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B. Das Traummaterial — Das Gedächtnis im Traum

Daß alles Material, das den Trauminhalt zusammensetzt, auf irgendeine Weise vom Erlebten abstammt, also im Traum reproduziert, erinnert wird, dies wenigstens darf uns als unbestrittene Erkenntnis gelten. Doch wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß ein solcher Zusammenhang des Trauminhaltes mit dem Wachleben sich mühelos als augenfälliges Ergebnis der angestellten Vergleichung ergeben muß. Derselbe muß vielmehr aufmerksam gesucht werden und weiß sich in einer ganzen Reihe von Fällen für lange Zeit zu verbergen. Der Grund hiefür liegt in einer Anzahl von Eigentümlichkeiten, welche die Erinnerungsfähigkeit im Traume zeigt und die, obwohl allgemein bemerkt, sich doch bisher jeder Erklärung entzogen haben. Es wird der Mühe lohnen, diese Charaktere eingehend zu würdigen.

Es kommt zunächst vor, daß im Trauminhalt ein Material auftritt, welches man dann im Wachen nicht als zu seinem Wissen und Erleben gehörig anerkennt. Man erinnert wohl, daß man das Betreffende geträumt, aber erinnert nicht, daß und wann man es erlebt hat. Man bleibt dann im unklaren darüber, aus welcher Quelle der Traum geschöpft hat, und ist wohl versucht, an eine selbständig produzierende Tätigkeit des Traumes zu glauben, bis oft nach langer Zeit ein neues Erlebnis die verloren gegebene Erinnerung an das frühere Erlebnis wiederbringt und damit die Traumquelle aufdeckt. Man muß dann zugestehen, daß man im Traum etwas gewußt und erinnert hatte, was der Erinnerungsfähigkeit im Wachen entzogen war.1

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieser Art erzählt Delboeuf aus seiner eigenen Traumerfahrung. Er sah im Traum den Hof seines Hauses mit Schnee bedeckt und fand zwei kleine Eidechsen halb erstarrt und unter dem Schnee begraben, die er als Tierfreund aufnahm, erwärmte und in die für sie bestimmte kleine Höhle im Gemäuer zurückbrachte. Außerdem steckte er ihnen einige Blätter von einem kleinen Farnkraut zu, das auf der Mauer wuchs und das sie, wie er wußte, sehr liebten. Im Traum kannte er den Namen der Pflanze: Asplenium ruta muralis. — Der Traum ging dann weiter, kehrte nach einer Einschaltung zu den Eidechsen zurück und zeigte Delboeuf zu seinem Erstaunen zwei neue Tierchen, die sich über die Reste des Farns hergemacht hatten. Dann wandte er den Blick aufs freie Feld, sah eine fünfte, eine sechste Eidechse den Weg zu dem Loch in der Mauer nehmen, und endlich war die ganze Straße bedeckt von einer Prozession von Eidechsen, die alle in derselben Richtung wanderten usw.

Delboeufs Wissen umfaßte im Wachen nur wenige lateinische Pflanzennamen und schloß die Kenntnis eines Asplenium nicht ein. Zu seinem großen Erstaunen mußte er sich überzeugen, daß ein Farn dieses Namens wirklich existiert. Asplenium ruta muraria war seine richtige Bezeichnung, die der Traum ein wenig entstellt hatte. An ein zufälliges Zusammentreffen konnte man wohl nicht denken; es blieb aber für Delboeuf rätselhaft, woher er im Traume die Kenntnis des Namens Asplenium genommen hatte.

Der Traum war im Jahre 1862 vorgefallen; sechzehn Jahre später erblickt der Philosoph bei einem seiner Freunde, den er besucht, ein kleines Album mit getrockneten Blumen, wie sie als Erinnerungsgaben in manchen Gegenden der Schweiz an die Fremden verkauft werden. Eine Erinnerung steigt in ihm auf, er öffnet das Herbarium, findet in demselben das Asplenium seines Traumes und erkennt seine eigene Handschrift in dem beigefügten lateinischen Namen. Nun ließ sich der Zusammenhang herstellen. Eine Schwester dieses Freundes hatte im Jahre 1860 — zwei Jahre vor dem Eidechsentraum — auf der Hochzeitsreise Delboeuf besucht. Sie hatte damals dieses für ihren Bruder bestimmte Album bei sich, und Delboeuf unterzog sich der Mühe, unter dem Diktat eines Botanikers zu jedem der getrockneten Pflänzchen den lateinischen Namen hinzuzuschreiben.

