〈Die einsamen Jahre Freuds〉
Durch die Aufrollung dieser Entstehungsgeschichte glaube ich besser als durch eine systematische Darstellung gezeigt zu haben, was die Psychoanalyse ist. Die besondere Natur meiner Funde erkannte ich zunächst nicht. Ich opferte unbedenklich meine beginnende Beliebtheit als Arzt und den Zulauf der Nervösen in meine Sprechstunde, indem ich konsequent nach der sexuellen Verursachung ihrer Neurosen forschte, wobei ich eine Anzahl von Erfahrungen machte, die meine Überzeugung von der praktischen Bedeutung des sexuellen Moments endgültig festlegten. Ich trat ahnungslos in der Wiener Fachvereinigung, damals unter dem Vorsitze von v. Krafft-Ebing, als Redner auf, der erwartete, durch Interesse und Anerkennung seiner Kollegen für seine freiwillige materielle Schädigung entschädigt zu werden. Ich behandelte meine Entdeckungen wie indifferente Beiträge zur Wissenschaft und hoffte dasselbe von den anderen. Erst die Stille, die sich nach meinen Vorträgen erhob, die Leere, die sich um meine Person bildete, die Andeutungen, die mir zugetragen wurden, ließen mich allmählich begreifen, daß Behauptungen über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen nicht darauf rechnen könnten, so behandelt zu werden wie andere Mitteilungen. Ich verstand, daß ich von jetzt ab zu denen gehörte, die „am Schlaf der Welt gerührt haben“, nach Hebbels Ausdruck, und daß ich auf Objektivität und Nachsicht nicht zählen durfte. Da aber meine Überzeugung von der durchschnittlichen Richtigkeit meiner Beobachtungen und Schlußfolgerungen immer mehr wuchs und mein Zutrauen zu meinem eigenen Urteile sowie mein moralischer Mut nicht eben gering waren, konnte der Ausgang dieser Situation nicht zweifelhaft sein. Ich entschloß mich zu glauben, daß mir das Glück zugefallen war, besonders bedeutungsvolle Zusammenhänge aufzudecken, und fand mich bereit, das Schicksal auf mich zu nehmen, das mitunter an solches Finden geknüpft ist.
Dies Schicksal stellte ich mir in folgender Weise vor: Es würde mir wahrscheinlich gelingen, mich durch die therapeutischen Erfolge des neuen Verfahrens zu erhalten, die Wissenschaft aber würde zu meinen Lebzeiten keine Notiz von mir nehmen. Einige Dezennien später würde ein anderer unfehlbar auf dieselben, jetzt nicht zeitgemäßen Dinge stoßen, ihre Anerkennung durchsetzen und mich so als notwendigerweise verunglückten Vorläufer zu Ehren bringen. Unterdes richtete ich’s mir als Robinson auf meiner einsamen Insel möglichst behaglich ein. Wenn ich aus den Verwirrungen und Bedrängnissen der Gegenwart auf jene einsamen Jahre zurückblicke, will es mir scheinen, es war eine schöne heroische Zeit; die splendid isolation entbehrte nicht ihrer Vorzüge und Reize. Ich hatte keine Literatur zu lesen, keinen schlecht unterrichteten Gegner anzuhören, ich war keinem Einfluß unterworfen, durch nichts gedrängt. Ich erlernte es, spekulative Neigungen zu bändigen und nach dem unvergessenen Rat meines Meisters Charcot, dieselben Dinge so oft von neuem anzuschauen, bis sie von selbst begannen, etwas auszusagen. Meine Veröffentlichungen, für die ich mit einiger Mühe auch Unterkunft fand, konnten immer weit hinter meinem Wissen zurückbleiben, durften beliebig aufgeschoben werden, da keine zweifelhafte „Priorität“ zu verteidigen war. Die „Traumdeutung“ z. B. war in allem Wesentlichen anfangs 1896 fertig, sie wurde aber erst im Sommer 1899 niedergeschrieben. Die Behandlung der „Dora“ schloß zu Ende 1900 ab, ihre Krankengeschichte war in den nächsten zwei Wochen fixiert, wurde aber erst 1905 veröffentlicht. Unterdes wurden meine Schriften in der Fachliteratur nicht referiert oder, wenn dies ausnahmsweise geschah, mit