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vii

Er war heiter und ruhig. Vielleicht war ihm soeben etwas sehr Gutes begegnet, das uns noch unbekannt war; jedenfalls schien er mit etwas sehr zufrieden zu sein.

„Verzeihst du mir, Nikolai?“ rief Warwara Petrowna, die sich nicht mehr beherrschen konnte, und erhob sich eilig, um ihm entgegenzugehen.

Aber Nikolai lachte laut auf.

„Na, da haben wir's!“ rief er gutmütig und scherzhaft. „Ich sehe, daß den Herrschaften schon alles bekannt ist. Als ich von hier weggegangen war, dachte ich im Wagen: ‚Hättest doch wenigstens ein Geschichtchen erzählen sollen; wer geht auch so weg?‘ Aber als mir dann einfiel, daß ja Peter Stepanowitsch hiergeblieben war, da verschwand meine Sorge.“

Während er sprach, sah er sich flüchtig ringsum.

„Peter Stepanowitsch hat uns eine alte Petersburger Geschichte aus dem Leben eines wunderlichen Kauzes erzählt,“ sagte Warwara Petrowna in hellem Entzücken, „aus dem Leben eines launenhaften, verdrehten Menschen, der aber immer eine hohe Gesinnung hegt, immer ritterlich und edel denkt …“

„Ritterlich? Wie sind Sie nur auf den Gedanken gekommen?“ unterbrach Nikolai sie lachend. „Übrigens bin ich Peter Stepanowitsch diesmal für seine Eilfertigkeit sehr dankbar“ (hier wechselte er mit ihm einen schnellen Blick). „Sie müssen wissen, Mama, daß Peter Stepanowitsch der allgemeine Friedensstifter ist; das ist nun einmal seine Rolle, seine Krankheit, sein Steckenpferd, und ich empfehle ihn Ihnen in dieser Hinsicht angelegentlich. Ich kann mir denken, worüber er Ihnen hier Bericht erstattet hat. Wenn er erzählt, kommt es immer wie eine Berichterstattung heraus; er hat ein Büro im Kopfe. Beachten Sie, daß er als Realist nicht lügen darf und ihm die Wahrheit wertvoller ist als der Erfolg … ausgenommen natürlich die besonderen Fälle, wo ihm der Erfolg wertvoller ist als die Wahrheit.“ (Während des Redens blickte er fortwährend um sich.) „Sie sehen also klar, Mama, daß Sie mich nicht um Verzeihung zu bitten haben, und daß, wenn hier irgendwo eine Verrücktheit vorliegt, sie jedenfalls vor allen Dingen auf meiner Seite zu suchen ist, und daß ich somit letzten Endes doch verrückt bin, — ich muß doch den Ruf, in dem ich hier früher gestanden habe, aufrechterhalten.“

Dann umarmte er seine Mutter zärtlich.

„Jedenfalls ist jetzt durch Peter Stepanowitschs Erzählung diese Sache erledigt, und wir können also damit aufhören,“ fügte er hinzu; seine Stimme hatte bei diesen Worten einen etwas trockenen, harten Klang.

Warwara Petrowna bemerkte diesen Klang; aber ihr Enthusiasmus verschwand nicht, im Gegenteil.

„Ich hatte dich erst in einem Monat erwartet Nikolai.“

„Ich werde Ihnen natürlich alles erklären, Mama: aber jetzt …“

Er ging zu Praskowja Iwanowna.