Die Gunst des Zufalls, welche dieses Beispiel so sehr mitteilenswert macht, gestattete Delboeuf, noch ein anderes Stück aus dem Inhalt dieses Traums auf seine vergessene Quelle zurückzuführen. Eines Tages im Jahre 1877 fiel ihm ein alter Band einer illustrierten Zeitschrift in die Hände, in welcher er den ganzen Eidechsenzug abgebildet sah, wie er ihn 1862 geträumt hatte. Der Band trug die Jahreszahl 1861, und Delboeuf wußte sich zu erinnern, daß er von dem Erscheinen der Zeitschrift an zu ihren Abonnenten gehört hatte.

Daß der Traum über Erinnerungen verfügt, welche dem Wachen unzugänglich sind, ist eine so merkwürdige und theoretisch bedeutsame Tatsache, daß ich durch Mitteilung noch anderer „hypermnestischer“ Träume die Aufmerksamkeit für sie verstärken möchte. Maury erzählt, daß ihm eine Zeitlang das Wort Mussidan bei Tag in den Sinn zu kommen pflegte. Er wußte, daß es der Name einer französischen Stadt sei, aber weiter nichts. Eines Nachts träumte ihm von einer Unterhaltung mit einer gewissen Person, die ihm sagte, sie käme aus Mussidan, und auf seine Frage, wo die Stadt liege, zur Antwort gab: Mussidan sei eine Kreisstadt im Département de la Dordogne. Erwacht, schenkte Maury der im Traume erhaltenen Auskunft keinen Glauben; das geographische Lexikon belehrte ihn aber, daß sie vollkommen richtig war. In diesem Falle ist das Mehrwissen des Traumes bestätigt, die vergessene Quelle dieses Wissens aber nicht aufgespürt worden.

Jessen erzählt (1855, S. 55) ein ganz ähnliches Traumvorkommnis aus älteren Zeiten: „Dahin gehört u. a. der Traum des älteren Scaliger (Hennings, 1784, 300), welcher ein Gedicht zum Lobe der berühmten Männer in Verona schrieb und dem ein Mann, welcher sich Brugnolus nannte, im Traume erschien und sich beklagte, daß er vergessen sei. Obgleich Scaliger sich nicht erinnerte, je etwas von ihm gehört zu haben, so machte er doch Verse auf ihn, und sein Sohn erfuhr nachher in Verona, daß ehemals ein solcher Brugnolus als Kritiker daselbst berühmt gewesen sei.“

Einen hypermnestischen Traum, welcher sich durch die besondere Eigentümlichkeit auszeichnet, daß sich in einem darauffolgenden Traum die Agnoszierung der zuerst nicht erkannten Erinnerung vollzieht, erzählt der Marquis d’Hervey de St. Denis (nach Vaschide, 1911, 232 f.): „Ich träumte einmal von einer jungen Frau mit goldblondem Haar, die ich mit meiner Schwester plaudern sah, während sie ihr eine Stickereiarbeit zeigte. Im Traume kam sie mir sehr bekannt vor, ich meinte sogar, sie zu wiederholten Malen gesehen zu haben. Nach dem Erwachen habe ich dieses Gesicht noch lebhaft vor mir, kann es aber absolut nicht erkennen. Ich schlafe nun wieder ein, das Traumbild wiederholt sich. In diesem neuen Traume spreche ich nun die blonde Dame an und frage sie, ob ich nicht schon das Vergnügen gehabt, sie irgendwo zu treffen. ‚Gewiß‘, antwortet die Dame, ‚erinnern Sie sich nur an das Seebad von Pornic.‘ Sofort wachte ich wieder auf und weiß mich nun mit aller Sicherheit an die Einzelheiten zu besinnen, mit denen dieses anmutige Traumgesicht verknüpft war.“

Derselbe Autor (bei Vaschide, ibid., 233—4) berichtet:

Ein ihm bekannter Musiker hörte einmal im Traum eine Melodie, die ihm völlig neu erschien. Erst mehrere Jahre später fand er dieselbe in einer alten Sammlung von Musikstücken aufgezeichnet, die vorher in der Hand gehabt zu haben er sich noch immer nicht erinnert.

