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C. Die grosse Zwangsbefürchtung

„Ich denke, heute will ich mit dem Erlebnisse beginnen, welches der direkte Anlaß für mich war, Sie aufzusuchen. Es war im August während der Waffenübung in *. Ich war vorher elend und hatte mich mit allerlei Zwangsgedanken gequält, die aber während der Übung bald zurücktraten. Es hat mich interessiert, den Berufsoffizieren zu zeigen, daß man nicht nur etwas gelernt hat, sondern auch etwas aushalten kann. Eines Tages machten wir einen kleinen Marsch von ** aus. Auf der Rast verlor ich meinen Zwicker, und obwohl ich ihn leicht hätte finden können, wollte ich doch den Aufbruch nicht verzögern und verzichtete auf ihn, telegraphierte aber an meinen Optiker nach Wien, er solle mir umgehend einen Ersatz schicken. Auf derselben Rast nahm ich Platz zwischen zwei Offizieren, von denen einer, ein Hauptmann mit tschechischem Namen, für mich bedeutungsvoll werden sollte. Ich hatte eine gewisse Angst vor dem Manne, denn er liebte offenbar das Grausame.* Ich will nicht behaupten, daß er schlecht war, aber er war während der Offiziersmenage wiederholt für die Einführung der Prügelstrafe eingetreten, so daß ich ihm energisch hatte widersprechen müssen. Auf dieser Rast nun kamen wir ins Gespräch, und der Hauptmann erzählte, daß er von einer besonders schrecklichen Strafe im Orient gelesen habe...“

Hier unterbricht er sich, steht auf und bittet mich, ihm die Schilderung der Details zu erlassen. Ich versichere ihm, daß ich selbst gar keine Neigung zur Grausamkeit habe, ihn gewiß nicht gerne quälen wolle, daß ich ihm natürlich aber nichts schenken könne, worüber ich keine Verfügung habe. Ebensogut könne er mich bitten, ihm zwei Kometen zu schenken. Die Überwindung von Widerständen sei ein Gebot der Kur, über das wir uns unmöglich hinwegsetzen könnten. (Den Begriff „Widerstand“ hatte ich ihm zu Anfang dieser Stunde vorgetragen, als er sagte, er habe vieles in sich zu überwinden, wenn er sein Erlebnis mitteilen solle.) Ich fuhr fort: Was ich aber tun könnte, um etwas von ihm Angedeutetes voll zu erraten, das solle geschehen. Ob er etwa die Pfählung meine? — Nein, das nicht, sondern der Verurteilte werde angebunden — (er drückte sich so undeutlich aus, daß ich nicht sogleich erraten konnte, in welcher Stellung) —, über sein Gesäß ein Topf gestülpt, in diesen dann Ratten eingelassen, die sich — er war wieder aufgestanden und gab alle Zeichen des Grausens und Widerstandes von sich — einbohrten. In den After, durfte ich ergänzen.

Bei allen wichtigeren Momenten der Erzählung merkt man an ihm einen sehr sonderbar zusammengesetzten Gesichtsausdruck, den ich nur als Grausen vor seiner ihm selbst unbekannten Lust auflösen kann. Er fährt mit allen Schwierigkeiten fort: „In dem Momente durchzuckte mich die Vorstellung, daß dies mit einer mir teuren Person geschehe.“ Auf direktes Befragen gibt er an, daß nicht etwa er selbst diese Strafe vollziehe, sondern daß sie unpersönlich an ihr vollzogen werde. Nach kurzem Raten weiß ich, daß es die von ihm verehrte Dame war, auf die sich jene „Vorstellung“ bezog.

Er unterbricht die Erzählung, um mir zu versichern, wie fremd und feindselig sich diese Gedanken ihm gegenüberstellen und mit welch außerordentlicher Raschheit alles in ihm abläuft, was sich weiter an sie knüpft. Mit der Idee gleichzeitig ist auch stets die „Sanktion“ da, d. h. die Abwehrmaßregel, der er folgen muß, damit sich eine solche Phantasie nicht erfülle. Als der Hauptmann von jener gräßlichen Strafe sprach und jene Ideen in ihm aufstiegen, gelang es ihm, sich beider noch mit seinen gewöhnlichen Formeln zu erwehren, mit einem „aber“, das von einer wegwerfenden Handbewegung begleitet ist, und mit der Rede „Was fällt dir denn ein“.