Aber diese drehte kaum den Kopf zu ihm hin, trotzdem sie eine halbe Stunde vorher bei seinem ersten Erscheinen wie betäubt gewesen war. Jetzt aber hatte sie wieder neue Sorgen: von dem Augenblicke an, wo der Hauptmann hinausgegangen und in der Tür mit Nikolai Wsewolodowitsch zusammengestoßen war, hatte Lisa auf einmal angefangen zu lachen, zuerst leise und in Absätzen, aber dann hatte ihr Lachen immer mehr zugenommen und war immer lauter und vernehmlicher geworden. Ihr Gesicht war ganz rot. Der Kontrast mit der finsteren Miene, die sie soeben noch gezeigt hatte, war überraschend. Während Nikolai Wsewolodowitsch mit Warwara Petrowna sprach, hatte sie ein paarmal Mawriki Nikolajewitsch zu sich herangewinkt, wie wenn sie ihm etwas zuflüstern wollte; aber sowie er sich zu ihr herabgebeugt hatte, war sie in ein Gelächter ausgebrochen, so daß es aussah, als ob sie über den armen Mawriki Nikolajewitsch selbst lachte. Sie suchte sich übrigens offenbar zu beherrschen und drückte das Taschentuch gegen die Lippen. Nikolai Wsewolodowitsch wandte sich mit dem unschuldigsten, gutmütigsten Gesichte zu ihr und begrüßte sie.

„Bitte, entschuldigen Sie!“ sagte sie hastig. „Sie … Sie haben gewiß auch Mawriki Nikolajewitsch gesehen … Mein Gott, wie unerlaubt groß Sie doch sind, Mawriki Nikolajewitsch!“

Sie lachte von neuem. Mawriki Nikolajewitsch war allerdings nicht klein, aber ganz und gar nicht „unerlaubt groß.“

„Sind Sie … sind Sie schon lange hier?“ murmelte sie; sie beherrschte sich wieder und war sogar verlegen geworden, aber ihre Augen funkelten.

Etwas über zwei Stunden,“ antwortete Nikolai, indem er sie aufmerksam betrachtete. Ich bemerke, daß er sich ungewöhnlich gemessen und höflich benahm, aber, von der Höflichkeit abgesehen, einen ganz gleichmütigen, sogar matten Gesichtsausdruck zeigte.

„Wo werden Sie denn wohnen?“

„Hier.“

Warwara Petrowna richtete ihre Aufmerksamkeit ebenfalls auf Lisa; aber plötzlich machte ein Gedanke, der ihr kam, sie stutzig.

„Wo bist du denn bis jetzt diese ganzen zwei Stunden und mehr gewesen, Nikolai?“ fragte sie herantretend. „Der Zug kommt doch um zehn Uhr an.“

„Ich habe zuerst Peter Stepanowitsch zu Kirillow gebracht. Peter Stepanowitsch hatte ich in Matwejewo“ (drei Stationen von unserer Stadt entfernt) „getroffen, und wir waren dann in demselben Abteil hierher gefahren.“

„Ich hatte vom Morgengrauen an in Matwejewo warten müssen,“ fiel Peter Stepanowitsch ein. „Bei unserm Zuge waren in der Nacht die hintersten Waggons aus den Schienen gesprungen; wir hätten uns dabei die Beine brechen können.“

„Die Beine brechen!“ rief Lisa. „Mama, Mama, und wir beide. Sie und ich, wollten in der vorigen Woche nach Matwejewo fahren; da hätten wir uns auch die Beine brechen können!“

„Um Gotteswillen!“ rief Praskowja Iwanowna und bekreuzte sich.

„Mama, Mama, liebe Mama, erschrecken Sie nicht, wenn ich wirklich einmal beide Beine breche; das kann mir sehr leicht passieren; Sie sagen ja selbst, daß ich alle Tage einen halsbrecherischen Galopp reite. Mawriki Nikolajewitsch, werden Sie mich führen, wenn ich lahm bin?“ Sie lachte wieder. „Wenn das passiert, werde ich mich von niemand als von Ihnen führen lassen; darauf können Sie sich sicher verlassen. Ich nehme an, daß ich nur ein Bein breche … Nun, seien Sie doch liebenswürdig und sagen Sie, daß Sie das für ein Glück halten werden!“

„Was soll das für ein Glück sein, wenn man nur ein Bein hat?“ erwiderte Mawriki Nikolajewitsch ernst mit finsterem Gesichte.