An einer mir leider nicht zugänglichen Stelle (Proceedings of the Society for Psychical Research) soll Myers eine ganze Sammlung solcher hypermnestischer Träume veröffentlicht haben. Ich meine, jeder, der sich mit Träumen beschäftigt, wird es als ein sehr gewöhnliches Phänomen anerkennen müssen, daß der Traum Zeugnis für Kenntnisse und Erinnerungen ablegt, welche der Wachende nicht zu besitzen vermeint. In den psychoanalytischen Arbeiten mit Nervösen, von denen ich später berichten werde, komme ich jede Woche mehrmals in die Lage, den Patienten aus ihren Träumen zu beweisen, daß sie Zitate, obszöne Worte u. dgl. eigentlich sehr gut kennen und daß sie sich ihrer im Traume bedienen, obwohl sie sie im wachen Leben vergessen haben. Einen harmlosen Fall von Traumhypermnesie will ich hier noch mitteilen, weil sich bei ihm die Quelle, aus welcher die nur dem Traum zugängliche Kenntnis stammte, sehr leicht auffinden ließ.

Ein Patient träumte in einem längeren Zusammenhange, daß er sich in einem Kaffeehaus eine „Kontuszówka“ geben lasse, fragte aber nach der Erzählung, was das wohl sei; er habe den Namen nie gehört. Ich konnte antworten, Kontuszówka sei ein polnischer Schnaps, den er im Traume nicht erfunden haben könne, da mir der Name von Plakaten her schon lange bekannt sei. Der Mann wollte mir zuerst keinen Glauben schenken. Einige Tage später, nachdem er seinen Traum im Kaffeehaus hatte zur Wirklichkeit werden lassen, bemerkte er den Namen auf einem Plakate, und zwar an einer Straßenecke, welche er seit Monaten wenigstens zweimal im Tage hatte passieren müssen.

Ich habe selbst an eigenen Träumen erfahren, wie sehr man mit der Aufdeckung der Herkunft einzelner Traumelemente vom Zufalle abhängig bleibt. So verfolgte mich durch Jahre vor der Abfassung dieses Buches das Bild eines sehr einfach gestalteten Kirchturmes, den gesehen zu haben ich mich nicht erinnern konnte. Ich erkannte ihn dann plötzlich, und zwar mit voller Sicherheit, auf einer kleinen Station zwischen Salzburg und Reichenhall. Es war in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, und ich hatte die Strecke im Jahre 1886 zum erstenmal befahren. In späteren Jahren, als ich mich bereits intensiv mit dem Studium der Träume beschäftigte, wurde das häufig wiederkehrende Traumbild einer gewissen merkwürdigen Lokalität mir geradezu lästig. Ich sah in bestimmter örtlicher Beziehung zu meiner Person, zu meiner Linken, einen dunklen Raum, aus dem mehrere groteske Sandsteinfiguren hervorleuchteten. Ein Schimmer von Erinnerung, dem ich nicht recht glauben wollte, sagte mir, es sei ein Eingang in einen Bierkeller; es gelang mir aber weder aufzuklären, was dieses Traumbild bedeuten wolle, noch woher es stamme. Im Jahre 1907 kam ich zufällig nach Padua, das ich zu meinem Bedauern seit 1895 nicht wieder hatte besuchen können. Mein erster Besuch in der schönen Universitätsstadt war unbefriedigend geblieben, ich hatte die Fresken Giottos in der Madonna dell’Arena nicht besichtigen können und machte mitten auf der dahin führenden Straße kehrt, als man mir mitteilte, das Kirchlein sei an diesem Tage gesperrt. Bei meinem zweiten Besuche, zwölf Jahre später, gedachte ich mich zu entschädigen und suchte vor allem den Weg zur Madonna dell’Arena auf. An der zu ihr führenden Straße, linker Hand von meiner Wegrichtung, wahrscheinlich an der Stelle, wo ich 1895 umgekehrt war, entdeckte ich die Lokalität, die ich so oft im Traume gesehen hatte, mit den in ihr enthaltenen Sandsteinfiguren. Es war in der Tat der Eingang in einen Restaurationsgarten.