höhnischer oder mitleidiger Überlegenheit zurückgewiesen. Gelegentlich wandte mir auch ein Fachgenosse in einer seiner Publikationen eine Bemerkung zu, die sehr kurz und nicht sehr schmeichelhaft war, etwa: verbohrt, extrem, sehr sonderbar. Einmal traf es sich, daß ein Assistent der Klinik in Wien, an der ich meine Semestralvorlesung abhielt, sich von mir die Erlaubnis nahm, diesen Vorlesungen anzuwohnen. Er hörte sehr andächtig zu, sagte nichts, bot sich aber nach der letzten Vorlesung zu einer Begleitung an. Während dieses Spazierganges eröffnete er mir, er habe mit Wissen seines Chefs ein Buch gegen meine Lehre geschrieben, bedauere aber sehr, dieselbe erst durch meine Vorlesungen besser kennengelernt zu haben. Er hätte sonst vieles anders geschrieben. Allerdings habe er sich auf der Klinik erkundigt, ob er nicht vorher die „Traumdeutung“ lesen solle, aber man habe ihm abgeraten, es sei nicht der Mühe wert. Er verglich dann selbst mein Lehrgebäude, wie er es jetzt verstanden habe, nach der Festigkeit seines inneren Gefüges mit der katholischen Kirche. Im Interesse seines Seelenheils will ich annehmen, daß in dieser Äußerung ein Stück Anerkennung enthalten war. Er schloß dann aber, es sei zu spät, an seinem Buche etwas abzuändern, es sei bereits gedruckt. Der betreffende Kollege hatte es auch nicht für nötig erachtet, der Mitwelt späterhin etwas von der Änderung seiner Meinungen über meine Psychoanalyse bekanntzugeben, sondern es vorgezogen, die Entwicklung derselben als ständiger Referent einer medizinischen Zeitschrift mit spaßhaften Glossen zu begleiten.
Was ich an persönlicher Empfindlichkeit besaß, wurde in jenen Jahren zu meinem Vorteile abgestumpft. Vor der Verbitterung wurde ich aber durch einen Umstand bewahrt, der nicht allen vereinsamten Entdeckern zu Hilfe kommt. Ein solcher quält sich ja sonst ab zu ergründen, woher die Teilnahmslosigkeit oder Ablehnung seiner Zeitgenossen rührt, und empfindet sie als einen peinigenden Widerspruch gegen die Sicherheit seiner eigenen Überzeugung. Das brauchte ich nicht, denn die psychoanalytische Lehre gestattete mir, dies Verhalten der Umwelt als notwendige Folge aus den analytischen Grundannahmen zu verstehen. Wenn es richtig war, daß die von mir aufgedeckten Zusammenhänge dem Bewußtsein der Kranken durch innere affektive Widerstände ferngehalten werden, so mußten sich diese Widerstände auch bei den Gesunden einstellen, sobald man ihnen das Verdrängte durch Mitteilung von außen zuführte. Daß diese letzteren die affektiv gebotene Ablehnung durch intellektuelle Begründung zu motivieren verstanden, war nicht verwunderlich. Es ereignete sich bei den Kranken ebenso häufig, und die ins Feld geführten Argumente — Argumente sind so gemein wie Brombeeren, mit Falstaff zu reden — waren die nämlichen und nicht gerade scharfsinnig. Der Unterschied war nur, daß man bei den Kranken über Pressionsmittel verfügte, um sie ihre Widerstände einsehen und überwinden zu lassen, bei den angeblich Gesunden solcher Hilfen aber entbehrte. Auf welche Weise man diese Gesunden zu einer kühlen, wissenschaftlich objektiven Überprüfung drängen könne, war ein ungelöstes Problem, dessen Erledigung am besten der Zeit vorbehalten blieb. Man hatte in der Geschichte der Wissenschaften oft feststellen können, daß dieselbe Behauptung, die anfangs nur Widerspruch hervorgerufen hatte, eine Weile später zur Anerkennung kam, ohne daß neue Beweise für sie erbracht worden wären.
Daß sich aber in diesen Jahren, als ich allein die Psychoanalyse vertrat, ein besonderer Respekt vor dem Urteil der Welt oder ein Hang zur intellektuellen Nachgiebigkeit bei mir entwickelt habe, wird wohl niemand erwarten dürfen.