„Dafür werden Sie auch mein Führer sein, Sie allein, sonst niemand!“

„Sie werden auch dann meine Führerin sein, Lisaweta Nikolajewna,“ brummte Mawriki Nikolajewitsch noch ernster.

„O Gott, jetzt hat er einen Witz machen wollen!“ rief Lisa ordentlich erschrocken. „Mawriki Nikolajewitsch, wagen Sie sich nie auf dieses Gebiet! Aber was sind Sie für ein schrecklicher Egoist! Ich bin zu Ihrer Ehre davon überzeugt, daß Sie sich jetzt selbst verleumden; Sie werden mir dann vielmehr vom Morgen bis zum Abend versichern, daß ich ohne das Bein noch interessanter sei! Nur eines ist ein Übelstand, der sich nicht wird beseitigen lassen: Sie sind so schrecklich groß, und ich werde ohne das Bein sehr klein sein; wie werden Sie mich dann am Arm führen? Wir werden nicht richtig zusammenpassen!“

Sie lachte krampfhaft auf. Ihre Scherze und Anspielungen waren geringwertig gewesen; aber es lag ihr augenscheinlich nicht daran, Ehre damit einzulegen.

„Hysterie!“ flüsterte Peter Stepanowitsch mir zu. „Man müßte ihr schnell ein Glas Wasser geben.“

Er hatte recht; einen Augenblick darauf waren alle in eifriger Bewegung und brachten Wasser. Lisa umarmte ihre Mama, küßte sie herzlich und weinte an ihrer Schulter; dann wich sie wieder ein wenig zurück, blickte ihr ins Gesicht und fing an zu lachen. Schließlich schluchzte auch die Mama los. Warwara Petrowna führte beide zu sich in die Wohnstube, und zwar durch dieselbe Tür, durch welche Darja Pawlowna zu uns hereingekommen war. Aber sie blieben dort nicht lange, nur etwa vier Minuten, nicht mehr.

Ich gebe mir Mühe, mich jetzt an jede Einzelheit der letzten Augenblicke dieses denkwürdigen Vormittags zu erinnern. Ich erinnere mich, daß, als wir damals allein geblieben waren, ohne die Damen (nur Darja Pawlowna war noch anwesend, die sich nicht vom Fleck rührte), Nikolai Wsewolodowitsch bei uns allen herumging und jeden begrüßte, mit Ausnahme Schatows, der in seiner Ecke zu sitzen fortfuhr und den Kopf noch tiefer gesenkt hielt als vorher. Stepan Trofimowitsch wollte mit Nikolai Wsewolodowitsch über irgendeinen Gegenstand ein sehr geistreiches Gespräch anfangen; dieser entfernte sich jedoch eilig von ihm, um zu Darja Pawlowna zu gehen. Aber unterwegs faßte ihn Peter Stepanowitsch beinah mit Gewalt und zog ihn ans Fenster, wo er ihm schnell etwas zuzuflüstern anfing; nach seinem Gesichtsausdrucke und den Gestikulationen zu urteilen, mit denen er sein Geflüster begleitete, mußte es sich wohl um etwas sehr Wichtiges handeln. Nikolai Wsewolodowitsch aber hörte nur sehr lässig und zerstreut mit seinem förmlichen Lächeln zu, und gegen das Ende bekundete er sogar Ungeduld, wie wenn er sich losmachen und fortgehen wollte. Er ging vom Fenster gerade in dem Augenblicke weg, als unsere Damen zurückkehrten. Warwara Petrowna drang in Lisa, sich wieder auf ihren früheren Platz zu setzen; sie versicherte, sie müßten unbedingt wenigstens noch zehn Minuten warten und sich erholen; wenn Lisa sofort an die frische Luft käme, so würde das ihren kranken Nerven schwerlich gut tun. Sie war außerordentlich besorgt um Lisa und setzte sich selbst neben sie. Peter Stepanowitsch kam, sobald er frei geworden war, unverzüglich zu ihnen gesprungen und begann schnell und heiter zu plaudern. Und nun ging Nikolai Wsewolodowitsch endlich in seinem ruhigen Gange zu Darja Pawlowna hin; diese geriet bei seiner Annäherung auf ihrem Platze in lebhafte Bewegung und sprang dann in sichtlicher Erregung und das ganze Gesicht von roter Glut übergossen schnell auf.