Eine der Quellen, aus welcher der Traum Material zur Reproduktion bezieht, zum Teil solches, das in der Denktätigkeit des Wachens nicht erinnert und nicht verwendet wird, ist das Kindheitsleben. Ich werde nur einige der Autoren anführen, die dies bemerkt und betont haben: Hildebrandt (1875, 23): „Ausdrücklich ist schon zugegeben worden, daß der Traum bisweilen mit wunderbarer Reproduktionskraft uns ganz abgelegene und selbst vergessene Vorgänge aus fernster Zeit treu vor die Seele zurückführt.“

Strümpell (1877, 40): „Die Sache steigert sich noch mehr, wenn man bemerkt, wie der Traum mitunter gleichsam aus den tiefsten und massenhaftesten Verschüttungen, welche die spätere Zeit auf die frühesten Jugenderlebnisse gelagert hat, die Bilder einzelner Lokalitäten, Dinge, Personen ganz unversehrt und mit ursprünglicher Frische wieder hervorzieht. Dies beschränkt sich nicht bloß auf solche Eindrücke, die bei ihrer Entstehung ein lebhaftes Bewußtsein gewonnen oder sich mit starken psychischen Werten verbunden haben und nun später im Traum als eigentliche Erinnerungen wiederkehren, an denen das erwachte Bewußtsein sich erfreut. Die Tiefe des Traumgedächtnisses umfaßt vielmehr auch solche Bilder von Personen, Dingen, Lokalitäten und Erlebnissen der frühesten Zeit, die entweder nur ein geringes Bewußtsein oder keinen psychischen Wert besaßen oder längst das eine wie das andere verloren hatten und deshalb auch sowohl im Traum wie nach dem Erwachen als gänzlich fremd und unbekannt erscheinen, bis ihr früher Ursprung entdeckt wird.“

Volkelt (1875, 119): „Besonders bemerkenswert ist es, wie gern Kindheits- und Jugenderinnerungen in den Traum eingehen. Woran wir längst nicht mehr denken, was längst für uns alle Wichtigkeit verloren: der Traum mahnt uns daran unermüdlich.“

Die Herrschaft des Traumes über das Kindheitsmaterial, welches bekanntlich zum größten Teil in die Lücken der bewußten Erinnerungsfähigkeit fällt, gibt Anlaß zur Entstehung von interessanten hypermnestischen Träumen, von denen ich wiederum einige Beispiele mitteilen will.

Maury erzählt (1878, 92), daß er von seiner Vaterstadt Meaux als Kind häufig nach dem nahe gelegenen Trilport gekommen war, wo sein Vater den Bau einer Brücke leitete. In einer Nacht versetzt ihn der Traum nach Trilport und läßt ihn wieder in den Straßen der Stadt spielen. Ein Mann nähert sich ihm, der eine Art Uniform trägt. Maury fragt ihn nach seinem Namen; er stellt sich vor, er heiße C… und sei Brückenwächter. Nach dem Erwachen fragt der an der Wirklichkeit der Erinnerung noch zweifelnde Maury eine alte Dienerin, die seit der Kindheit bei ihm ist, ob sie sich an einen Mann dieses Namens erinnern kann. „Gewiß“, lautet die Antwort, „er war der Wächter der Brücke, die Ihr Vater damals gebaut hat.“

