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Ich erlaube mir, hier einen Augenblick stehen zu bleiben und, wenn auch nur mit ein paar flüchtigen Strichen, diese plötzlich erschienene Person zu skizzieren.

Es war ein junger Mensch von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, ein wenig über Mittelgröße, mit dünnem, blondem, ziemlich langem Haar und spärlichem, kaum bemerkbarem Schnurr- und Kinnbart. Er war sauber und sogar nach der Mode, aber nicht stutzerhaft gekleidet; auf den ersten Blick schien er krumm und unbeholfen zu sein; er war aber ganz und gar nicht krumm und sogar recht gewandt. Er machte den Eindruck eines wunderlichen Gesellen, und doch fanden alle nachher seine Manieren sehr anständig, und was er redete, sehr passend und sachgemäß.

Niemand kann sagen, daß der junge Mensch häßlich wäre; aber doch gefällt sein Gesicht niemandem. Sein Kopf ist hinten verlängert und wie von den Seiten zusammengedrückt, so daß sein Gesicht spitzig erscheint. Seine Stirn ist hoch und schmal, aber die Gesichtszüge fein, die Augen scharf, das Näschen klein und spitz, die Lippen lang und dünn. Sein Gesichtsausdruck hat etwas Krankhaftes; aber das scheint nur so. Eine magere Falte zieht sich über die Backen und neben den Backenknochen hin, was ihm das Aussehen eines Rekonvaleszenten nach einer schweren Krankheit verleiht. Und doch ist er völlig gesund und kräftig und sogar überhaupt nie krank gewesen.

Er geht und bewegt sich sehr schnell, hastet aber niemals. Es scheint, daß ihn nichts in Verwirrung bringen kann; er bleibt in jeder Situation und in jeder beliebigen Gesellschaft derselbe. Er besitzt eine große Selbstgefälligkeit, bemerkt sie aber an sich gar nicht.

Er spricht schnell und eilig, dabei aber selbstbewußt und ist nicht auf den Mund gefallen. Seine Gedanken sind ruhig und trotz der äußerlichen Eile genau präzisiert; und was besonders auffällt, an dem, was er einmal gesagt hat, ändert er nachher nichts mehr. Seine Aussprache ist erstaunlich deutlich; die Worte rieseln ihm aus dem Munde wie gleichmäßige, große, tadellose Körner, die dem Hörer sofort zu Diensten stehen. Anfangs gefällt einem das; aber dann wird es einem widerwärtig, und zwar gerade wegen dieser allzu deutlichen Aussprache und wegen dieses perlenartigen Geriesels stets dienstbereiter Worte. Man kommt auf den Gedanken, er müsse eine Zunge von besonderer Gestalt im Munde haben, ungewöhnlich lang und schmal, sehr rot, mit besonders feiner, sich ununterbrochen und unwillkürlich bewegender Spitze.

Also dieser junge Mann kam jetzt eilig in den Salon, und wirklich, ich habe noch bis auf den heutigen Tag die Vorstellung, er habe schon im anstoßenden Saal zu sprechen angefangen und sei sprechend hereingekommen. In einem Augenblicke stand er vor Warwara Petrowna.

„… Stellen Sie sich das vor, Warwara Petrowna,“ ließ er die Worte herausrieseln, „ich komme herein und denke, er wird schon seit einer Viertelstunde hier sein; vor anderthalb Stunden ist er angekommen; ich bin mit ihm bei Kirillow gewesen; er machte sich von dort vor einer halben Stunde direkt hierher auf und sagte mir, ich möchte nach einer Viertelstunde ebenfalls hierher kommen …“

„Aber wer denn? Wer hat Ihnen gesagt, Sie möchten hierher kommen?“ fragte Warwara Petrowna.