„Man kann Ihnen wohl Glück wünschen … oder noch nicht?“ fragte er; in seinem Gesichte bildete sich dabei eine besondere Falte.

Dascha antwortete ihm etwas; aber es war schwer zu verstehen.

„Verzeihen Sie meine Indiskretion,“ sagte er mit erhobener Stimme. „Aber Sie wissen ja wohl, daß ich ausdrücklich davon benachrichtigt worden bin. Ist Ihnen das bekannt?“

„Ja, ich weiß, daß Sie ausdrücklich benachrichtigt worden sind.“

„Ich hoffe doch, daß mein Glückwunsch keinen Schaden angerichtet hat,“ meinte er lachend; „und wenn Stepan Trofimowitsch …“

„Wozu wird Ihnen Glück gewünscht, wozu?“ fragte Peter Stepanowitsch, der plötzlich hinzusprang. „Wozu wird Ihnen Glück gewünscht? Ei, gewiß zu dem wichtigsten Ereignis, das es gibt? Ihre Röte bezeugt, daß ich richtig geraten habe. In der Tat, wozu gratuliert man unseren schönen jungen Damen am meisten, und über welche Gratulationen pflegen sie am meisten zu erröten? Nun, nehmen Sie auch von mir, wenn ich richtig geraten habe, den besten Glückwunsch entgegen, und bezahlen Sie Ihre Wette: Sie erinnern sich, Sie haben in der Schweiz gewettet, Sie würden sich nie verheiraten … Ach ja, apropos Schweiz … was mache ich nur! Denken Sie sich: ich bin halb und halb gerade deswegen hergefahren, und nun hätte ich es beinah vergessen: sage mir doch,“ wandte er sich schnell zu Stepan Trofimowitsch um, „wann fährst du denn nach der Schweiz?“

„Ich … nach der Schweiz?“ erwiderte Stepan Trofimowitsch erstaunt und verlegen.

„Wie? Fährst du etwa nicht hin? Aber du verheiratest dich ja ebenfalls … Du hast es mir ja geschrieben!“

„ Pierre!“ rief Stepan Trofimowitsch.