Ein ebenso schön bestätigtes Beispiel von der Sicherheit der im Traume auftretenden Kindheitserinnerung berichtet Maury von einem Herrn F…, der als Kind in Montbrison aufgewachsen war. Dieser Mann beschloß, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Weggang, die Heimat und alte, seither nicht gesehene Freunde der Familie wieder zu besuchen. In der Nacht vor seiner Abreise träumt er, daß er am Ziele ist und in der Nähe von Montbrison einem ihm vom Ansehen unbekannten Herrn begegnet, der ihm sagt, er sei der Herr T., ein Freund seines Vaters. Der Träumer wußte, daß er einen Herrn dieses Namens als Kind gekannt hatte, erinnerte sich aber im Wachen nicht mehr an sein Aussehen. Einige Tage später nun wirklich in Montbrison angelangt, findet er die für unbekannt gehaltene Lokalität des Traumes wieder und begegnet einem Herrn, den er sofort als den T. des Traumes erkennt. Die wirkliche Person war nur stärker gealtert, als sie das Traumbild gezeigt hatte.

Ich kann hier einen eigenen Traum erzählen, in dem der zu erinnernde Eindruck durch eine Beziehung ersetzt ist. Ich sah in einem Traum eine Person, von der ich im Traum wußte, es sei der Arzt meines heimatlichen Ortes. Ihr Gesicht war nicht deutlich, sie vermengte sich aber mit der Vorstellung eines meiner Gymnasiallehrer, den ich noch heute gelegentlich treffe. Welche Beziehung die beiden Personen verknüpfe, konnte ich dann im Wachen nicht ausfindig machen. Als ich aber meine Mutter nach dem Arzt dieser meiner ersten Kinderjahre fragte, erfuhr ich, daß er einäugig gewesen war, und einäugig ist auch der Gymnasiallehrer, dessen Person die des Arztes im Traum gedeckt hatte. Es waren achtunddreißig Jahre her, daß ich den Arzt nicht mehr gesehen, und ich habe meines Wissens im wachen Leben niemals an ihn gedacht, obwohl eine Narbe am Kinn mich an seine Hilfeleistung hätte erinnern können.

Es klingt, als sollte ein Gegengewicht gegen die übergroße Rolle der Kindheitseindrücke im Traumleben geschaffen werden, wenn mehrere Autoren behaupten, in den meisten Träumen ließen sich Elemente aus den allerjüngsten Tagen nachweisen. Robert (1886, 46) äußert sogar: Im allgemeinen beschäftigt sich der normale Traum nur mit den Eindrücken der letztvergangenen Tage. Wir werden allerdings erfahren, daß die von Robert aufgebaute Theorie des Traumes eine solche Zurückdrängung der ältesten und Vorschiebung der jüngsten Eindrücke gebieterisch fordert. Die Tatsache aber, der Robert Ausdruck gibt, besteht, wie ich nach eigenen Untersuchungen versichern kann, zu Recht. Ein amerikanischer Autor, Nelson, meint, am häufigsten fänden sich im Traum Eindrücke vom Tage vor dem Traumtag oder vom dritten Tag vorher verwertet, als ob die Eindrücke des dem Traum unmittelbar vorhergehenden Tages nicht abgeschwächt — nicht abgelegen — genug wären.

Es ist mehreren Autoren, die den intimen Zusammenhang des Trauminhaltes mit dem Wachleben nicht bezweifeln mochten, aufgefallen, daß Eindrücke, welche das wache Denken intensiv beschäftigen, erst dann im Traume auftreten, wenn sie von der Tagesgedankenarbeit einigermaßen zur Seite gedrängt worden sind. So träumt man in der Regel von einem lieben Toten nicht die erste Zeit, solange die Trauer den Überlebenden ganz ausfüllt (Delage, 1891). Indes hat eine der letzten Beobachterinnen, Miß Hallam, auch Beispiele vom gegenteiligen Verhalten gesammelt und vertritt für diesen Punkt das Recht der psychologischen Individualität (Hallam und Weed, 1896).

Die dritte, merkwürdigste und unverständlichste Eigentümlichkeit des Gedächtnisses im Traum zeigt sich in der Auswahl des reproduzierten Materials, indem nicht wie im Wachen nur das Bedeutsamste, sondern im Gegenteil auch das Gleichgültigste, Unscheinbarste der Erinnerung wert gehalten wird. Ich lasse hierüber jene Autoren zu Worte kommen, welche ihrer Verwunderung den kräftigsten Ausdruck gegeben haben.