„Nun, Nikolai Wsewolodowitsch! Also erfahren Sie das wirklich erst in diesem Augenblick? Aber sein Gepäck muß doch wenigstens schon hier angekommen sein; wie geht es zu, daß Ihnen das nicht gemeldet ist? Dann bin ich also der erste, der Sie davon benachrichtigt. Man könnte ihn ja zwar von einer gewissen Stelle abholen lassen; aber er wird gewiß gleich von selbst erscheinen, und wie es scheint, gerade in einem Zeitpunkte, der in wunderbarer Weise seinen Erwartungen und, soweit ich es wenigstens beurteilen kann, auch seinen Wünschen entsprecht.“ Hier ließ er seine Augen durch das Zimmer schweifen und heftete sie mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Hauptmann. „Ah, Lisaweta Nikolajewna, wie freue ich mich, Ihnen hier gleich beim ersten Schritt zu begegnen; ich freue mich sehr, Ihnen die Hand zu drücken!“ Damit flog er schnell zu ihr hin, um die Hand zu ergreifen, die Lisa ihm heiter lächelnd entgegenstreckte. „Und soviel ich bemerken kann, hat auch die hochverehrte Praskowja Iwanowna, wie es scheint, ihren ‚Professor‘ nicht vergessen und ist nicht mehr zornig auf ihn, wie sie es immer in der Schweiz war. Aber wie geht es Ihnen hier mit den Füßen, Praskowja Iwanowna? Haben die Schweizer Ärzte recht damit gehabt, daß sie Ihnen das heimatliche Klima verordneten? … Wie? Wundwasser? Das mag wohl sehr nützlich sein. Aber wie sehr habe ich bedauert, Warwara Petrowna“ (er drehte sich schnell wieder um), „daß ich Sie damals nicht mehr im Auslande traf und Ihnen nicht mehr persönlich meinen Respekt bezeigen konnte; und zudem hatte ich Ihnen so vieles mitzuteilen. Ich habe diese Mitteilungen allerdings hierher an meinen Vater geschrieben; aber es scheint, daß er nach seiner Gewohnheit …“

„Peter!“ rief Stepan Trofimowitsch, der nun aus seiner Erstarrung zu sich kam; er schlug erstaunt die Hände zusammen und stürzte zu seinem Sohn hin. „ Pierre, mon enfant, ich habe dich ja gar nicht erkannt!“ Er umschlang ihn mit seinen Armen; die Tränen rollten ihm aus den Augen.

„Na, mach nur keine Geschichten, keine Geschichten! Ohne Gehabe! Na, nun genug, nun genug, ich bitte dich!“ murmelte Peter eilig und suchte sich aus der Umarmung frei zu machen.

„Ich habe es dir gegenüber immer, immer an mir fehlen lassen!“

„Na, genug davon; darüber können wir ja später noch reden. Das habe ich mir doch gedacht, daß du eine große Geschichte machen würdest. Na, rege dich nur nicht so auf, ich bitte dich.“

„Aber ich habe dich ja zehn Jahre lang nicht gesehen!“

„Um so weniger Anlaß ist zu solchen Gefühlsergüssen …“

„Mon enfant!“

„Na, ich glaube ja, ich glaube ja, daß du mich liebst; nimm nur deine Arme weg! Du störst ja die andern … Ah, da ist ja auch Nikolai Wsewolodowitsch! Na, nun laß endlich die Torheiten, ich bitte dich!“

Nikolai Wsewolodowitsch war tatsächlich bereits im Zimmer; er war sehr leise eingetreten, war einen Augenblick in der Tür stehen geblieben und überschaute mit ruhigem Blicke die Versammelten.

