Elftes Kapitel
Wir verbrachten den Rest des Tages in einer Art stumpfen Hinbrütens und sahen dem entschwindenden Schiff nach, bis die Finsternis es unseren Blicken entzog und uns einigermaßen die Besinnung zurückgab. Die Qualen des Hungers und des Durstes kamen nun wieder und ließen alle übrigen Sorgen und Betrachtungen klein erscheinen. Bis zum Morgen aber war nichts zu tun, wir trachteten also, ein wenig auszuruhen, so gut es eben ging. Mir gelang das über alle Erwartung, ich schlief, bis meine Gefährten, die minder glücklich gewesen waren, mich bei Tagesanbruch weckten, um mich an neuen Versuchen, etwas von den Vorräten im Schiffsraum zu bergen, teilnehmen zu lassen.
Jetzt herrschte eine große Windstille; die See war glatter, als ich sie je gesehen habe, das Wetter warm und angenehm. Die Brigg war außer Sicht. Wir begannen damit, daß wir noch eine der Ketten abrissen und beide an Peters' Füßen befestigten; er machte wiederum Versuche, die Tür der Vorratskammer zu erreichen, da er es für möglich hielt, sie aufzubrechen; und dafür war in der Tat eine Möglichkeit vorhanden, da der Schiffsrumpf sich jetzt stärker aufgerichtet hatte.
Es gelang ihm, die Tür zu erreichen; dort löste er eine der Ketten vom Fuß und suchte damit den Eingang zu erzwingen, was aber trotz aller Anstrengungen ohne Erfolg blieb, da das Holz sich fester zeigte, als wir dachten. Der lange Aufenthalt unter Wasser hatte ihn vollkommen erschöpft; es war unbedingt nötig, daß ein anderer seinen Platz einnahm. Parker meldete sich freiwillig, konnte jedoch nach drei fruchtlosen Versuchen nicht einmal bis zur Tür gelangen. Augustus mit seinem wunden Arm blieb natürlich ausgeschlossen, da er die Tür, auch wenn er sie erreicht hätte, nicht würde aufsperren können, und so wurde die Aufgabe mir übertragen. Peters hatte eine der Ketten im Gang gelassen, und beim Tauchen erkannte ich, daß ich nicht genügend Kraft besaß, mich unten im Gleichgewicht zu halten. Ich beschloß daher, zunächst die andere Kette zurückzuerobern. Indem ich den Boden befühlte, stieß ich auf etwas Hartes, das ich sofort erfaßte, obwohl ich keine Zeit hatte, die Natur des Gegenstandes festzustellen. Es war eine Flasche, und man kann sich unsere Freude ausmalen, wenn ich sage, daß sie mit Portwein gefüllt war. Wir dankten Gott für diese willkommene und ermutigende Hilfe, öffneten den Kork mit meinem Taschenmesser und taten ein jeder einen bescheidenen Schluck. Die Wärme, die Kraft, die Belebung, die wir daraus schöpften, spendeten uns unermeßlichen Trost. Dann korkten wir die Flasche sorgfältig zu und hingen sie mit einem Taschentuch so auf, daß sie nicht zerbrochen werden konnte.
Eine Weile nach dieser glücklichen Entdeckung ruhten wir erst, dann stieg ich abermals hinab und fand nun die Kette, mit der ich emportauchte. Ich befestigte sie an mir und tauchte ein drittes Mal, bis ich überzeugt war, daß in dieser Lage keine Macht der Welt die Tür der Vorratskammer aufzubrechen vermöchte. Verzweifelnd kehrte ich um.