Hildebrandt (1875, 11): „Denn das ist das Merkwürdige, daß der Traum seine Elemente in der Regel nicht aus den großen und tiefgreifenden Ereignissen, nicht aus den mächtigen und treibenden Interessen des vergangenen Tages, sondern aus den nebensächlichen Zugaben, sozusagen aus den wertlosen Brocken der jüngst verlebten oder weiter rückwärts liegenden Vergangenheit nimmt. Der erschütternde Todesfall in unserer Familie, unter dessen Eindrücken wir spät einschlafen, bleibt ausgelöscht aus unserem Gedächtnisse, bis ihn der erste wache Augenblick mit betrübender Gewalt in dasselbe zurückkehren läßt. Dagegen die Warze auf der Stirn eines Fremden, der uns begegnete und an den wir keinen Augenblick mehr dachten, nachdem wir an ihm vorübergegangen waren, die spielt eine Rolle in unserem Traume…“

Strümpell (1877, 39): „… solche Fälle, wo die Zerlegung eines Traumes Bestandteile desselben auffindet, die zwar aus den Erlebnissen des vorigen oder vorletzten Tages stammen, aber doch so unbedeutend und wertlos für das wache Bewußtsein waren, daß sie kurz nach dem Erleben der Vergessenheit anheimfielen. Dergleichen Erlebnisse sind etwa zufällig gehörte Äußerungen oder oberflächlich bemerkte Handlungen eines anderen, rasch vorübergegangene Wahrnehmungen von Dingen oder Personen, einzelne kleine Stücke aus einer Lektüre u. dgl.“

Havelock Ellis (1899, 727): „The profound emotions of waking life, the questions and problems on which we spread our chief voluntary mental energy, are not those which usually present themselves at once to dream consciousness. It is, so far as the immediate past is concerned, mostly the trifling, the incidental, the ‚forgotten‘ impressions of daily life which reappear in our dreams. The psychic activities that are awake most intensely are those that sleep most profoundly.“

Binz (1878, 44—5) nimmt gerade die in Rede stehenden Eigentümlichkeiten des Gedächtnisses im Traume zum Anlaß, seine Unbefriedigung mit den von ihm selbst unterstützten Erklärungen des Traumes auszusprechen: „Und der natürliche Traum stellt uns ähnliche Fragen. Warum träumen wir nicht immer die Gedächtniseindrücke der letztverlebten Tage, sondern tauchen oft ein, ohne irgend erkennbares Motiv, in weit hinter uns liegende, fast erloschene Vergangenheit? Warum empfängt im Traum das Bewußtsein so oft den Eindruck gleichgültiger Erinnerungsbilder, während die Gehirnzellen da, wo sie die reizbarsten Aufzeichnungen des Erlebten in sich tragen, meist stumm und starr liegen, es sei denn, daß eine akute Auffrischung während des Wachens sie kurz vorher erregt hatte?“

Man sieht leicht ein, wie die sonderbare Vorliebe des Traumgedächtnisses für das Gleichgültige und darum Unbeachtete an den Tageserlebnissen zumeist dazu führen mußte, die Abhängigkeit des Traumes vom Tagesleben überhaupt zu verkennen und dann wenigstens den Nachweis derselben in jedem einzelnen Falle zu erschweren. So war es möglich, daß Miß Whiton Calkins (1893) bei der statistischen Bearbeitung ihrer (und ihres Gefährten) Träume doch elf Prozent der Anzahl übrig behielt, in denen eine Beziehung zum Tagesleben nicht ersichtlich war. Sicherlich hat Hildebrandt mit der Behauptung recht (1875), daß sich alle Traumbilder uns genetisch erklären würden, wenn wir jedesmal Zeit und Sammlung genug darauf verwendeten, ihrer Herkunft nachzuspüren. Er nennt dies freilich „ein äußerst mühseliges und undankbares Geschäft. Denn es liefe ja meistens darauf hinaus, allerlei psychisch ganz wertlose Dinge in den abgelegensten Winkeln der Gedächtniskammer aufzustöbern, allerlei völlig indifferente Momente längst vergangener Zeit aus der Verschüttung, die ihnen vielleicht schon die nächste Stunde brachte, wieder zutage zu fördern“. Ich muß aber doch bedauern, daß der scharfsinnige Autor sich von der Verfolgung des so unscheinbar beginnenden Weges abhalten ließ; er hätte ihn unmittelbar zum Zentrum der Traumerklärung geleitet.