„Ach was, Pierre … Sieh mal, wenn du das gern hörst, so will ich dir sagen: ich bin hierher geflogen, um dir mitzuteilen, daß ich nicht das geringste dagegen habe, da du doch nun einmal durchaus gewünscht hast, meine Meinung so schnell wie möglich zu hören; wenn es aber notwendig ist, dich zu ‚retten‘“ (die Worte rieselten ihm nur so aus dem Munde), „wie du gleichzeitig in demselben Briefe schreibst und inständig bittest, so stehe ich auch darin zu deinen Diensten. Ist es wahr, daß er sich verheiraten wird, Warwara Petrowna?“ wandte er sich schnell an diese. „Ich hoffe, daß ich nicht indiskret bin; er schreibt mir ja selbst, die ganze Stadt wisse es und gratuliere ihm, so daß er, um dem aus dem Wege zu gehen, nur bei Nacht ausgehe. Ich habe den Brief in der Tasche.“ Er zog ihn heraus. „Aber können Sie es glauben, Warwara Petrowna, daß ich in dem Briefe nichts begreife? Sage mir nur das eine, Stepan Trofimowitsch: soll man dir Glück wünschen oder dich ‚retten‘? Sie werden es gar nicht glauben: neben Zeilen voll der höchsten Glückseligkeit stehen bei ihm Zeilen voll der ärgsten Verzweiflung! Zuerst bittet er mich um Verzeihung; nun, das liegt ja allerdings so in seiner Art … Übrigens, ich muß sagen: denken Sie sich, er hat mich im Leben nur zweimal gesehen, und auch da nur zufällig, und jetzt auf einmal, wo er sich zum dritten Male verheiraten will, bildet er sich ein, er verletze dadurch mir gegenüber irgendwelche Vaterpflichten, und bittet mich inständig auf tausend Werst Entfernung, deswegen nicht böse zu sein und es ihm zu erlauben! Bitte, fühle dich nicht beleidigt, Stepan Trofimowitsch; deine Handlungsweise liegt im Charakter deiner Zeit; ich habe einen weiten Blick und verurteile nicht leicht jemanden, und deine Gesinnung macht dir ja auch alle Ehre usw usw. Aber um es noch einmal zu sagen: die Hauptsache ist, daß ich die Hauptsache nicht verstehe. Hier steht etwas von ‚Sünden in der Schweiz‘. ‚Ich heirate‘, schreibt er, ‚wegen gewisser Sünden‘ oder ‚um fremder Sünden willen‘, oder wie es sonst heißt; kurz: ‚Sünden‘ kommen ein paarmal vor. ‚Das Mädchen‘, sagt er, ‚ist eine Perle, ein Diamant‘; na, und natürlich ist er ‚ihrer unwürdig‘ — das ist so sein Stil; aber wegen gewisser dortiger Sünden und Umstände sei er ‚genötigt zu heiraten und nach der Schweiz zu fahren‘; darum ‚laß alles stehn und liegen und eile herbei, um mich zu retten!‘ Verstehen Sie davon etwas? Übrigens … übrigens sehe ich an dem Ausdruck der Gesichter“ (er drehte sich mit dem Briefe in der Hand herum und betrachtete mit unschuldigem Lächeln alle Gesichter), „daß ich nach meiner Gewohnheit wohl wieder irgendeinen Bock geschossen habe, infolge meiner dummen Offenherzigkeit oder, wie Nikolai Wsewolodowitsch es nennt, Übereilung. Aber ich dachte, wir wären hier lauter gute Freunde, das heißt, es wären alles deine guten Freunde, Stepan Trofimowitsch, deine guten Freunde; denn ich bin tatsächlich ein Fremder und sehe … und sehe, daß alle etwas wissen und gerade ich nichts weiß.“

Er fuhr fort, seinen Blick umhergehen zu lassen.

„Hat Ihnen Stepan Trofimowitsch das geschrieben, daß er fremde, in der Schweiz begangene Sünden heirate, und daß Sie hereilen möchten, um ihn zu retten, mit diesen selben Ausdrücken?“ fragte auf einmal Warwara Petrowna, die herangetreten war. Sie sah ganz gelb aus; ihre Gesichtszüge hatten sich verzerrt; ihre Lippen zuckten.

