Zum Hauptinhalt springen

〈Neue Trieblehre, Metapsychologie, Relevanz für die Psychiatrie〉

Kein Bedürfnis wird in der Psychologie dringender empfunden als nach einer tragfähigen Trieblehre, auf welcher man weiterbauen kann. Allein nichts dergleichen ist vorhanden, die Psychoanalyse muß sich in tastenden Versuchen um eine Trieblehre bemühen. Sie stellte zuerst den Gegensatz von Ichtrieben (Selbsterhaltung, Hunger) und von libidinösen Trieben (Liebe) auf, ersetzte ihn dann durch den neuen von narzißtischer und Objektlibido. Damit war offenbar das letzte Wort nicht gesprochen; biologische Erwägungen schienen zu verbieten, daß man sich mit der Annahme einer einzigen Art von Trieben begnüge.

In den Arbeiten meiner letzten Jahre („Jenseits des Lustprinzips“, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, „Das Ich und das Es“) habe ich der lange niedergehaltenen Neigung zur Spekulation freien Lauf gelassen und dort auch eine neue Lösung des Triebproblems ins Auge gefaßt. Ich habe Selbst- und Arterhaltung unter den Begriff des Eros zusammengefaßt und ihm den geräuschlos arbeitenden Todes- oder Destruktionstrieb gegenübergestellt. Der Trieb wird ganz allgemein erfaßt als eine Art Elastizität des Lebenden, als ein Drang nach Wiederherstellung einer Situation, die einmal bestanden hatte und durch eine äußere Störung aufgehoben worden war. Diese im Wesen konservative Natur der Triebe wird durch die Erscheinungen des Wiederholungszwanges erläutert. Das Zusammen- und Gegeneinanderwirken von Eros und Todestrieb ergibt für uns das Bild des Lebens.

Es steht dahin, ob sich diese Konstruktion als brauchbar erproben wird. Sie ist zwar von dem Bestreben geleitet worden, einige der wichtigsten theoretischen Vorstellungen der Psychoanalyse zu fixieren, aber sie geht weit über die Psychoanalyse hinaus. Ich habe wiederholt die geringschätzige Äußerung gehört, man könne nichts von einer Wissenschaft halten, deren oberste Begriffe so unscharf wären wie die der Libido und des Triebes in der Psychoanalyse. Aber diesem Vorwurf liegt eine völlige Verkennung des Sachverhalts zugrunde. Klare Grundbegriffe und scharf umrissene Definitionen sind nur in den Geisteswissenschaften möglich, soweit diese ein Tatsachengebiet in den Rahmen einer intellektuellen Systembildung fassen wollen. In den Naturwissenschaften, zu denen die Psychologie gehört, ist solche Klarheit der Oberbegriffe überflüssig, ja unmöglich. Zoologie und Botanik haben nicht mit korrekten und zureichenden Definitionen von Tier und Pflanze begonnen, die Biologie weiß noch heute den Begriff des Lebenden nicht mit sicherem Inhalt zu erfüllen. Ja, selbst die Physik hätte ihre ganze Entwicklung versäumt, wenn sie hätte abwarten müssen, bis ihre Begriffe von Stoff, Kraft, Gravitation und andere die wünschenswerte Klarheit und Präzision erreichten. Die Grundvorstellungen oder obersten Begriffe der naturwissenschaftlichen Disziplinen werden immer zunächst unbestimmt gelassen, vorläufig nur durch den Hinweis auf das Erscheinungsgebiet erläutert, dem sie entstammen, und können erst durch die fortschreitende Analyse des Beobachtungsmaterials klar, inhaltsreich und widerspruchsfrei werden. Ich habe es immer als grobe Ungerechtigkeit empfunden, daß man die Psychoanalyse nicht behandeln wollte wie jede andere Naturwissenschaft. Diese Verweigerung kam in den hartnäckigsten Einwendungen zum Ausdruck. Man macht der Psychoanalyse jede ihrer Unvollständigkeiten und Unvollkommenheiten zum Vorwurf, während eine auf Beobachtung gegründete Wissenschaft doch nicht anders kann, als ihre Ergebnisse stückweise herauszuarbeiten und ihre Probleme schrittweise zu lösen. Noch mehr, wenn wir bemüht waren, der Sexualfunktion die Anerkennung zu verschaffen, die ihr so lange versagt worden war, so wurde die psychoanalytische Theorie als „Pansexualismus“ gebrandmarkt, wenn wir die bisher übersehene Rolle akzidenteller Eindrücke der frühen Jugendzeit betonten, mußten wir hören, daß die Psychoanalyse die Faktoren der Konstitution und der Heredität verleugne, was uns niemals eingefallen war. Es war Widerspruch um jeden Preis und mit allen Mitteln.

