〈Sexuelle Ätiologie der Neurosen〉
Die Theorie, die wir in den „Studien“ aufzubauen versucht hatten, war ja noch sehr unvollständig gewesen, insbesondere das Problem der Ätiologie, die Frage, auf welchem Boden der pathogene Vorgang entstehe, hatten wir kaum berührt. Nun zeigte mir eine rasch sich steigernde Erfahrung, daß nicht beliebige Affekterregungen hinter den Erscheinungen der Neurose wirksam waren, sondern regelmäßig solche sexueller Natur, entweder aktuelle sexuelle Konflikte oder Nachwirkungen früherer sexueller Erlebnisse. Ich war auf dieses Resultat nicht vorbereitet, meine Erwartung hatte keinen Anteil daran, ich war vollkommen arglos an die Untersuchung der Neurotiker herangetreten. Als ich 1914 die „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ schrieb, tauchte in mir die Erinnerung an einige Aussprüche von Breuer, Charcot und Chrobak auf, aus denen ich eine solche Erkenntnis hätte frühzeitig gewinnen können. Allein ich verstand damals nicht, was diese Autoritäten meinten; sie hatten mir mehr gesagt, als sie selbst wußten und zu vertreten bereit waren. Was ich von ihnen gehört hatte, schlummerte unwirksam in mir, bis es bei Gelegenheit der kathartischen Untersuchungen als anscheinend originelle Erkenntnis hervorbrach. Auch wußte ich damals noch nicht, daß ich mit der Zurückführung der Hysterie auf Sexualität bis auf die ältesten Zeiten der Medizin zurückgegriffen und an Plato angeknüpft hatte. Ich erfuhr es erst später aus einem Aufsatz von Havelock Ellis.
Unter dem Einfluß meines überraschenden Fundes machte ich nun einen folgenschweren Schritt. Ich ging über die Hysterie hinaus und begann, das Sexualleben der sogenannten Neurastheniker zu erforschen, die sich zahlreich in meiner Sprechstunde einzufinden pflegten. Dieses Experiment kostete mich zwar meine Beliebtheit als Arzt, aber es trug mir Überzeugungen ein, die sich heute, fast dreißig Jahre später, noch nicht abgeschwächt haben. Man hatte viel Verlogenheit und Geheimtuerei zu überwinden, aber wenn das gelungen war, fand man, daß bei all diesen Kranken schwere Mißbräuche der Sexualfunktion bestanden. Bei der großen Häufigkeit solcher Mißbräuche einerseits, der Neurasthenie andererseits, hatte ein häufiges Zusammentreffen beider natürlich nicht viel Beweiskraft, aber es blieb auch nicht bei dieser einen groben Tatsache. Schärfere Beobachtung legte mir nahe, aus dem bunten Gewirre von Krankheitsbildern, die man mit dem Namen Neurasthenie deckte, zwei grundverschiedene Typen herauszugreifen, die in beliebiger Vermengung vorkommen konnten, aber doch in reiner Ausprägung zu beobachten waren. Bei dem einen Typus war der Angstanfall das zentrale Phänomen mit seinen Äquivalenten, rudimentären Formen und chronischen Ersatzsymptomen; ich hieß ihn darum auch Angstneurose. Auf den anderen Typus beschränkte ich die Bezeichnung Neurasthenie. Nun war es leicht festzustellen, daß jedem dieser Typen eine andere Abnormität des Sexuallebens als ätiologisches Moment entsprach (coitus interruptus, frustrane Erregung, sexuelle Enthaltung hier, exzessive Masturbation, gehäufte Pollutionen dort). Für einige besonders instruktive Fälle, in denen eine überraschende Wendung des Krankheitsbildes von dem einen Typus zum anderen stattgefunden hatte, gelang es auch nachzuweisen, daß ein entsprechender Wechsel des sexuellen Regimes zugrunde lag. Konnte man den Mißbrauch abstellen und durch normale Sexualtätigkeit ersetzen, so lohnte sich dies durch eine auffällige Besserung des Zustandes.