Jetzt schien kein Raum mehr für irgendwelche Hoffnung, und ich sah in den Zügen meiner Gefährten, daß sie sich in ihr Schicksal ergeben wollten. Der Wein hatte offenbar eine Art Delirium in ihnen erzeugt, vor dem ich vielleicht durch mein Untertauchen bewahrt geblieben war. Sie redeten ohne Zusammenhang und von Dingen, die mit unserer Lage nichts zu tun hatten; Peters fragte mich wiederholt über Nantucket aus. Auch Augustus kam, wie ich mich erinnere, mit ernster Miene auf mich zu und bat mich, ihm einen Taschenkamm zu leihen, da sein Haar voller Fischschuppen sei, die er heraus haben wolle, bevor er an Land ginge. Parker erschien mir etwas vernünftiger; er riet mir, aufs Geratewohl in die Kajüte zu tauchen und das erste beste mit heraufzubringen. Ich stimmte zu, und nach einer Minute brachte ich einen kleinen Lederkoffer herauf, der Kapitän Barnard gehört hatte. Man öffnete ihn sofort in der Hoffnung, etwas zum Trinken oder Essen darin zu finden. Jedoch wir fanden nichts außer einem Rasiermesserkasten und zwei Leinenhemden. Wieder tauchte ich und kam unverrichteterdinge zurück. Wie mein Kopf über Wasser war, hörte ich auf dem Verdeck einen Krach und merkte alsbald, daß die Undankbaren meine Abwesenheit benutzt hatten, um den Rest des Weines auszutrinken; bei dem Versuch, die Flasche unbemerkt an ihren Platz zu hängen, war sie ihnen zerschellt. Ich machte ihnen Vorwürfe über ihre Herzlosigkeit. Augustus brach in Tränen aus. Die andern versuchten, die Sache als einen Spaß hinzustellen, und lachten – möge ich nie wieder solch Lachen sehen; die Verzerrung ihrer Gesichter war geradezu fürchterlich. In der Tat schienen ihre leeren Mägen eine heftige Wirkung des Weines begünstigt zu haben; sie waren im höchsten Grade berauscht. Mit größter Not veranlaßte ich sie zum Liegen, worauf sie bald in einen schweren Schlaf sanken, der von lautem, röchelndem Atem begleitet war.
Ich befand mich jetzt so gut wie allein an Bord, und meine Betrachtungen waren, das läßt sich wohl denken, von der bängsten und düstersten Art. Keine Aussicht bot sich mir außer einem langsamen Hungertod oder im besten Fall der Vernichtung durch den ersten Sturm, der sich erheben würde; denn in unserm gegenwärtigen Zustand durften wir nicht hoffen, einen neuen Anprall zu überleben.
Unerträglich fast war der nagende Hunger, den ich jetzt empfand, und ich fühlte mich fähig, zu seiner Befriedigung alles und jedes zu tun. Mit dem Messer schnitt ich ein Stückchen vom Lederkoffer ab und versuchte es zu essen; aber es war mir unmöglich, auch nur einen Bissen hinabzuwürgen, obwohl mir schien, das Kauen und Ausspucken kleiner Teilchen gewähre mir Erleichterung. Gegen Abend erwachten meine Genossen, einer nach dem andern, ein jeder in einem unbeschreiblichen Zustand von Schwäche und Grausen, einer Folge des Weingenusses. Der Rausch war verflogen, sie zitterten wie im heftigsten Schüttelfrost, sie schrien jämmerlich nach Wasser. Ihr Zustand ergriff mich auf die schmerzlichste Art, zugleich aber freute ich mich, daß eine Reihe günstiger Umstände mich vor übermäßigem Trinken bewahrt hatte; denn sonst hätte ich ihre höchst traurige, höchst quälende Verfassung teilen müssen. Doch beunruhigte und erschreckte mich ihr Benehmen nicht wenig; sie waren, trat nicht eine unvorhergesehene Glückswendung ein, außerstande, mich in der Arbeit für unsere gemeinsame Rettung zu unterstützen.