Wie vor vier Jahren, als ich ihn zum erstenmal sah, so war ich auch jetzt beim ersten Blick auf ihn überrascht. Ich hatte ihn keineswegs vergessen; aber es gibt, wie es scheint, Physiognomien, die immer, jedesmal wenn sie einem vorkommen, gleichsam etwas Neues mit sich bringen, etwas, was man an ihnen noch nicht bemerkt hat, wenn man ihnen auch hundertmal vorher begegnet ist. Anscheinend war er ganz derselbe wie vor vier Jahren, ebenso elegant, ebenso gemessen, ebenso würdevoll in seinem Gange wie damals, sogar beinah ebenso jung. Sein leises Lächeln zeigte dieselbe förmliche Freundlichkeit und dieselbe Selbstzufriedenheit; sein Blick war ebenso ernst, nachdenklich und anscheinend zerstreut. Kurz, es war mir, als hätten wir uns erst gestern voneinander getrennt. Aber eines überraschte mich: wenn man ihn auch früher schön gefunden hatte, so hatte sein Gesicht doch tatsächlich einer Maske ähnlich gesehen, wie sich die bösen Zungen mehrerer Damen unserer höheren Gesellschaftskreise ausgedrückt hatten. Jetzt aber, jetzt aber erschien er mir, ich weiß nicht warum, gleich beim ersten Blick entschieden und unbestreitbar als ein schöner Mann, so daß man in keiner Weise mehr sagen konnte, sein Gesicht habe Ähnlichkeit mit einer Maske. Ob dies daher kam, daß er etwas blasser geworden war als früher und anscheinend auch etwas magerer? Oder leuchtete jetzt vielleicht in seinem Blicke eine neue Sinnesart?

„Nikolai Wsewolodowitsch!“ rief Warwara Petrowna, indem sie sich in ihrem Lehnstuhle gerade aufrichtete, sich aber nicht von ihm erhob, und hielt ihren Sohn durch eine gebieterische Handbewegung zurück, „bleib da noch einen Augenblick stehen!“

Aber um die schreckliche Frage verständlich zu machen, die auf diese Handbewegung und diesen befehlenden Anruf folgte, eine Frage, die ich sogar in Warwara Petrownas Munde nicht für möglich gehalten hatte, muß ich den Leser bitten, sich daran zu erinnern, wie eigenartig Warwara Petrownas Charakter während ihres ganzen Lebens war, und von welcher ungewöhnlichen Heftigkeit er in manchen außerordentlichen Augenblicken sein konnte. Ich bitte den Leser auch zu bedenken, daß trotz der großen seelischen Festigkeit und trotz der bedeutenden Portion von Vernunft und von praktischem, ja sozusagen sogar wirtschaftlichem Taktgefühl, welche sie besaß, es doch in ihrem Leben nicht an Momenten fehlte, in denen sie sich auf einmal ganz und, wenn man sich so ausdrücken kann, völlig zügellos gehen ließ. Schließlich bitte ich noch, in Betracht zu ziehen, daß der gegenwärtige Augenblick tatsächlich für sie einer von denen sein konnte, in denen sich plötzlich wie in einem Brennpunkte der gesamte Inhalt des Lebens, der ganzen Vergangenheit, der ganzen Gegenwart und womöglich auch der ganzen Zukunft konzentriert. Ich erinnere auch noch beiläufig an den anonymen Brief, den sie empfangen und von dem sie kurz vorher in so gereiztem Tone zu Praskowja Iwanowna gesprochen hatte, wobei sie, wie es schien, den weiteren Inhalt des Briefes verschwiegen hatte; aus diesem Briefe erklärte es sich aber vielleicht, wie sie dazu kam, sich plötzlich mit dieser schrecklichen Frage an ihren Sohn zu wenden.

„Nikolai Wsewolodowitsch,“ sagte sie, indem sie jedes Wort mit fester Stimme und im Tone einer drohenden Herausforderung deutlich artikulierte, „ich bitte Sie, sagen Sie sogleich, ohne von diesem Platze wegzugehen: ist es wahr, daß diese unglückliche, lahme Frauensperson (die da, sehen Sie sie an!), ist es wahr, daß sie … Ihre legitime Ehefrau ist?“

Ich erinnere mich sehr genau an diesen Augenblick; Nikolai Wsewolodowitsch zuckte mit keiner Wimper und blickte seine Mutter unverwandt an; auf seinem Gesichte vollzog sich nicht die geringste Veränderung. Endlich lächelte er langsam mit einer Art von Herablassung, trat, ohne ein Wort zu erwidern, sachte an seine Mutter heran, ergriff ihre Hand, führte sie respektvoll an die Lippen und küßte sie. Und sein steter, unwiderstehlicher Einfluß auf seine Mutter war so stark, daß sie auch jetzt es nicht wagte, die Hand wegzuziehen. Sie blickte ihn nur, ganz Frage, ganz Spannung, an, und ihre ganze Erscheinung besagte, daß sie die Ungewißheit keinen Augenblick länger ertragen könne.

