dem Worte lebed1; warum? Ich bin ein Dichter, gnädige Frau, ein Dichter aus tiefstem Drange der Seele, und könnte tausend Rubel von einem Verleger erhalten, während ich genötigt bin, in einem Spüleimer zu leben; warum, ja warum? Gnädige Frau! Meiner Ansicht nach ist Rußland ein Spiel der Natur, nichts weiter!“

„Sind Sie wirklich nicht imstande, etwas mehr zur Sache Gehörendes zu sagen?“

„Ich kann Ihnen das Gedicht ‚die Schabe‘ deklamieren, gnädige Frau!“

„Wa-a-as?“

„Gnädige Frau, ich bin noch nicht verrückt! Ich werde einmal verrückt werden, gewiß; aber ich bin noch nicht verrückt! Gnädige Frau, ein Freund von mir, ein Mann von edelster Gesinnung, hat eine Krylowsche Fabel mit der Überschrift ‚Die Schabe‘ geschrieben; darf ich sie Ihnen vortragen?“

„Sie wollen mir eine Krylowsche Fabel vortragen?“

„Nein, ich will Ihnen keine Krylowsche Fabel vortragen, sondern eine Fabel von mir, mein eigenes Produkt! Sie können, ohne sich selbst zu nahe zu treten, glauben, gnädige Frau, daß ich nicht dermaßen ungebildet und verkommen bin, um nicht zu wissen, daß Rußland den großen Fabeldichter Krylow besitzt, dem der Kultusminister im Sommergarten ein Denkmal errichtet hat, damit die Kinder drum herumspielen. Sie fragen ‚warum‘, gnädige Frau? Die Antwort steht mit feurigen Lettern auf dem Grunde dieser Fabel geschrieben!“

„Nun, dann tragen Sie Ihre Fabel vor!“

„Eine Schabe, flach und schwärzlich,
Lebte ohne Neid und Haß;
Leider fiel sie (oh, wie schmerzlich!)
In ein volles Fliegenglas.“

„Was soll das heißen: ein Fliegenglas?“ rief Warwara Petrowna.

„Das heißt, wenn im Sommer,“ erklärte der Hauptmann eilig unter gewaltigen Gestikulationen, mit der reizbaren Ungeduld eines Autors, den man verhindert, sein Werk vorzutragen, „wenn im Sommer die Fliegen in ein Glas hineinkriechen, so wird das ein Fliegenglas; das versteht doch jeder Dummkopf; unterbrechen Sie mich nicht; Sie werden schon sehen, Sie werden schon sehen …“ (er fuchtelte mit den Händen in der Luft umher):

„Und bei Zeus erhob Beschwerde
Alsobald der Fliegen Chor,
Daß der Raum verengert werde,
Der kaum ausgereicht zuvor.
Während man sich so beklagte,
Trat Nikifor schnell hinzu,
Er, der edle, hochbetagte …

„Weiter habe ich das Gedicht noch nicht fertig; aber das ist ganz egal, ich werde es Ihnen in Prosa sagen!“ fuhr der Hauptmann fort zu schwatzen. „Nikifor nimmt das Glas und schüttet trotz alles Geschreies die ganze Komödie, Fliegen und Schabe, in den Spüleimer, was er schon längst hätte tun sollen! Aber beachten Sie das wohl, beachten Sie das wohl, gnädige Frau: die Schabe murrt nicht! Das ist die Antwort auf Ihre Frage: ‚warum‘,“ rief er triumphierend. „ Die Schabe murrt nicht! Was aber Nikifor anlangt, so repräsentiert er die Natur,“ fügte er eilig hinzu und ging selbstzufrieden im Zimmer auf und ab.

Warwara Petrowna war wütend.

„Gestatten Sie die Frage: was hat es für eine Bewandtnis mit dem Gelde, das Sie angeblich von Nikolai Wsewolodowitsch erhalten haben, und das Ihnen angeblich nicht vollständig ausgezahlt ist, und wegen dessen Sie eine zu meinem Hause gehörige Person zu beschuldigen gewagt haben?“

„Verleumdung!“ brüllte Lebjadkin und hob schauspielerhaft den rechten Arm in die Höhe.