Der Plural machte mich stutzig, so wie er auch dem Leser unverständlich geblieben sein wird. Wir haben ja bisher nur von der einen Idee gehört, daß an der Dame die Rattenstrafe vollzogen werde. Nun muß er zugestehen, daß gleichzeitig die andere Idee in ihm auftauchte, die Strafe treffe auch seinen Vater. Da sein Vater vor vielen Jahren gestorben ist, diese Zwangsbefürchtung also noch viel unsinniger ist als die erste, versuchte sie sich noch eine Weile vor dem Eingeständnis zu bergen.

Am nächsten Abend überreichte ihm derselbe Hauptmann ein mit der Post angelangtes Paket und sagte: „Der Oberleutnant A.2 hat die Nachnahme für dich ausgelegt. Du mußt sie ihm zurückgeben.“ In dem Paket befand sich der telegraphisch bestellte Zwicker. In dem Moment aber gestaltete sich ihm eine „Sanktion“: Nicht das Geld zurückgeben, sonst geschieht das (d. h. die Phantasie von den Ratten verwirkliche sich an Vater und Dame). Und nach einem ihm bekannten Typus erhob sich sofort zur Bekämpfung dieser Sanktion ein Gebot wie ein Eidschwur: „Du mußt dem Oberleutnant A. die Kronen 3.80 zurückgeben“, was er beinahe halblaut vor sich hinsagte.

Zwei Tage später hatte die Waffenübung ihr Ende gefunden. Die Zeit bis dahin füllte er mit Bemühungen aus, dem Oberleutnant A. die kleine Summe zurückzustellen, wogegen sich immer mehr Schwierigkeiten anscheinend objektiver Natur erhoben. Zunächst versuchte er die Zahlung durch einen andern Offizier zu leisten, der zur Post ging, war aber sehr froh, als dieser ihm das Geld mit der Erklärung zurückbrachte, er habe den Oberleutnant A. nicht auf der Post angetroffen, denn dieser Modus der Eiderfüllung befriedigte ihn nicht, weil er dem Wortlaute: „Du mußt dem Oberleutnant A. das Geld zurückgeben“, nicht entsprach. Endlich traf er die gesuchte Person A., die aber das Geld mit dem Bemerken zurückwies, sie habe nichts für ihn ausgelegt, sie habe überhaupt nicht die Post, sondern Oberleutnant B. Er war nun sehr betroffen, daß er seinen Eid nicht halten könne, weil dessen Voraussetzung falsch sei, und klügelte sich sehr sonderbare Auskünfte aus: Er werde mit beiden Herren A. und B. zur Post gehen, dort werde A. dem Postfräulein Kronen 3.80 geben, das Postfräulein diese dem B., und er werde nach dem Wortlaute des Eides dann dem A. die Kronen 3.80 zurückgeben.

Ich werde mich nicht verwundern, wenn das Verständnis der Leser an dieser Stelle versagt, denn auch die ausführliche Darstellung, die mir der Patient von den äußeren Vorgängen dieser Tage und seiner Reaktionen auf sie gab, litt an inneren Widersprüchen und klang heillos verworren. Erst bei einer dritten Erzählung gelang es, ihn zur Einsicht in diese Unklarheiten zu bringen und die Erinnerungstäuschungen und Verschiebungen bloßzulegen, in die er sich begeben hatte. Ich erspare mir die Wiedergabe dieser Details, von denen wir das Wesentliche bald nachholen können, und bemerke noch, daß er sich am Ende dieser zweiten Sitzung wie betäubt und verworren benahm. Er sprach mich wiederholt „Herr Hauptmann“ an, wahrscheinlich, weil ich zu Eingang der Stunde bemerkt hatte, ich sei selbst kein Grausamer wie der Hauptmann M. und habe nicht die Absicht, ihn unnötigerweise zu quälen.

