Zum Hauptinhalt springen

A. Beziehung des Traumes zum Wachleben

Das naive Urteil des Erwachten nimmt an, daß der Traum — wenn er schon nicht aus einer anderen Welt stammt — doch den Schläfer in eine andere Welt entrückt hatte. Der alte Physiologe Burdach, dem wir eine sorgfältige und feinsinnige Beschreibung der Traumphänomene verdanken, hat dieser Überzeugung in einem viel bemerkten Satze Ausdruck gegeben (1838, 499): „… nie wiederholt sich das Leben des Tages mit seinen Anstrengungen und Genüssen, seinen Freuden und Schmerzen, vielmehr geht der Traum darauf aus, uns davon zu befreien. Selbst wenn unsere ganze Seele von einem Gegenstande erfüllt war, wenn tiefer Schmerz unser Inneres zerrissen oder eine Aufgabe unsere ganze Geisteskraft in Anspruch genommen hatte, gibt uns der Traum entweder etwas ganz Fremdartiges, oder er nimmt aus der Wirklichkeit nur einzelne Elemente zu seinen Kombinationen, oder er geht nur in die Tonart unserer Stimmung ein und symbolisiert die Wirklichkeit.“ — I. H. Fichte (1864, Bd. 1, 541) spricht im selben Sinne direkt von Ergänzungsträumen und nennt diese eine von den geheimen Wohltaten selbstheilender Natur des Geistes. — In ähnlichem Sinne äußert sich noch L. Strümpell in der mit Recht von allen Seiten hochgehaltenen Studie über die Natur und Entstehung der Träume (1887, 16): „Wer träumt, ist der Welt des wachen Bewußtseins abgekehrt…“ (Ibid., 17): „Im Traume geht das Gedächtnis für den geordneten Inhalt des wachen Bewußtseins und dessen normales Verhalten so gut wie ganz verloren…“ (Ibid., 19): „Die fast erinnerungslose Abgeschiedenheit der Seele im Traum von dem regelmäßigen Inhalte und Verlaufe des wachen Lebens…“

Die überwiegende Mehrheit der Autoren hat aber für die Beziehung des Traumes zum Wachleben die entgegengesetzte Auffassung vertreten. So Haffner (1887, 245): „Zunächst setzt der Traum das Wachleben fort. Unsere Träume schließen sich stets an die kurz zuvor im Bewußtsein gewesenen Vorstellungen an. Eine genaue Beobachtung wird beinahe immer einen Faden finden, in welchem der Traum an die Erlebnisse des vorhergehenden Tages anknüpfte.“ Weygandt (1893, 6) widerspricht direkt der oben zitierten Behauptung Burdachs, „denn es läßt sich oft, anscheinend in der überwiegenden Mehrzahl der Träume beobachten, daß dieselben uns gerade ins gewöhnliche Leben zurückführen, statt uns davon zu befreien“. Maury (1878, 51) sagt in einer knappen Formel: „nous rêvons de ce que nous avons vu, dit, desire ou fait“; Jessen in seiner 1855 erschienenen Psychologie (S. 530) etwas ausführlicher: „Mehr oder weniger wird der Inhalt der Träume stets bestimmt durch die individuelle Persönlichkeit, durch das Lebensalter, Geschlecht, Stand, Bildungsstufe, gewohnte Lebensweise und durch die Ereignisse und Erfahrungen des ganzen bisherigen Lebens.“

Am unzweideutigsten nimmt zu dieser Frage der Philosoph J. G. E. Maaß (1805) Stellung: „Die Erfahrung bestätigt unsere Behauptung, daß wir am häufigsten von den Dingen träumen, auf welche unsere wärmsten Leidenschaften gerichtet sind. Hieraus sieht man, daß unsere Leidenschaften auf die Erzeugung unserer Träume Einfluß haben müssen. Der Ehrgeizige träumt von den (vielleicht nur in seiner Einbildung) errungenen oder noch zu erringenden Lorbeeren, indes der Verliebte sich in seinen Träumen mit dem Gegenstand seiner süßen Hoffnungen beschäftigt… Alle sinnlichen Begierden und Verabscheuungen, die im Herzen schlummern, können, wenn sie durch irgendeinen Grund angeregt werden, bewirken, daß aus den mit ihnen vergesellschafteten Vorstellungen ein Traum entsteht oder daß sich diese Vorstellungen in einen bereits vorhandenen Traum einmischen.“ (Mitgeteilt von Winterstein, 1912.)