Ich hatte den Gedanken noch nicht völlig aufgegeben, etwas dort unten aufzugabeln; aber der Versuch konnte nicht wiederholt werden, solange keiner von ihnen sich genug beherrschte, um mir durch Halten des Taues beizustehen. Parker schien etwas mehr bei Sinnen als die übrigen; ich bemühte mich nach Kräften, ihn aufzurütteln. Auf die Wirkung eines tüchtigen Seebades vertrauend, befestigte ich um seinen Körper ein Tau und führte ihn dann (er ließ alles ruhig und gleichgültig mit sich geschehen) zum Eingang der Kajüte, stieß ihn hinein und zog ihn sofort wieder heraus. Ich hatte alle Ursache, mich zu diesem Einfall zu beglückwünschen; denn er zeigte sich belebt und erfrischt und fragte mich in ganz vernünftigem Ton, weshalb ich ihn denn so behandelt hätte. Nachdem ich ihm meine Absicht erklärt hatte, dankte er mir herzlich, sagte, das Eintauchen habe ihm wohlgetan, und sprach dann ganz verständig über unsere Lage. Wir beschlossen jetzt, Augustus und Peters auf gleiche Weise zu behandeln, taten es sofort, und auch sie fühlten sich durch die Berührung mit dem kalten Element belebt. Der Einfall war eine Frucht meiner Lektüre; ich hatte einmal in ärztlichen Büchern über die gute Wirkung einer Dusche auf Patienten gelesen, die unter »mania a potu« litten.
Nun konnte ich den Gefährten das Seil übergeben; ich tauchte noch drei-, viermal in die Kajüte, obwohl es jetzt ganz finster war und eine sanfte, doch lange Dünung von Norden her den Rumpf erschütterte. So brachte ich allmählich herauf: zwei Klappmesser, einen großen leeren Krug und eine Decke; doch war nichts Eßbares dabei. Ich setzte meine Versuche bis zur gänzlichen Erschöpfung fort, fand aber weiter nichts. Während der Nacht beschäftigten sich Peters und Parker in der gleichen Art; aber es wurde nichts gefunden, und so gaben wir denn verzweifelnd diese Bemühungen auf, da wir uns vergebens unserer letzten Kräfte beraubten.
Den Rest der Nacht verbrachten wir in einem Zustand der tiefsten leiblichen und seelischen Todesangst. Endlich dämmerte der Morgen des Sechzehnten, und wir blickten uns eifrig in der Runde nach Hilfe um, aber ohne Erfolg. Die See war noch glatt, nur, wie gestern, mit einer langen Dünung von Norden her. Seit sechs Tagen hatten wir nichts genossen außer jener Flasche Portwein, und es war klar, daß wir nicht mehr lange aushalten konnten, falls sich nicht irgend etwas erlangen ließ. Nie sah ich so ausgemergelte menschliche Wesen, wie Peters und Augustus es jetzt waren. Wären sie mir auf dem Land begegnet, nie und nimmer hätte ich sie erkannt. Der Charakter ihrer Züge war so vollständig umgewandelt, daß ich kaum zu glauben vermochte, sie seien dieselben Menschen, in deren Gesellschaft ich mich vor ein paar Tagen befand. Obgleich furchtbar heruntergekommen und so schwach, daß er seinen Kopf kaum von der Brust aufheben konnte, schien Parker doch nicht so völlig verelendet wie die beiden andern. Er litt mit großer Geduld, klagte gar nicht und suchte uns noch auf jede Art mit Hoffnung zu erfüllen. Was mich anbetrifft, so litt ich trotz meines Übelbefindens am Anfang der Reise und meiner gebrechlichen Natur weniger als alle übrigen, hatte nicht viel an Umfang verloren und behielt in überraschendem Grad meine geistigen Fähigkeiten, während die andern völlig verblödet in eine zweite Kindheit eingetreten zu sein schienen, indem sie dümmlich lächelten, freundlich grinsten und nur die albernsten Plattheiten zu äußern imstande waren. Zuzeiten lebten sie jedoch plötzlich auf, als ob das Bewußtsein ihres Zustandes sie beseelte, sprangen in einer Anwandlung von Kraft auf ihre Füße, sprachen eine Weile vernünftig, zugleich freilich mit bitterster Hoffnungslosigkeit von unseren Aussichten. Doch ist es möglich, daß ich mich gleich ihnen über meinen Zustand täuschte, daß ich, ohne es zu wissen, dieselben Torheiten und Kindereien beging wie sie; das ist eine Angelegenheit, über die sich nichts Bestimmtes sagen läßt.