„Daß heißt … sehen Sie … wenn ich da etwas nicht verstanden habe,“ erwiderte Peter Stepanowitsch anscheinend sehr erschrocken und noch hastiger als zuvor, „so ist natürlich er daran schuld, weil er so schreibt. Da ist der Brief. Wissen Sie, Warwara Petrowna, er hat mir endlos lange Briefe geschrieben, und ohne Aufhören, in den letzten zwei, drei Monaten immer Brief auf Brief, und ich muß gestehen, ich habe sie zuletzt manchmal nicht bis zu Ende durchgelesen. Nimm mir mein dummes Bekenntnis nicht übel, Stepan Trofimowitsch; aber du mußt ja selbst zugeben, daß du die Briefe zwar an mich adressiert, aber doch mehr für die Nachwelt geschrieben hast; also kann es dir ja ganz gleich sein, ob ich sie vollständig gelesen habe … Nun, nun, sei nicht böse: du und ich, wir sind ja doch gute Freunde! Aber diesen Brief, Warwara Petrowna, diesen Brief habe ich bis zu Ende gelesen. Diese ‚Sünden‘, diese ‚fremden Sünden‘, das sind gewiß irgendwelche kleinen Sünden, die wir selbst begangen haben, und ich möchte darauf wetten: Sünden allerunschuldigster Art; aber wir haben auf einmal den Einfall gehabt, daraus eine furchtbare Geschichte mit hochedlem Anstrich zu machen; und eben wegen des hochedlen Anstrichs haben wir diesen Einfall auch ausgeführt. Und hier (bitte, sehen Sie!) will bei uns im Rechnungswesen etwas nicht stimmen; das müssen wir schließlich eingestehen. Wissen Sie, wir haben so eine kleine Passion für das Kartenspiel … aber was ich da sage, ist ungehörig, ganz ungehörig; Pardon; ich bin zu schwatzhaft; aber weiß Gott, Warwara Petrowna, er hat mir einen Schreck eingejagt, und ich habe mich wirklich darauf vorbereitet, ihn nach Kräften zu ‚retten‘. Schließlich schäme ich mich auch selbst. Wie? Setze ich ihm denn etwa das Messer an die Kehle? Bin ich denn ein unerbittlicher Gläubiger? Er schreibt hier etwas von einer Mitgift … Übrigens, wirst du dich denn nun wirklich verheiraten, Stepan Trofimowitsch? Die Sache wird ja wohl zustande kommen; wir machen ja hier viel Gerede, aber doch mehr wegen der Ausdrucksweise … Ach, Warwara Petrowna, ich fürchte, daß Sie mir jetzt zürnen, und namentlich wegen dessen, was ich über die Ausdrucksweise gesagt habe …“

„Im Gegenteil, im Gegenteil; ich sehe, daß Sie die Geduld verloren haben; und gewiß haben Sie dazu Ihre Gründe gehabt,“ erwiderte Warwara Petrowna boshaft.

Sie hatte mit boshaftem Genusse das ganze „wahrheitsgemäße“ Wortgeriesel Peter Stepanowitschs angehört, der offenbar eine Rolle spielte (was für eine, das wußte ich damals nicht; aber daß es eine Rolle war, unterlag keinem Zweifel; er spielte sie sogar ziemlich plump).

„Im Gegenteil,“ fuhr sie fort, „ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie gesprochen haben; ohne Sie hätte ich das alles nicht erfahren. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren öffne ich die Augen. Nikolai Wsewolodowitsch, Sie sagten vorhin, auch Sie seien ausdrücklich benachrichtigt worden: hat Stepan Trofimowitsch auch an Sie in demselben Sinne geschrieben?“

„Ich habe von ihm einen sehr unschuldigen und … und … sehr edlen Brief erhalten …“

„Sie sind verlegen, Sie suchen nach Worten … das genügt! Stepan Trofimowitsch, ich erwarte von Ihnen eine außerordentliche Gefälligkeit,“ wandte sie sich plötzlich mit funkelnden Augen an ihn. „Haben Sie die Güte, uns jetzt sofort zu verlassen und in Zukunft nie mehr über die Schwelle meines Hauses zu kommen!“