„Nein, das ist keine Verleumdung.“

„Gnädige Frau, es gibt Umstände, die jemanden zwingen können, lieber Schande der Familie zu ertragen als laut die Wahrheit zu verkünden. Lebjadkin wird nicht mehr sagen, als er darf, gnädige Frau!“

Er war wie ein Geblendeter; er war in Begeisterung; er fühlte seine Wichtigkeit; gewiß schwebte ihm etwas der Art vor. Jetzt verlangte es ihn, zu beleidigen, Schaden anzurichten, seine Macht zu zeigen.

„Bitte, klingeln Sie, Stepan Trofimowitsch!“ bat Warwara Petrowna.

„Lebjadkin ist schlau, gnädige Frau!“ sagte er häßlich lächelnd und mit den Augen zwinkernd; „er ist schlau; aber auch für ihn gibt es ein Hindernis, eine Vorhalle der Leidenschaften! Und diese Vorhalle, das ist die alte Husaren-Feldflasche, die Denis Dawydow besungen hat. Und wenn er sich in dieser Vorhalle befindet, gnädige Frau, dann kommt es vor, daß er einen hochpoetischen Brief absendet, einen ganz prächtigen Brief, den er aber nachher mit den Tränen seines ganzen Lebens wieder zurückkaufen möchte; denn die Empfindung des Schönen wird verletzt. Aber wenn der Vogel einmal ausgeflogen ist, kann man ihn nicht mehr am Schwänze fassen! In dieser Vorhalle also, gnädige Frau, konnte Lebjadkin auch über ein edles Mädchen etwas in Gestalt einer edlen Entrüstung seiner durch Kränkungen aufgewühlten Seele sagen, was dann seine Verleumder ausgenutzt haben. Aber Lebjadkin ist schlau, gnädige Frau! Und vergebens sitzt der böse Wolf lauernd neben ihm und gießt ihm alle Augenblicke ein und wartet auf das schließliche Ergebnis; aber Lebjadkin verplappert sich nicht, und auf dem Boden der Flasche findet sich jedesmal statt der erwarteten Auskunft — Lebjadkins Schlauheit! Aber genug davon, oh, genug davon! Gnädige Frau, Ihre prächtigen Gemächer könnten dem Edelsten aller Sterblichen gehören; aber die Schabe murrt nicht! Achten Sie wohl darauf, achten Sie wohl darauf, daß die Schabe nicht murrt, und erkennen Sie ihre Geistesgröße an!“

In diesem Augenblicke ertönte von unten, aus der Portierloge, die Glocke, und unmittelbar darauf erschien, etwas verspätet nach Stepan Trofimowitschs Klingeln, Alexei Jegorowitsch. Der alte würdige Diener befand sich in ungewöhnlicher Aufregung.

„Nikolai Wsewolodowitsch sind soeben angekommen und kommen hierher,“ sagte er als Antwort auf Warwara Petrownas fragenden Blick.

Ich erinnere mich mit besonderer Deutlichkeit an ihr Aussehen in diesem Augenblicke: zuerst wurde sie blaß; dann fingen ihre Augen auf einmal an zu funkeln. Sie richtete sich in ihrem Lehnstuhl mit der Miene festester Entschlossenheit gerade auf. Aber auch alle übrigen waren überrascht. Nikolai Wsewolodowitschs ganz unerwartete Ankunft, die wir erst etwa in einem Monat erwartet hatten, erschien nicht nur durch ihre Plötzlichkeit seltsam, sondern besonders auch durch ihr verhängnisvolles Zusammentreffen mit der augenblicklichen Situation. Sogar der Hauptmann blieb wie ein Pfahl mitten im Zimmer stehen, sperrte den Mund auf und blickte mit furchtbar dummem Gesichte nach der Tür.

Da ließen sich aus dem anstoßenden Saale, einem langen, großen Raume, Schritte vernehmen, die sich schnell näherten, kleine, außerordentlich rasch aufeinander folgende Schritte; es war, als ob jemand angerollt käme; und plötzlich kam der Ankömmling in den Salon hineingeeilt, — aber es war gar nicht Nikolai Wsewolodowitsch, sondern ein uns allen völlig unbekannter junger Mensch.


  1. Der Schwan. Anmerkung des Übersetzers.