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F. Die Krankheitsveranlassung

Eines Tages erwähnte unser Patient flüchtig eine Begebenheit, in welcher ich sofort die Krankheitsveranlassung, wenigstens den rezenten Anlaß des noch heute anhaltenden Krankheitsausbruches vor etwa 6 Jahren erkennen mußte. Er selbst hatte keine Ahnung, daß er etwas Bedeutsames vorgebracht hatte; er konnte sich nicht erinnern, der Begebenheit, die er übrigens niemals vergessen hatte, einen Wert beigelegt zu haben. Dieses Verhalten fordert eine theoretische Würdigung heraus.

Bei Hysterie ist es Regel, daß die rezenten Anlässe der Erkrankung der Amnesie ebenso verfallen wie die infantilen Erlebnisse, mit deren Hilfe jene ihre Affektenergie in Symptome umsetzen. Wo ein völliges Vergessen unmöglich ist, da wird die rezente traumatische Veranlassung doch von der Amnesie angenagt und zum mindesten ihrer bedeutsamsten Bestandteile beraubt. Wir sehen in solcher Amnesie den Erweis der stattgehabten Verdrängung. Anders ist es in der Regel bei der Zwangsneurose. Die infantilen Voraussetzungen der Neurose mögen einer — oft nur unvollständigen — Amnesie verfallen sein; die rezenten Anlässe der Erkrankung finden sich dagegen im Gedächtnis erhalten. Die Verdrängung hat sich hier eines andern, eigentlich einfacheren Mechanismus bedient; anstatt das Trauma zu vergessen, hat sie ihm die Affektbesetzung entzogen, so daß im Bewußtsein ein indifferenter, für unwesentlich erachteter Vorstellungsinhalt erübrigt. Der Unterschied liegt im psychischen Geschehen, das wir hinter den Phänomenen konstruieren dürfen; der Erfolg des Vorganges ist fast der nämliche, denn der indifferente Erinnerungsinhalt wird nur selten reproduziert und spielt in der bewußten Gedankentätigkeit der Person keine Rolle. Zur Unterscheidung der beiden Arten der Verdrängung können wir zunächst nur die Versicherung des Patienten verwenden, er habe die Empfindung, daß er das eine immer gewußt, das andere seit langer Zeit vergessen habe.1

Es ist darum kein seltenes Vorkommnis, daß Zwangskranke, die an Selbstvorwürfen leiden und ihre Affekte an falsche Veranlassungen geknüpft haben, dem Arzt auch von den richtigen Mitteilung machen, ohne zu ahnen, daß ihre Vorwürfe nur von diesen letzteren abgetrennt sind. Sie äußern dabei gelegentlich verwundert oder selbst wie prahlerisch: Daraus mache ich mir aber gar nichts. So war es auch in dem ersten Falle von Zwangsneurose, der mir vor vielen Jahren das Verständnis des Leidens eröffnete. Der Patient, ein Staatsbeamter, der an ungezählten Bedenklichkeiten litt, derselbe, von dem ich die Zwangshandlung an dem Ast im Schönbrunner Park berichtet habe, fiel mir dadurch auf, daß er mir für den Besuch in der Sprechstunde stets reine und glatte Papiergulden überreichte. (Wir hatten damals in Österreich noch kein Silbergeld.) Als ich einmal bemerkte, man erkenne doch gleich den Staatsbeamten an den nagelneuen Gulden, die er von der Staatskasse beziehe, belehrte er mich, die Gulden seien keineswegs neu, sondern in seinem Hause gebügelt (geplättet) worden. Er mache sich ein Gewissen daraus, jemand schmutzige Papiergulden in die Hand zu geben; da klebten die gefährlichsten Bakterien daran, die dem Empfänger Schaden bringen könnten. Mir dämmerte damals bereits in unsicherer Ahnung der Zusammenhang der Neurosen mit dem Sexualleben, und so wagte ich es, den Patienten ein andermal zu befragen, wie er es in diesem Punkte hielte. „Oh, alles in Ordnung“, meinte er leichthin, „ich leide keinen Mangel. Ich spiele in vielen guten Bürgerhäusern die Rolle eines lieben alten Onkels, und die benütze ich, um mir von Zeit zu Zeit ein junges Mädchen für eine Landpartie abzubitten. Ich richte es dann so ein, daß wir den Zug versäumen und auf dem Lande übernachten müssen. Ich nehme dann immer zwei Zimmer, ich bin sehr nobel; aber wenn das Mädchen zu Bett ist, komme ich zu ihr und masturbiere sie mit meinen Fingern.“ — „Ja, fürchten Sie denn nicht, daß Sie ihr schaden, wenn Sie mit Ihrer schmutzigen Hand in ihren Genitalien herumarbeiten?“ — Da brauste er aber auf: „Schaden? Was soll es ihr denn schaden? Keiner hat es noch geschadet, und jeder war es recht. Einige von ihnen sind jetzt schon verheiratet, und es hat ihnen nicht geschadet.“ — Er nahm meine Beanständung sehr übel auf und kam nie wieder. Ich konnte mir aber den Kontrast zwischen seiner Bedenklichkeit bei den Papiergulden und seiner Rücksichtslosigkeit beim Mißbrauch der ihm anvertrauten Mädchen nur durch eine Verschiebung des Vorwurfsaffekts erklären. Die Tendenz dieser Verschiebung war deutlich genug; wenn er den Vorwurf dort beließ, wohin er gehörte, so mußte er auf eine sexuelle Befriedigung verzichten, zu der er wahrscheinlich durch starke infantile Determinanten gedrängt war. Er erzielte also durch die Verschiebung einen namhaften Krankheitsgewinn.