Ich bitte den Leser, sich an Warwara Petrownas vorherige starke Aufregung zu erinnern, die auch jetzt noch nicht vorüber war. Allerdings war Stepan Trofimowitsch wirklich schuldig! Was mich aber damals am meisten in Erstaunen versetzte, das war die bewundernswerte Würde, mit der er sowohl die „Entlarvung“ durch Peter, ohne ein Wort dazwischen zu werfen, als auch die „Verfluchung“ durch Warwara Petrowna über sich ergehen ließ. Woher nahm er soviel Mut? Ich hatte nur das eine bemerkt, daß er vorher bei der ersten Begegnung mit Peter und namentlich bei der Umarmung sich unzweifelhaft tief beleidigt gefühlt hatte. Das war, wenigstens in seinen Augen, ein tiefes, echtes Herzensleid. Er hatte in diesem Augenblicke auch ein anderes Leid, nämlich das schmerzliche eigene Bewußtsein, daß er eine gemeine Handlung begangen hatte; das hat er mir später selbst mit aller Offenheit gestanden. Nun aber ist ein echtes, unzweifelhaftes Leid imstande, sogar einen phänomenal leichtsinnigen Menschen manchmal gesetzt und standhaft zu machen, wenigstens auf kurze Zeit; ja, durch ein wirkliches, echtes Leid werden sogar Dummköpfe manchmal klug, natürlich ebenfalls nur für eine gewisse Zeit; das ist eben eine eigentümliche Wirkung des Leides. Wenn sich das aber so verhält, was konnte da mit einem solchen Menschen wie Stepan Trofimowitsch vorgehen? Eine vollständige Umwandlung, — allerdings auch nur für eine gewisse Zeit.

Er verbeugte sich würdevoll vor Warwara Petrowna, ohne ein Wort zu sprechen; und in der Tat blieb ihm auch nichts anderes übrig. Er wollte auch schon in dieser Weise ganz weggehen; aber er konnte es doch nicht über sich gewinnen und trat zu Darja Pawlowna heran. Diese schien das geahnt zu haben; denn sie begann sofort ganz erschrocken selbst zu sprechen, als wenn sie sich beeilte, ihm zuvorzukommen.

„Bitte, Stepan Trofimowitsch, um Gottes willen, sagen Sie nichts!“ sagte sie in fieberhafter Hast mit schmerzerfüllter Miene und streckte ihm eilig die Hand hin. „Seien Sie überzeugt, daß ich Sie immer in gleicher Weise hochachten werde … und verehren werde, und … denken Sie von mir ebenfalls gut, Stepan Trofimowitsch; das wird mir sehr, sehr viel wert sein …“

Stepan Trofimowitsch machte ihr eine tiefe, tiefe Verbeugung.

„Tu, was du willst, Darja Pawlowna; du weißt, daß du in dieser ganzen Sache völlige Freiheit hast! So ist es gewesen, so ist es jetzt, und so wird es auch in Zukunft sein,“ sagte Warwara Petrowna mit großem Nachdruck.

„Ach! Nun begreife ich alles!“ rief Peter Stepanowitsch und schlug sich vor die Stirn. „Aber … aber in was für eine Situation bin ich nun dadurch geraten? Darja Pawlowna, bitte, verzeihen Sie mir! … Was hast du mir da angerichtet?“ wandte er sich an seinen Vater.

„ Pierre, du könntest dich mir gegenüber anders ausdrücken; nicht wahr, mein Lieber?“ sagte Stepan Trofimowitsch ganz ruhig.

„Schrei nicht so, ich bitte dich!“ versetzte Peter und bewegte abwehrend beide Hände. „Glaube mir, das kommt alles von deinen alten, kranken Nerven, und Schreien taugt dabei gar nichts. Sage mir lieber (denn du mußtest dir doch Vorhersagen, daß ich gleich von vornherein davon zu reden anfangen würde): warum hast du mich nicht vorher orientiert?“

Stepan Trofimowitsch sah ihn durchdringend an.

„ Pierre, du, der so viel von den hiesigen Vorgängen weiß, du solltest wirklich von dieser Sache nichts gewußt, nichts gehört haben?“

„Wa-a-as? Na, du bist mir schön! Also nicht genug, daß ich ein altes Kind sein soll, ich soll auch noch ein böses Kind sein! Warwara Petrowna, haben Sie gehört, was er gesagt hat?“

Es erhob sich ein großer Lärm; aber da brach plötzlich ein Ereignis herein, das niemand hatte erwarten können.