〈Die Entdeckung der infantilen Sexualität〉
Ein ebensolcher Erwerb, nur aus viel späterer Zeit, ist die Aufstellung der infantilen Sexualität, von welcher in den ersten Jahren tastender Forschung durch die Analyse noch nicht die Rede war. Man merkte zuerst nur, daß man die Wirkung aktueller Eindrücke auf Vergangenes zurückführen müßte. Allein, „der Sucher fand oft mehr, als er zu finden wünschte“. Man wurde immer weiter zurück in diese Vergangenheit gelockt, und endlich hoffte man in der Pubertätszeit verweilen zu dürfen, in der Epoche des traditionellen Erwachens der Sexualregungen. Vergeblich, die Spuren wiesen noch weiter nach rückwärts, in die Kindheit und in frühe Jahre derselben. Auf dem Wege dahin galt es, einen Irrtum zu überwinden, der für die junge Forschung fast verhängnisvoll geworden wäre. Unter dem Einfluß der an Charcot anknüpfenden traumatischen Theorie der Hysterie war man leicht geneigt, Berichte der Kranken für real und ätiologisch bedeutsam zu halten, welche ihre Symptome auf passive sexuelle Erlebnisse in den ersten Kinderjahren, also grob ausgedrückt: auf Verführung zurückleiteten. Als diese Ätiologie an ihrer eigenen Unwahrscheinlichkeit und an dem Widerspruche gegen sicher festzustellende Verhältnisse zusammenbrach, war ein Stadium völliger Ratlosigkeit das nächste Ergebnis. Die Analyse hatte auf korrektem Wege bis zu solchen infantilen Sexualtraumen geführt, und doch waren diese unwahr. Man hatte also den Boden der Realität verloren. Damals hätte ich gerne die ganze Arbeit im Stiche gelassen, ähnlich wie mein verehrter Vorgänger Breuer bei seiner unerwünschten Entdeckung. Vielleicht harrte ich nur aus, weil ich keine Wahl mehr hatte, etwas anderes zu beginnen. Endlich kam die Besinnung, daß man ja kein Recht zum Verzagen habe, wenn man nur in seinen Erwartungen getäuscht worden sei, sondern diese Erwartungen revidieren müsse. Wenn die Hysteriker ihre Symptome auf erfundene Traumen zurückführen, so ist eben die neue Tatsache die, daß sie solche Szenen phantasieren, und die psychische Realität verlangt neben der praktischen Realität gewürdigt zu werden. Es folgte bald die Einsicht, daß diese Phantasien dazu bestimmt seien, die autoerotische Betätigung der ersten Kinderjahre zu verdecken, zu beschönigen und auf eine höhere Stufe zu heben, und nun kam hinter diesen Phantasien das Sexualleben des Kindes in seinem ganzen Umfange zum Vorschein.
In dieser Sexualtätigkeit der ersten Kinderjahre konnte endlich auch die mitgebrachte Konstitution zu ihrem Rechte kommen. Anlage und Erleben verknüpften sich hier zu einer unlösbaren ätiologischen Einheit, indem die Anlage Eindrücke zu anregenden und fixierenden Traumen erhob, welche sonst, durchaus banal, wirkungslos geblieben wären, und indem die Erlebnisse Faktoren aus der Disposition wachriefen, welche ohne sie lange geschlummert hätten und vielleicht unentwickelt geblieben wären. Das letzte Wort in der Frage der traumatischen Ätiologie sprach dann später Abraham (1907) aus, als er darauf hinwies, wie gerade die Eigenart der sexuellen Konstitution des Kindes sexuelle Erlebnisse von besonderer Art, also Traumen, zu provozieren versteht.1
Meine Aufstellungen über die Sexualität des Kindes waren anfangs fast ausschließlich auf die Ergebnisse der in die Vergangenheit rückschreitenden Analyse von Erwachsenen begründet. Zu direkten Beobachtungen am Kinde fehlte mir die Gelegenheit. Es war also ein außerordentlicher Triumph, als es Jahre später gelang, den größten Teil des Erschlossenen durch direkte Beobachtung und Analyse von Kindern in sehr frühen Jahren zu bestätigen, ein Triumph, der allmählich durch die Überlegung verringert wurde, die Entdeckung sei von solcher Art, daß man sich eigentlich schämen müsse, sie gemacht zu haben. Je weiter man sich in die Beobachtung des Kindes einließ, desto selbstverständlicher wurde die Tatsache, desto sonderbarer aber auch der Umstand, daß man sich solche Mühe gegeben hatte, sie zu übersehen.
Eine so sichere Überzeugung von der Existenz und Bedeutung der Kindersexualität kann man allerdings nur gewinnen, wenn man den Weg der Analyse geht, von den Symptomen und Eigentümlichkeiten der Neurotiker rückschreitet bis zu den letzten Quellen, deren Aufdeckung erklärt, was an ihnen erklärbar ist, und zu modifizieren gestattet, was sich etwa abändern läßt. Ich verstehe es, daß man zu anderen Resultaten kommt, wenn man, wie kürzlich C. G. Jung, sich zunächst eine theoretische Vorstellung von der Natur des Sexualtriebes bildet und von dieser aus das Leben des Kindes begreifen will. Eine solche Vorstellung kann nicht anders als willkürlich oder mit Rücksicht auf abseits liegende Erwägungen gewählt sein und läuft Gefahr, dem Gebiet inadäquat zu werden, auf welches man sie anwenden will. Gewiß führt auch der analytische Weg zu gewissen letzten Schwierigkeiten und Dunkelheiten in betreff der Sexualität und ihres Verhältnisses zum Gesamtleben des Individuums, aber diese können nicht durch Spekulationen beseitigt werden, sondern müssen bleiben, bis sie Lösung durch andere Beobachtungen oder Beobachtungen auf anderen Gebieten finden.
- Klinische Beiträge zur Psychoanalyse aus den Jahren 1907—1920. Intern. Psychoanalyt. Bibliothek, Band X, 1921.↩