Auf die Krankheitsveranlassung bei unserem Patienten muß ich aber nun ausführlicher eingehen. Seine Mutter war als entfernte Verwandte in einer reichen Familie aufgezogen worden, die ein großes industrielles Unternehmen betrieb. Sein Vater trat gleichzeitig mit der Heirat in den Dienst dieses Unternehmens und gelangte so eigentlich infolge seiner Ehewahl zu ziemlichem Wohlstand. Durch Neckereien zwischen den in vortrefflicher Ehe lebenden Eltern hatte der Sohn erfahren, daß der Vater einem hübschen armen Mädchen aus bescheidener Familie den Hof gemacht hatte, eine Zeitlang bevor er die Mutter kennenlernte. Dies die Vorgeschichte. Nach dem Tode des Vaters teilte die Mutter eines Tages dem Sohne mit, es sei zwischen ihr und ihren reichen Verwandten die Rede von seiner Zukunft gewesen, und einer der Vettern habe seine Bereitwilligkeit ausgedrückt, ihm eine seiner Töchter zu geben, wenn er seine Studien beendigt habe; die geschäftliche Verbindung mit der Firma werde ihm dann auch in seinem Berufe glänzende Aussichten eröffnen. Dieser Plan der Familie entzündete in ihm den Konflikt, ob er seiner armen Geliebten treu bleiben oder in die Fußstapfen des Vaters treten und das schöne, reiche, vornehme Mädchen, das ihm bestimmt worden, zur Frau nehmen solle. Und diesen Konflikt, der eigentlich ein solcher zwischen seiner Liebe und dem fortwirkenden Willen des Vaters war, löste er durch Erkrankung, richtiger gesagt: er entzog sich durch die Erkrankung der Aufgabe, ihn in der Realität zu lösen.2

Der Beweis für diese Auffassung liegt in der Tatsache, daß hartnäckige Arbeitsunfähigkeit, die ihn die Beendigung seiner Studien um Jahre aufschieben ließ, der Haupterfolg der Erkrankung war. Was aber der Erfolg einer Krankheit ist, das lag in der Absicht derselben; die anscheinende Krankheitsfolge ist in Wirklichkeit die Ursache, das Motiv des Krankwerdens.

Meine Aufklärung fand begreiflicherweise bei dem Kranken zunächst keine Anerkennung. Er könne sich eine solche Wirkung des Heiratsplanes nicht vorstellen, derselbe habe ihm seinerzeit nicht den mindesten Eindruck gemacht. Im weiteren Verlaufe der Kur mußte er sich aber auf einem eigentümlichen Wege von der Richtigkeit meiner Vermutung überzeugen. Er erlebte mit Hilfe einer Übertragungsphantasie als neu und gegenwärtig, was er aus der Vergangenheit vergessen hatte oder was nur unbewußt bei ihm abgelaufen war. Aus einer dunkeln und schwierigen Periode der Behandlungsarbeit ergab sich endlich, daß er ein junges Mädchen, welches er einmal auf der Stiege meines Hauses angetroffen, zu meiner Tochter erhoben hatte. Sie erregte sein Wohlgefallen, und er imaginierte, daß ich nur darum so liebenswürdig und unerhört geduldig mit ihm sei, weil ich ihn zum Schwiegersohne wünsche, wobei er den Reichtum und die Vornehmheit meines Hauses bis zu dem ihm zum Vorbild passenden Niveau erhöhte. Gegen diese Versuchung stritt aber in ihm die unauslöschliche Liebe zu seiner Dame. Nachdem wir eine Reihe der schwersten Widerstände und ärgsten Beschimpfungen überwunden hatten, konnte er sich der überzeugenden Wirkung der vollen Analogie zwischen der phantasierten Übertragung und der damaligen Realität nicht entziehen. Ich gebe einen seiner Träume aus dieser Zeit wieder, um den Stil seiner Darstellung an einer Probe zu zeigen. Er sieht meine Tochter vor sich, aber sie hat zwei Dreckpatzen anstatt der Augen. Für jeden, der die Sprache der Träume versteht, wird die Übersetzung leicht sein: Er heiratet meine Tochter nicht ihrer schönen Augen, sondern ihres Geldes wegen.


  1. Man muß also zugeben, daß es für die Zwangsneurose zweierlei Wissen und Kennen gibt, und darf mit dem gleichen Rechte behaupten, der Zwangskranke „kenne“ seine Traumen, wie, daß er sie nicht „kenne“. Er kennt sie nämlich, insofern er sie nicht vergessen hat, er kennt sie nicht, da er nicht ihre Bedeutung erkennt. Es ist im normalen Leben oft auch nicht anders. Die Kellner, die den Philosophen Schopenhauer in seinem Stammgasthaus zu bedienen pflegten, „kannten“ ihn in gewissem Sinne zu einer Zeit, da er sonst in und außerhalb Frankfurt unbekannt war, aber nicht in dem Sinne, den wir heute mit der „Kenntnis“ von Schopenhauer verbinden.
  2. Es ist hervorzuheben, daß die Flucht in die Krankheit ihm durch die Identifizierung mit dem Vater ermöglicht wurde. Diese gestattete ihm die Regression der Affekte auf die Kindheitsreste.