Zum Hauptinhalt springen

Zehntes Kapitel

Bald darauf ereignete sich ein Zwischenfall, der mir tiefere Erregung, größere Fülle des äußersten Entzückens wie des ärgsten Entsetzens enthalten zu haben dünkt als irgendeine der tausend Zufälligkeiten, die mich nachher in neun langen Jahren heimsuchten – diesen Jahren, in denen Geschehnisse der überraschendsten, der unerhörtesten und unbegreiflichsten Art einander förmlich drängten. Wir lagen nahe der Kajütentreppe auf dem Deck und besprachen die Möglichkeit, trotz allem nach der Vorratskammer zu gelangen, als mein Blick auf mein Gegenüber fiel, auf Augustus: er war blaß wie der Tod, und seine Lippen bebten auf eine seltsame und unverständliche Weise. Tief beunruhigt redete ich ihn an; doch gab er keine Antwort, und ich fing an zu glauben, er sei plötzlich erkrankt, als ich seine Augen wahrnahm, die offenbar auf einen hinter mir befindlichen Gegenstand starrten. Ich wandte mich um, und niemals werde ich die Seligkeit vergessen, die jedes Teilchen meines Körpers zu durchzittern schien, als ich eine große Brigg in einer Entfernung von wenigen Seemeilen auf uns zusegeln sah. Ich sprang in die Höhe, als wäre mein Herz von einer Kugel getroffen worden; ich streckte meine Arme in der Richtung des Schiffes aus und stand so, unbeweglich, ohne eine Silbe hervorstammeln zu können. Peters und Parker waren ebenso ergriffen, doch auf verschiedene Art: jener tanzte wie ein Toller auf dem Verdeck herum, indem er die wahnsinnigsten Reden vermengt mit Geheul und Flüchen von sich gab; dieser brach in Tränen aus und weinte eine ganze Zeitlang gleich einem Kinde.

Das Schiff war eine große Schonerbrigg von niederländischer Bauart, schwarz bemalt, mit protzig vergoldeter Bugzier. Sie mußte viel böses Wetter überstanden haben, und der Sturm, der sich für uns so verhängnisvoll zeigte, mochte auch sie arg zerzaust haben, denn ihr Fockmast fehlte, und am Steuerbord war sie arg beschädigt. Sie lag, als wir sie zuerst erblickten, wie ich wohl schon sagte, an zwei Meilen entfernt und kam im Winde auf uns zu. Die Brise war gelind, und wir wunderten uns, daß die Brigg nur wenige Segel aufgesetzt hatte; natürlich kam sie langsam vorwärts, und unsere Ungeduld steigerte sich bis zum Fieber. Trotz unserer Erregung entging uns nicht das ungeschickte Manövrieren des fremden Schiffes. Es fiel so stark ab, daß wir es für unmöglich hielten, von ihm aus gesichtet zu werden. Dann glaubten wir wieder, man habe unsere Brigg gesehen, aber niemand an Bord bemerkt und wolle nun durch den Wind wenden und einen anderen Kurs einschlagen. Da brüllten wir nun jedesmal mit aller Kraft unserer Lungen, worauf der Fremde seine Absicht zu ändern und auf uns zuzuhalten schien, und dieses sonderbare Manöver wiederholte sich zwei- oder dreimal, so daß wir endlich nur eine Erklärung dafür fanden: der Steuermann mußte betrunken sein.

Wir bemerkten niemand auf ihrem Verdeck, bis die Brigg etwa eine Viertelmeile entfernt war. Da erblickten wir drei Seeleute, nach ihrer Tracht Holländer. Zwei lagen auf ein paar Segeln am Vorderkastell, der dritte schien, nahe dem Bugspriet über Steuerbord gelehnt, uns mit lebhafter Neugier zu betrachten. Es war ein großer, dicker Mensch; seine Haut war von sehr dunkler Färbung. Er schien uns zur Geduld zu ermahnen, indem er uns auf lustige, aber wunderliche Weise zunickte und dabei fortwährend lachte, so daß man seine blendendweißen Zähne sehen konnte. Als sein Schiff näher kam, fiel ihm die rote Flanellmütze, die er aufgehabt, vom Kopf herab ins Wasser, ohne daß er sich darum zu kümmern schien; er fuhr fort zu lächeln und uns zuzunicken. Ich berichte diese Umstände ganz genau und schildere sie, das muß betont werden, geradeso, wie sie uns erschienen.