So wurde ich dazu geführt, die Neurosen ganz allgemein als Störungen der Sexualfunktion zu erkennen, und zwar die sogenannten Aktualneurosen als direkten toxischen Ausdruck, die Psychoneurosen als psychischen Ausdruck dieser Störungen. Mein ärztliches Gewissen fühlte sich durch diese Aufstellung befriedigt. Ich hoffte, eine Lücke in der Medizin ausgefüllt zu haben, die bei einer biologisch so wichtigen Funktion keine anderen Schädigungen als durch Infektion oder grobe anatomische Läsion in Betracht ziehen wollte. Außerdem kam der ärztlichen Auffassung zugute, daß die Sexualität ja keine bloß psychische Sache war. Sie hatte auch ihre somatische Seite, man durfte ihr einen besonderen Chemismus zuschreiben und die Sexualerregung von der Anwesenheit bestimmter, wenn auch noch unbekannter Stoffe ableiten. Es mußte auch seinen guten Grund haben, daß die echten, spontanen Neurosen mit keiner anderen Krankheitsgruppe so viel Ähnlichkeit zeigen wie mit den Intoxikations- und Abstinenzerscheinungen, hervorgerufen durch die Einführung und die Entbehrung gewisser toxisch wirkender Stoffe oder mit dem M. Basedowii, dessen Abhängigkeit vom Produkt der Schilddrüse bekannt ist.
Ich habe später keine Gelegenheit mehr gehabt, auf die Untersuchungen über die Aktualneurosen zurückzukommen. Auch von anderen ist dieses Stück meiner Arbeit nicht fortgesetzt worden. Blicke ich heute auf meine damaligen Ergebnisse zurück, so kann ich sie als erste, rohe Schematisierungen erkennen an einem wahrscheinlich weit komplizierteren Sachverhalt. Aber sie scheinen mir im ganzen heute noch richtig zu sein. Gern hätte ich später noch Fälle von reiner juveniler Neurasthenie dem psychoanalytischen Examen unterzogen; es hat sich leider nicht gefügt. Um mißverständlichen Auffassungen zu begegnen, will ich betonen, daß es mir ferneliegt, die Existenz des psychischen Konflikts und der neurotischen Komplexe bei der Neurasthenie zu leugnen. Die Behauptung geht nur dahin, daß die Symptome dieser Kranken nicht psychisch determiniert und analytisch auflösbar sind, sondern als direkte toxische Folgen des gestörten Sexualchemismus aufgefaßt werden müssen.
Als ich in den nächsten Jahren nach den „Studien“ diese Ansichten über die ätiologische Rolle der Sexualität bei den Neurosen gewonnen hatte, hielt ich über sie einige Vorträge in ärztlichen Vereinen, fand aber nur Unglauben und Widerspruch. Breuer versuchte noch einige Male, das große Gewicht seines persönlichen Ansehens zu meinen Gunsten in die Waagschale zu werfen, aber er erreichte nichts, und es war leicht zu sehen, daß die Anerkennung der sexuellen Ätiologie auch gegen seine Neigungen ging. Er hätte mich durch den Hinweis auf seine eigene erste Patientin schlagen oder irremachen können, bei der sexuelle Momente angeblich gar keine Rolle gespielt hatten. Er tat es aber nie; ich verstand es lange nicht, bis ich gelernt hatte, mir diesen Fall richtig zu deuten und nach einigen früheren Bemerkungen von ihm den Ausgang seiner Behandlung zu rekonstruieren. Nachdem die kathartische Arbeit erledigt schien, hatte sich bei dem Mädchen plötzlich ein Zustand von „Übertragungsliebe“ eingestellt, den er nicht mehr mit ihrem Kranksein in Beziehung brachte, so daß er sich bestürzt von ihr zurückzog. Es war ihm offenbar peinlich, an dieses anscheinende Mißgeschick erinnert zu werden. Im Benehmen gegen mich schwankte er eine Weile zwischen Anerkennung und herber Kritik, dann traten Zufälligkeiten hinzu, wie sie in gespannten Situationen niemals ausbleiben, und wir trennten uns voneinander.