Das Verhalten des Traumgedächtnisses ist sicherlich höchst bedeutsam für jede Theorie des Gedächtnisses überhaupt. Es lehrt, daß „Nichts, was wir geistig einmal besessen, ganz und gar verlorengehen kann“ (Scholz, 1887, 34). Oder, wie Delboeuf es ausdrückt, „que tonte impression même la plus insignifiante, laisse une trace inaltérable, indéfmiment susceptible de reparaître au jour“, ein Schluß, zu welchem so viele andere, pathologische Erscheinungen des Seelenlebens gleichfalls drängen. Man halte sich nun diese außerordentliche Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses im Traum vor Augen, um den Widerspruch lebhaft zu empfinden, den gewisse später zu erwähnende Traumtheorien aufstellen müssen, welche die Absurdität und Inkohärenz der Träume durch ein partielles Vergessen des uns bei Tag Bekannten erklären wollen.

Man könnte etwa auf den Einfall geraten, das Phänomen des Träumens überhaupt auf das des Erinnerns zu reduzieren, im Traum die Äußerung einer auch nachts nicht rastenden Reproduktionstätigkeit sehen, die sich Selbstzweck ist. Mitteilungen wie die von Pilcz (1899) würden hiezu stimmen, denen zufolge feste Beziehungen zwischen der Zeit des Träumens und dem Inhalt der Träume nachweisbar sind in der Weise, daß im tiefen Schlaf Eindrücke aus den ältesten Zeiten, gegen Morgen aber rezente Eindrücke vom Traum reproduziert werden. Es wird aber eine solche Auffassung von vornherein unwahrscheinlich durch die Art, wie der Traum mit dem zu erinnernden Material verfährt. Strümpell macht mit Recht darauf aufmerksam, daß Wiederholungen von Erlebnissen im Traume nicht vorkommen. Der Traum macht wohl einen Ansatz dazu, aber das folgende Glied bleibt aus; es tritt verändert auf, oder an seiner Stelle erscheint ein ganz fremdes. Der Traum bringt nur Bruchstücke von Reproduktionen. Dies ist sicherlich so weit die Regel, daß es eine theoretische Verwertung gestattet. Indes kommen Ausnahmen vor, in denen ein Traum ein Erlebnis ebenso vollständig wiederholt, wie unsere Erinnerung im Wachen es vermag. Delboeuf erzählt von einem seiner Universitätskollegen, daß er im Traume eine gefährliche Wagenfahrt, bei welcher er einem Unfall nur wie durch ein Wunder entging, mit all ihren Einzelheiten wieder durchgemacht habe. Miß Calkins erwähnt (1893) zweier Träume, welche die genaue Reproduktion eines Erlebnisses vom Vortag zum Inhalt hatten, und ich selbst werde späterhin Anlaß nehmen, ein mir bekanntgewordenes Beispiel von unveränderter Traumwiederkehr eines Kindererlebnisses mitzuteilen.2


  1. Vaschide (1911) behauptet auch, es sei oft bemerkt worden, daß man im Traume fremde Sprachen geläufiger und reiner spreche als im Wachen.
  2. Aus späterer Erfahrung füge ich hinzu, daß gar nicht so selten harmlose und unwichtige Beschäftigungen des Tages vom Traume wiederholt werden, etwa: Koffer packen, in der Küche Speisen zubereiten u. dgl. Bei solchen Träumen betont der Träumer selbst aber nicht den Charakter der Erinnerung, sondern den der „Wirklichkeit“. „Ich habe das alles am Tage wirklich getan.“