Langsam und mit größerer Stetigkeit als zuvor kam die Brigg heran, und – ich kann nicht ohne Erregung von diesem Erlebnis sprechen – unsere Herzen hoben sich in stürmischer Freude, und wie strömten unsere Seelen aus in Jubelrufen, in Dankgebeten an Gott, da wir so völlig, so ganz wider Erwarten wunderbar errettet werden sollten! Mit einem Male wehte über das Wasser von jenem fremden Schiffe, das jetzt dicht an unserm Kurs war, ein Geruch, ein Gestank, für den die Welt keinen Namen hat – höllisch, atemraubend, unerträglich, unfaßlich. Ich war am Ersticken, und da ich mich nach meinen Gefährten umsah, merkte ich, daß sie bleicher als Marmor dreinschauten. Aber jetzt blieb uns keine Zeit zu Fragen und Vermutungen; fünfzig Fuß war die Brigg von uns entfernt, und ihre Absicht schien es, uns am Heck anzulaufen, so daß wir, ohne ein Boot auszusetzen, an Bord gehen könnten. Wir stürzten achter; da fiel sie plötzlich weit, um fünf oder sechs Strich, von ihrem Kurs ab, und als sie im Abstand von etwa zwanzig Fuß unter unserem Stern vorbeizog, konnten wir ihr Verdeck voll überblicken. Werde ich jemals das dreimal gräßliche Entsetzen dieses Schauspiels vergessen? Fünfundzwanzig oder dreißig männliche Körper, darunter einige Frauen, lagen zwischen Heck und Galion verstreut im grauenhaftesten Zustand der Verwesung. Wir erkannten, daß auf dem unseligen Schiff keine Seele am Leben war! Dennoch konnten wir uns nicht enthalten, die Toten um Hilfe anzurufen! Ja, laut und lange flehten wir diese schweigsamen und ekelerregenden Gestalten an, sie möchten dableiben, sie möchten uns nicht im Stich lassen, daß wir ihnen gleich würden; sie möchten uns aufnehmen in ihre wackere Gesellschaft! Wir waren fast rasend vor Entsetzen und Verzweiflung, vollkommen wahnsinnig durch die Qual der allerschmerzlichsten Enttäuschung.

Als unser erstes lautes Schreckensgeschrei losbrach, da war es, als antwortete etwas aus der Gegend des Bugspriets, ein Ton, so ähnlich dem Ruf einer Menschenstimme, daß die feinsten Ohren dadurch erschreckt und getäuscht werden mußten. In diesem Augenblick brachte ein erneutes Abfallen des fremden Schiffes die Gegend des Vorderkastells in Sicht, und in einem Augenblick erkannten wir die Ursache dieses Lautes. Noch immer lehnte sich die große, dicke Gestalt über die Brüstung, noch immer nickte sie hin und her, aber ihr Gesicht war von uns abgewendet. Die Arme hingen über die Reling herab, die Handflächen waren nach außen gewendet. Die Knie fingen sich in einem starken, vom Bugspriet achterwärts ausgereckten Tau. Auf dem Rücken der Gestalt, von dem ein Teil des Hemdes heruntergerissen war, saß eine riesige Seemöwe, die sich an dem scheußlichen Fleisch gütlich tat; ihr Schnabel, ihre Fänge waren tief hineingegraben, ihr weißes Gefieder war über und über mit Blut bespritzt. Als die Brigg sich weiterbewegte, so daß wir sichtbar wurden, zog der Vogel mit offenbarer Mühe seinen blutroten Kopf aus dem Fleisch, betrachtete uns alle mit einem stumpfsinnigen Ausdruck, erhob sich dann schwerfällig vom Leichnam, der ihm zum Fraß gedient hatte, flog gerade über unser Verdeck hin und blieb da eine Weile schweben, mit einem Stück blutgetränkter, leberartiger Substanz im Schnabel. Der schaudervolle Bissen plumpste endlich mit plötzlichem Aufklatschen unmittelbar vor Parkers Füße. Gott verzeih' es mir, aber jetzt zuckte zum ersten Male ein Gedanke durch mein Hirn, ein Gedanke, den ich nicht nennen will, und ich fühlte, wie ich einen Schritt auf den blutigen Fetzen zu tat. Ich blickte auf, und Augustus' Augen begegneten den meinen mit einer grausigen Bedeutung, die mir zugleich meine Vernunft wiedergab. Ich sprang eilends vor und schleuderte mit einem tiefen Schauder den scheußlichen Gegenstand ins Meer.