Nun hatte meine Beschäftigung mit den Formen allgemeiner Nervosität die weitere Folge, daß ich die Technik der Katharsis abänderte. Ich gab die Hypnose auf und suchte sie durch eine andere Methode zu ersetzen, weil ich die Einschränkung der Behandlung auf hysteriforme Zustände überwinden wollte. Auch hatten sich mir mit zunehmender Erfahrung zwei schwere Bedenken gegen die Anwendung der Hypnose selbst im Dienste der Katharsis ergeben. Das erste war, daß selbst die schönsten Resultate plötzlich wie weggewischt waren, wenn sich das persönliche Verhältnis zum Patienten getrübt hatte. Sie stellten sich zwar wieder her, wenn man den Weg zur Versöhnung fand, aber man wurde belehrt, daß die persönliche affektive Beziehung doch mächtiger war als alle kathartische Arbeit, und gerade dieses Moment entzog sich der Beherrschung. Sodann machte ich eines Tages eine Erfahrung, die mir in grellem Lichte zeigte, was ich längst vermutet hatte. Als ich einmal eine meiner gefügigsten Patientinnen, bei der die Hypnose die merkwürdigsten Kunststücke ermöglicht hatte, durch die Zurückführung ihres Schmerzanfalls auf seine Veranlassung von ihrem Leiden befreite, schlug sie beim Erwachen ihre Arme um meinen Hals. Der unvermutete Eintritt einer dienenden Person enthob uns einer peinlichen Auseinandersetzung, aber wir verzichteten von da an in stillschweigender Übereinkunft auf die Fortsetzung der hypnotischen Behandlung. Ich war nüchtern genug, diesen Zufall nicht auf die Rechnung meiner persönlichen Unwiderstehlichkeit zu setzen, und meinte, jetzt die Natur des mystischen Elements, welches hinter der Hypnose wirkte, erfaßt zu haben. Um es auszuschalten oder wenigstens zu isolieren, mußte ich die Hypnose aufgeben.
Die Hypnose hatte aber der kathartischen Behandlung außerordentliche Dienste geleistet, indem sie das Bewußtseinsfeld der Patienten erweiterte und ihnen ein Wissen zur Verfügung stellte, über das sie im Wachen nicht verfügten. Es schien nicht leicht, sie darin zu ersetzen. In dieser Verlegenheit kam mir die Erinnerung an ein Experiment zu Hilfe, das ich oft bei Bernheim mit angesehen hatte. Wenn die Versuchsperson aus dem Somnambulismus erwachte, schien sie jede Erinnerung an die Vorfälle während dieses Zustands verloren zu haben. Aber Bernheim behauptete, sie wisse es doch, und wenn er sie aufforderte, sich zu erinnern, wenn er beteuerte, sie wisse alles, sie solle es doch nur sagen, und ihr dabei noch die Hand auf die Stirne legte, so kamen die vergessenen Erinnerungen wirklich wieder, zuerst nur zögernd und dann im Strome und in voller Klarheit. Ich beschloß, es ebenso zu machen. Meine Patienten mußten ja auch all das „wissen“, was ihnen sonst erst die Hypnose zugänglich machte, und mein Versichern und Antreiben, etwa unterstützt durch Handauflegen, sollte die Macht haben, die vergessenen Tatsachen und Zusammenhänge ins Bewußtsein zu drängen. Das schien freilich mühseliger zu sein als die Versetzung in die Hypnose, aber es war vielleicht sehr lehrreich. Ich gab also die Hypnose auf und behielt von ihr nur die Lagerung des Patienten auf einem Ruhebett bei, hinter dem ich saß, so daß ich ihn sah, aber nicht selbst gesehen wurde.