Aber er schwieg weiter. Nachdem er seiner Mutter die Hand geküßt hatte, ließ er seinen Blick noch einmal durch das ganze Zimmer umherwandern und ging dann mit derselben Ruhe wie vorher geradeswegs auf Marja Timofejewna zu. Es ist sehr schwer, den Gesichtsausdruck der Menschen in manchen Augenblicken zu beschreiben. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß Marja Timofejewna, halb tot vor Schreck, sich zu seinem Empfange erhob und, als ob sie ihn anflehen wollte, die Hände vor der Brust faltete; zugleich aber erinnere ich mich auch an das Entzücken, das sich in ihrem Blicke aussprach, ein sinnloses Entzücken, das beinah ihre Gesichtszüge entstellte, ein Entzücken, wie es Menschen nur schwer ertragen können. Es war bei ihr wohl beides vorhanden, Schreck und Entzücken; aber ich erinnere mich, daß ich schnell zu ihr herantrat (ich stand nicht weit von ihr), da es mir schien, daß sie im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen werde.

„Sie können hier nicht bleiben,“ sagte Nikolai Wsewolodowitsch zu ihr mit freundlicher, wohlklingender Stimme, und in seinen Augen leuchtete eine große Zärtlichkeit auf.

Er stand in der respektvollsten Haltung vor ihr, und in jeder seiner Bewegungen kam die aufrichtigste Hochachtung zum Ausdruck. Das arme Mädchen stammelte hastig, halb flüsternd und nur mühsam atmend:

„Aber darf ich … jetzt gleich … vor Ihnen niederknien?“

„Nein, das geht nicht,“ antwortete er mit einem prächtigen Lächeln, so daß auch sie auf einmal freudig lächelte.

Dann fügte er mit derselben wohlklingenden Stimme, indem er ihr wie einem Kinde zärtlich zuredete, ernst hinzu:

„Bedenken Sie, daß Sie ein Mädchen sind, und daß ich zwar Ihr treuester Freund, aber doch kein Angehöriger von Ihnen bin, weder Ihr Mann, noch Ihr Vater, noch Ihr Bräutigam. Nehmen Sie meinen Arm, und kommen Sie; ich werde Sie zum Wagen führen und Sie, wenn Sie erlauben, selbst nach Ihrer Wohnung begleiten.“

Sie hatte zugehört und ließ nun, wie nachdenkend, den Kopf sinken.

„Wir wollen gehen,“ sagte sie seufzend und nahm seinen Arm.

Aber nun begegnete ihr ein kleines Unglück. Wahrscheinlich hatte sie eine unvorsichtige Wendung gemacht und war dabei auf ihr krankes, zu kurzes Bein getreten; kurz, sie fiel mit der ganzen Seite auf den Lehnstuhl und wäre, wenn dieser nicht dagestanden hätte, auf den Fußboden gefallen. Im selben Augenblick ergriff Nikolai Wsewolodowitsch sie, richtete sie auf, faßte sie kräftig unter den Arm und führte sie teilnahmsvoll und behutsam zur Tür. Sie war offenbar betrübt über ihren Fall, wurde verlegen, errötete und schämte sich schrecklich. Schweigend, zur Erde blickend und stark hinkend wankte sie neben ihm her; sie hing beinah an seinem Arme. So verließen sie das Zimmer. Lisa sprang, wie ich sah, während die beiden hinausgingen, aus irgendwelchem Grunde von ihrem Sessel auf und verfolgte sie mit einem starren Blicke bis zur Tür. Dann setzte sie sich schweigend wieder hin; aber über ihr Gesicht lief ein krampfhaftes Zucken hin, als ob sie ein Reptil berührt hätte.

Während diese ganze Szene zwischen Nikolai Wsewolodowitsch und Marja Timofejewna vorging, hatten alle erstaunt geschwiegen; man hätte eine Fliege hören können; aber kaum waren die beiden hinausgegangen, als plötzlich alle zu reden anfingen.