Der Leichnam, von dem er stammte, war, da er auf dem Tau ruhte, durch die Anstrengungen des im Fleische wühlenden Tieres leicht hin und her geschaukelt worden, und diese Bewegung hatte in uns die Meinung erzeugt, er sei etwas Lebendiges. Als die Möwe ihre Last von ihm weghob, schwang er sich herum und fiel halb über Bord, so daß sein Gesicht vollkommen sichtbar wurde. Noch nie habe ich so Entsetzliches, so Fürchterliches gesehen! Die Augen fehlten, ebenso alles Fleisch um den Mund, so daß man die entblößten Zähne sah. Das war also das Lächeln gewesen, das Hoffnung in uns erweckt hatte! Das . . . doch ich will lieber schweigen. Die Brigg zog, wie gesagt, unter unserm Heck vorüber und hielt langsam, aber stetig auf Lee. Mit ihr und ihrer grauenvollen Besatzung entflohen alle die heiteren Traumgesichter, die uns Erlösung, Seligkeit vorgespiegelt hatten. Wie sie bedächtig vorbeizog, hätten wir sie vielleicht anborden können, wäre nicht jedes Vermögen des Leibes und der Seele durch unsere plötzliche Enttäuschung und die Furchtbarkeit des Anblicks lahmgelegt gewesen. Wir hatten geschaut, empfunden, aber wir vermochten nicht eher zu denken, zu handeln, als bis es, ach! zu spät war. Wie sehr unsere Fassungskraft durch jenes Ereignis gelitten hatte, möge man aus dieser Tatsache folgern: Als die Brigg schon so weit von uns trieb, daß man nur noch die Hälfte ihres Rumpfes sehen konnte, wurde in allem Ernst der Vorschlag erwogen, sie durch Schwimmen wieder einzuholen.

Ich habe seitdem vergebens danach getrachtet, irgendeinen Einblick in das grauenhafte Geheimnis zu erhalten, das um das Schicksal jenes fremden Schiffes webte. Sein Bau und allgemeines Aussehen machten es, wie ich schon sagte, wahrscheinlich, daß es ein holländisches Kauffahrteischiff war, und die Tracht der Mannschaft unterstützte diese Ansicht. Wir hätten leicht seinen Namen am Stern lesen und andere Beobachtungen anstellen können, aber die tiefgehende Erregung des Augenblickes raubte uns den Sinn für alle diese Fragen. Aus der safrangelben Farbe der noch nicht völlig verwesten Leichen schlossen wir auf die Vernichtung der gesamten Bemannung durch das Gelbe Fieber oder irgendeine andere giftige Krankheit derselben furchtbaren Art. War dies der Fall (und ein anderer dünkt mir kaum möglich), so muß, nach der Lage der Körper zu urteilen, der Tod mit entsetzlicher und überwältigender Plötzlichkeit über sie gekommen sein, anders, als selbst bei den tödlichsten Epidemien gewöhnlich zu geschehen pflegt. Vielleicht war durch Zufall Gift in ihre Vorräte geraten, oder sie hatten von irgendeinem unbekannten giftigen Fisch oder Seevogel gegessen; jedoch ist es vollkommen unnütz, Mutmaßungen zu hegen, wo alles auf immer in das Dunkel eines erschreckenden und unergründlichen Geheimnisses gehüllt erscheint.