Ich erhielt von ihm in dieser Stunde nur noch die Aufklärung, daß er von Anfang an, auch bei allen früheren Befürchtungen, daß seinen Lieben etwas geschehen werde, diese Strafen nicht allein in die Zeitlichkeit, sondern auch in die Ewigkeit, ins Jenseits verlegt habe. Er war bis zum 14. oder 15. Jahre sehr gewissenhaft religiös gewesen, von wo an er sich bis zu seinem heutigen Freidenkertum entwickelt hatte. Er gleiche den Widerspruch aus, indem er sich sage: „Was weißt du vom Leben im Jenseits? Was wissen die anderen davon? Man kann ja doch nichts wissen, du riskierst ja nichts, also tu’s.“ Diese Schluß weise hält der sonst so scharfsinnige Mann für einwandfrei und nutzt die Unsicherheit der Vernunft in dieser Frage solcherart zugunsten der überwundenen frommen Weltanschauung aus.

In der dritten Sitzung beendigt er die sehr charakteristische Erzählung seiner Bemühungen, den Zwangseid zu erfüllen: Am Abende fand die letzte Zusammenkunft der Offiziere vor dem Schlüsse der Waffenübung statt. Ihm fiel es zu, für den Toast auf „die Herren von der Reserve“ zu danken. Er sprach gut, aber wie im Schlafwandel, denn im Hintergrunde plagte ihn immer sein Eid. Die Nacht war entsetzlich; Argumente und Gegenargumente bekämpften einander; Hauptargument war natürlich, daß die Voraussetzung seines Eides, Oberleutnant A. habe das Geld für ihn gezahlt, ja nicht zuträfe. Aber er tröstete sich damit, daß es ja noch nicht vorüber sei, da A. den morgigen Ritt zur Bahnstation P. bis zu einer gewissen Stelle mitmachen werde, so daß er Zeit haben werde, ihn um die Gefälligkeit anzusprechen. Er tat es nun nicht, ließ A. abschwenken, gab aber doch seinem Burschen den Auftrag, ihm seinen Besuch auf den Nachmittag anzukündigen. Er selbst gelangte um ½10 Uhr vormittags zum Bahnhofe, legte sein Gepäck ab, machte in der kleinen Stadt allerlei Besorgungen und nahm sich vor, darauf den Besuch bei A. zu machen. Das Dorf, in dem A. stationiert war, lag etwa eine Stunde mit dem Wagen von der Stadt P. entfernt. Die Eisenbahnfahrt nach dem Orte [Z.], wo sich das Postamt befand, hätte drei Stunden betragen; so meinte er, es würde noch gerade gelingen, nach Ausführung seines komplizierten Planes den von P. nach Wien abgehenden Abendzug zu erreichen. Die Ideen, die sich bekämpften, lauteten einerseits: es sei doch eine Feigheit von ihm, er wolle sich offenbar nur die Unbequemlichkeit ersparen, von A. dieses Opfer zu verlangen und vor ihm als Narr dazustehen, und setze sich deshalb über seinen Eid hinweg; anderseits: es sei im Gegenteile eine Feigheit, wenn er den Eid ausführe, da er sich dadurch nur Ruhe vor den Zwangsvorstellungen schaffen wolle. Wenn in einer Überlegung die Argumente einander so die Waage hielten, so lasse er sich gewöhnlich von zufälligen Ereignissen wie von Gottesurteilen treiben. Darum sagte er: Ja, als ein Gepäckträger ihn auf dem Bahnhofe fragte: Zum Zug um 10 Uhr, Herr Leutnant?, fuhr um 10 Uhr ab und hatte so ein fait accompli geschaffen, das ihn sehr erleichterte. Beim Kondukteur des Speisewagens nahm er noch eine Marke für die Table d’höte. In der ersten Station fiel ihm plötzlich ein, jetzt könne er noch aussteigen, den Gegenzug abwarten, mit diesem nach P. und an den Ort, wo Oberleutnant A. sich aufhielt, fahren, mit ihm dann die dreistündige Bahnfahrt zum Postamt machen usf. Nur die Rücksicht auf die Zusage, die er dem Kellner gegeben, hielt ihn von der Ausführung dieser Absicht ab; er gab sie aber nicht auf, sondern verschob das Aussteigen auf eine spätere Station. So schlug er sich von Station zu Station durch, bis er zu einer gelangte, in welcher ihm das Aussteigen unmöglich erschien, weil er dort Verwandte hatte, und er beschloß, nach Wien durchzufahren, dort seinen Freund aufzusuchen, ihm die Sache vorzutragen und nach dessen Entscheidung noch mit dem Nachtzug nach P. zurückzufahren. Meinem Zweifel, ob das zusammengegangen wäre, begegnet er mit der Versicherung, er hätte zwischen der Ankunft des einen und der Abfahrt des anderen Zuges eine halbe Stunde frei gehabt. In Wien angelangt, traf er den Freund aber nicht in dem Gasthause, wo er ihn zu treffen erwartet hatte, kam erst um 11 Uhr abends in die Wohnung seines Freundes und trug ihm noch in der Nacht seine Sache vor. Der Freund schlug die Hände zusammen, daß er noch immer zweifeln könne, ob es eine Zwangsvorstellung gewesen sei, beruhigte ihn für diese Nacht, so daß er ausgezeichnet schlief, und ging mit ihm am nächsten Vormittag zur Post, um die Kronen 3.80 — an die Adresse des Postamtes [Z.], woselbst das Zwickerpaket angekommen war, aufzugeben.