Nicht anders dachten die Alten über die Abhängigkeit des Trauminhaltes vom Leben. Ich zitiere nach Radestock (1879, 134): Als Xerxes vor seinem Zuge gegen Griechenland von diesem seinem Entschluß durch guten Rat abgelenkt, durch Träume aber immer wieder dazu angefeuert wurde, sagte schon der alte rationelle Traumdeuter der Perser, Artabanos, treffend zu ihm, daß die Traumbilder meist das enthielten, was der Mensch schon im Wachen denke.

Im Lehrgedicht des Lucretius, De verum natura, findet sich (IV, 962) die Stelle:

„Et quo quisque fere studio devinetus adhaeret,
aut quibus in rebus multum sumus ante morati
atque in ea ratione fuit contenta magis mens,
in somnis eadem plerumque videmur obire;
causidici causas agere et componere leges,
induperatores pugnare ac proelia obire, … etc. etc.“

Cicero (De divinatione II, lxvii, 140) sagt ganz ähnlich, wie so viel später Maury: „Maximeque reliquiae earum rerum moventur in animis et agitantur, de quibus vigilantes aut cogitavimus aut egimus.“

Der Widerspruch dieser beiden Ansichten über die Beziehung von Traumleben und Wachleben scheint in der Tat unauflösbar. Es ist darum am Platze, der Darstellung von F. W. Hildebrandt (1875, 8 ff.) zu gedenken, welcher meint, die Eigentümlichkeiten des Traums ließen sich überhaupt nicht anders beschreiben als durch eine „Reihe von Gegensätzen, welche scheinbar bis zu Widersprüchen sich zuspitzen“. „Den ersten dieser Gegensätze bilden einerseits die strenge Abgeschiedenheit oder Abgeschlossenheit des Traumes von dem wirklichen und wahren Leben, und anderseits das stete Hinübergreifen des einen in das andere, die stete Abhängigkeit des einen von dem andern. — Der Traum ist etwas von der wachend erlebten Wirklichkeit durchaus Gesondertes, man möchte sagen, ein in sich selbst hermetisch abgeschlossenes Dasein, von dem wirklichen Leben getrennt durch eine unübersteigliche Kluft. Er macht uns von der Wirklichkeit los, löscht die normale Erinnerung an dieselbe in uns aus und stellt uns in eine andere Welt und in eine ganz andere Lebensgeschichte, die im Grunde nichts mit der wirklichen zu schaffen hat…“ Hildebrandt führt dann aus, wie mit dem Einschlafen unser ganzes Sein mit seinen Existenzformen „wie hinter einer unsichtbaren Falltür“ verschwindet. Man macht dann etwa im Traum eine Seereise nach St. Helena, um dem dort gefangenen Napoleon etwas Vorzügliches in Moselweinen anzubieten. Man wird von dem Exkaiser aufs liebenswürdigste empfangen und bedauert fast, die interessante Illusion durch das Erwachen gestört zu sehen. Nun aber vergleicht man die Traumsituation mit der Wirklichkeit. Man war nie Weinhändler und hat’s auch nie werden wollen. Man hat nie eine Seereise gemacht und würde St. Helena am wenigsten zum Ziel einer solchen nehmen. Gegen Napoleon hegt man durchaus keine sympathische Gesinnung, sondern einen grimmigen patriotischen Haß. Und zu alledem war der Träumer überhaupt noch nicht unter den Lebenden, als Napoleon auf der Insel starb; eine persönliche Beziehung zu ihm zu knüpfen lag außerhalb des Bereiches der Möglichkeit. So erscheint das Traumerlebnis als etwas eingeschobenes Fremdes zwischen zwei vollkommen zueinander passenden und einander fortsetzenden Lebensabschnitten.

„Und dennoch“, setzt Hildebrandt fort „ebenso wahr und richtig ist das scheinbare Gegenteil. Ich meine, mit dieser Abgeschlossenheit und Abgeschiedenheit geht doch die innigste Beziehung und Verbindung Hand in Hand. Wir dürfen geradezu sagen: Was der Traum auch irgend biete, er nimmt das Material dazu aus der Wirklichkeit und aus dem Geistesleben, welches an dieser Wirklichkeit sich abwickelt… Wie wunderlich er’s damit treibe, er kann doch eigentlich niemals von der realen Welt los, und seine sublimsten wie possenhaftesten Gebilde müssen immer ihren Grundstoff entlehnen von dem, was entweder in der Sinnenwelt uns vor Augen getreten ist oder in unserem wachen Gedankengange irgendwie bereits Platz gefunden hat, mit anderen Worten, von dem, was wir äußerlich oder innerlich bereits erlebt haben.“

Ad 1) Die äußeren Sinnesreize Ad 2) Innere (subjektive) Sinneserregung Ad 3) Innerer, organischer Leibreiz Ad 4) Psychische Reizquellen