Gegen Mittag erklärte Parker, er sähe Land über Backbord, und mit knapper Not konnte ich ihn davon abhalten, sogleich in die See zu springen und hinzuschwimmen. Peters und Augustus beachteten ihn nicht; sie waren in dumpfes Brüten versunken. Ich blickte in die angedeutete Richtung und sah nicht die blasseste Spur einer Küste, auch wußte ich nur zu gut, wie weit entfernt von jedem Land wir uns befinden mußten. Lange währte es, bis ich Parker von seiner Täuschung überzeugt hatte. Dann brach er in eine Flut von Tränen aus, heulte wie ein Kind unter lautem Schluchzen und Schreien, bis er endlich vor Entkräftung einschlief.
Peters und Augustus machten ein paar vergebliche Versuche, etwas von jenem Leder hinunterzuschlucken. Ich riet ihnen nun das Kauen und Ausspeien an; doch waren sie bereits zu schwachsinnig, um meinem Rat folgen zu können. Ich setzte das Kauen fort, und es verschaffte mir einige Erleichterung; meine größte Sehnsucht aber ging nach Wasser, und nur die Erinnerung an die gräßlichen Folgen, die andern in ähnlicher Lage aus dem Genuß von Seewasser erwachsen waren, hielt mich vom Trinken ab.
So ging der Tag dahin; da entdeckte ich auf einmal ein Segel im Osten, über Backbord. Ein großes Schiff schien es zu sein, und es kreuzte nahezu unsern Kurs in der Entfernung von etwa zwölf oder fünfzehn Meilen. Keiner meiner Gefährten hatte es gesehen, und ich hütete mich, sie darauf aufmerksam zu machen, damit wir nicht abermals enttäuscht würden. Doch als es näher kam, sah ich deutlich, daß es auf uns zuhielt, die leichten Segel vom Winde geschwellt. Ich konnte jetzt nicht länger an mich halten, ich wies meinen Leidensgenossen das Schiff. Sie sprangen alsbald in die Höhe, ergaben sich abermals den ausgelassensten Freudenbezeigungen, weinten, lachten auf trottelhafte Art, machten Luftsprünge, stampften das Verdeck, rissen sich die Haare aus, beteten und fluchten abwechselnd. Ihr Benehmen und die scheinbar gewisse Aussicht auf Rettung ergriffen mich so sehr, daß ich mich nicht enthalten konnte, an ihrem Wahnwitz teilzunehmen; so drückte denn auch ich meinen leidenschaftlichen Dank, meine Begeisterung dadurch aus, daß ich mich auf dem Verdeck herumwälzte, in die Hände klatschte, brüllte und mich überhaupt wie ein Toller betrug, bis ich auf einmal wieder in alle Tiefen des Jammers stürzte; denn das Schiff kehrte uns jetzt den Stern zu und steuerte in einer Richtung, die der vorigen ganz entgegengesetzt war.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine armen Gefährten davon überzeugt hatte, daß unsere Hoffnung abermals getäuscht worden sei. Ihre Antwort auf alle meine Versicherungen war, daß sie mich groß ansahen, als wären sie nicht geneigt, derartigen Täuschungsversuchen Glauben zu schenken. Am schmerzlichsten ergriff mich Augustus' Verhalten. Trotz aller meiner Beweise des Gegenteils bestand er darauf, das Schiff nähere sich in fliegender Eile, und begann sich bereitzuhalten, drüben an Bord zu gehen. Vorüberschwimmenden Seetang bezeichnete er hartnäckig als das erwartete Boot und schickte sich an, hinüberzuspringen, wobei er in der herzzerreißendsten Weise heulte und schrie, während ich ihn mit aller Kraft daran hindern mußte, sich ins Meer zu werfen.
Allmählich wurden wir ruhiger; lange blickten wir dem Schiff nach, bis es endlich im Nebel der Ferne verschwand; denn das Wetter wurde dunstig, eine leichte Brise erhob sich. Als das Schiff gänzlich unsichtbar geworden war, wendete sich Parker plötzlich zu mir mit einem Ausdruck im Gesicht, der mich schaudern machte. Er hatte eine Sicherheit der Haltung, die ihm zuvor nicht eigen war, und ehe er noch die Lippen geöffnet hatte, sagte mir mein Herz, was er sprechen würde. In wenigen Worten machte er den Vorschlag, einer von uns müsse sterben, um die andern am Leben zu erhalten.