Letztere Mitteilung gab mir den Anhaltspunkt, die Entstellungen seiner Erzählung zu entwirren. Wenn er, durch den Freund zur Besinnung gebracht, die kleine Summe nicht an Oberleutnant A. und nicht an Oberleutnant B., sondern ans Postamt direkt absandte, so mußte er ja wissen und schon bei seiner Abreise gewußt haben, daß er niemand anderem als dem Postbeamten die Nachnahmegebühr schuldig geblieben sei. Es ergab sich wirklich, daß er dies schon vor der Aufforderung des Hauptmanns und vor seinem Eide gewußt hatte, denn er erinnerte sich jetzt, daß er einige Stunden vor der Begegnung mit dem grausamen Hauptmanne Gelegenheit hatte, sich einem andern Hauptmann vorzustellen, der ihm den richtigen Sachverhalt mitgeteilt hatte. Dieser Offizier erzählte ihm, als er seinen Namen hörte, er sei vor kurzem auf dem Postamt gewesen und vom Postfräulein befragt worden, ob er einen Leutnant H. (eben unseren Patienten) kenne, für den ein Paket mit Nachnahme angekommen sei. Er erwiderte verneinend, aber das Fräulein meinte, sie habe Zutrauen zu dem unbekannten Leutnant und werde unterdes die Gebühr selbst erlegen. Auf diese Weise kam unser Patient in den Besitz des von ihm bestellten Zwickers. Der grausame Hauptmann beging einen Irrtum, als er bei der Einhändigung des Pakets mahnte, die Kronen 3.80 dem A. zurückzugeben. Unser Patient mußte wissen, daß dies ein Irrtum sei. Trotzdem leistete er den auf diesen Irrtum gegründeten Schwur, der ihm zur Qual werden mußte. Die Episode des andern Hauptmannes und die Existenz des vertrauensvollen Postfräuleins hatte er dabei sich und in der Wiedergabe auch mir unterschlagen. Ich gebe zu, daß sein Benehmen nach dieser Richtigstellung noch unsinniger und unverständlicher wird als vorher.

Nachdem er seinen Freund verlassen hatte und zu seiner Familie zurückgekehrt war, befielen ihn die Zweifel von neuem. Die Argumente seines Freundes seien ja keine anderen gewesen als seine eigenen, und er täuschte sich nicht darüber, daß die zeitweilige Beruhigung nur auf den persönlichen Einfluß des Freundes zurückzuführen war. Der Entschluß, einen Arzt aufzusuchen, wurde auf folgende geschickte Art in das Delir verwoben. Er werde sich von einem Arzte ein Zeugnis ausstellen lassen, daß er eines solchen Aktes, wie er ihn mit Oberleutnant A. ausgedacht, zu seiner Herstellung bedürfe, und dieser werde sich durch das Zeugnis gewiß bewegen lassen, die Kronen 3.80 von ihm anzunehmen. Der Zufall, der ihm gerade damals ein Buch von mir in die Hand spielte, lenkte seine Wahl auf mich. Bei mir war aber von jenem Zeugnis nicht die Rede, er forderte sehr verständig nur die Befreiung von seinen Zwangsvorstellungen. Viele Monate später tauchte auf der Höhe des Widerstandes wieder einmal die Versuchung auf, doch nach P. zu fahren, den Oberleutnant A. aufzusuchen und mit ihm die Komödie des Geldzurückgebens aufzuführen.


  1. Die Namen sind hier fast indifferent.