Ich habe schon in früheren Phasen meiner Produktion den Versuch gemacht, von der psychoanalytischen Beobachtung aus allgemeinere Gesichtspunkte zu erreichen. 1911 betonte ich in einem kleinen Aufsatz „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ in gewiß nicht origineller Weise die Vorherrschaft des Lust-Unlust-Prinzips für das Seelenleben und dessen Ablösung durch das sogenannte „Realitätsprinzip“. Später wagte ich den Versuch einer „Metapsychologie“. Ich nannte so eine Weise der Betrachtung, in der jeder seelische Vorgang nach den drei Koordinaten der Dynamik, Topik und Ökonomie gewürdigt wird, und sah in ihr das äußerste Ziel, das der Psychologie erreichbar ist. Der Versuch blieb ein Torso, ich brach nach wenigen Abhandlungen („Triebe und Triebschicksale“ — „Verdrängung“ — „Das Unbewußte“ — „Trauer und Melancholie“ usw.) ab und tat gewiß wohl daran, denn die Zeit für solche theoretische Festlegung war noch nicht gekommen. In meinen letzten spekulativen Arbeiten habe ich es unternommen, unseren seelischen Apparat auf Grund analytischer Verwertung der pathologischen Tatsachen zu gliedern, und habe ihn in ein Ich, ein Es und ein Über-Ich zerlegt.1 Das Über-Ich ist der Erbe des Ödipuskomplexes und der Vertreter der ethischen Anforderungen des Menschen.

Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte ich in dieser letzten Periode meiner Arbeit der geduldigen Beobachtung den Rücken gewendet und mich durchaus der Spekulation überlassen. Ich bin vielmehr immer in inniger Berührung mit dem analytischen Material geblieben und habe die Bearbeitung spezieller, klinischer oder technischer Themata nie eingestellt. Auch wo ich mich von der Beobachtung entfernte, habe ich die Annäherung an die eigentliche Philosophie sorgfältig vermieden. Konstitutionelle Unfähigkeit hat mir solche Enthaltung sehr erleichtert. Ich war immer für die Ideen G. Th. Fechners zugänglich und habe mich auch in wichtigen Punkten an diesen Denker angelehnt. Die weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers — er hat nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt — lassen sich nicht auf meine Bekanntschaft mit seiner Lehre zurückführen. Ich habe Schopenhauer sehr spät im Leben gelesen. Nietzsche, den anderen Philosophen, dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit.

Die Neurosen waren das erste, lange Zeit auch das einzige Objekt der Analyse gewesen. Keinem Analytiker blieb es zweifelhaft, daß die medizinische Praxis unrecht hat, welche diese Affektionen von den Psychosen fernhält und an die organischen Nervenleiden anschließt. Die Neurosenlehre gehört zur Psychiatrie, ist unentbehrlich zur Einführung in dieselbe. Nun scheint das analytische Studium der Psychosen durch die therapeutische Aussichtslosigkeit einer solchen Bemühung ausgeschlossen. Den psychisch Kranken fehlt im allgemeinen die Fähigkeit zur positiven Übertragung, so daß das Hauptmittel der analytischen Technik unanwendbar ist. Aber es ergeben sich doch mancherlei Zugänge. Die Übertragung ist oft nicht so völlig abwesend, daß man nicht ein Stück weit mit ihr kommen könnte, bei zyklischen Verstimmungen, leichter paranoischer Veränderung, partieller Schizophrenie hat man unzweifelhafte Erfolge mit der Analyse erzielt. Es war auch wenigstens für die Wissenschaft ein Vorteil, daß in vielen Fällen die Diagnose längere Zeit zwischen der Annahme einer Psychoneurose und der einer Dementia praecox schwanken kann; der angestellte therapeutische Versuch konnte so wichtige Aufschlüsse bringen, ehe er abgebrochen werden mußte. Am meisten kommt aber in Betracht, daß in den Psychosen so vieles für jedermann sichtbar an die Oberfläche gebracht wird, was man bei den Neurosen in mühsamer Arbeit aus der Tiefe heraufholt. Für viele analytische Behauptungen ergibt darum die psychiatrische Klinik die besten Demonstrationsobjekte. Es konnte also nicht ausbleiben, daß die Analyse bald den Weg zu den Objekten der psychiatrischen Beobachtung fand. Sehr frühzeitig (1896) habe ich an einem Fall von paranoider Demenz die gleichen ätiologischen Momente und das Vorhandensein der nämlichen affektiven Komplexe wie bei den Neurosen feststellen können. Jung hat rätselhafte Stereotypien bei Dementen durch Rückbeziehung auf die Lebensgeschichte der Kranken aufgeklärt; Bleuler bei verschiedenen Psychosen Mechanismen aufgezeigt wie die durch Analyse bei den Neurotikern eruierten. Seither haben die Bemühungen der Analytiker um das Verständnis der Psychosen nicht mehr aufgehört. Besonders seitdem man mit dem Begriff des Narzißmus arbeitete, gelang es bald an dieser, bald an jener Stelle, einen Blick über die Mauer zu tun. Am weitesten hat es wohl Abraham in der Aufklärung der Melancholien gebracht. Auf diesem Gebiet setzt sich zwar gegenwärtig nicht alles Wissen in therapeutische Macht um; aber auch der bloß theoretische Gewinn ist nicht gering anzuschlagen und mag gern auf seine praktische Verwendung warten. Auf die Dauer können auch die Psychiater der Beweiskraft ihres Krankenmaterials nicht widerstehen. Es vollzieht sich jetzt in der deutschen Psychiatrie eine Art von pénétration pacifique mit analytischen Gesichtspunkten. Unter unausgesetzten Beteuerungen, daß sie keine Psychoanalytiker sein wollen, nicht der „orthodoxen“ Schule angehören, deren Übertreibungen nicht mitmachen, insbesondere aber an das übermächtige sexuelle Moment nicht glauben, machen doch die meisten der jüngeren Forscher dies oder jenes Stück der analytischen Lehre zu ihrem Eigen und wenden es in ihrer Weise auf das Material an. Alle Anzeichen deuten auf das Bevorstehen weiterer Entwicklungen nach dieser Richtung.