Thomas Mann zum 60. Geburtstag
(1935)
Lieber Thomas Mann!
Nehmen Sie einen herzlichen Liebesgruß zu Ihrem 60. Geburtstag freundlich auf! Ich bin einer Ihrer „ältesten" Leser und Bewunderer, ich könnte Ihnen ein sehr langes und glückliches Leben wünschen, wie man es bei solchem Anlaß zu tun gewohnt ist. Aber ich enthalte mich dessen, Wünschen ist wohlfeil und erscheint mir als Rückfall in die Zeiten, da man an die magische Allmacht der Gedanken glaubte. Auch meine ich aus eigenster Erfahrung, es ist gut, wenn ein mitleidiges Schicksal unsere Lebensdauer rechtzeitig begrenzt.
Ferner halte ich es für nicht nachahmenswert, daß sich bei solch festlicher Gelegenheit die Zärtlichkeit über den Respekt hinaussetzt, daß man den Gefeierten nötigt anzuhören, wie er als Mensch mit Lob überhäuft und als Künstler analysiert und kritisiert wird. Ich will mich dieser Überhebung nicht schuldig machen. Etwas anderes kann ich mir aber gestatten: Im Namen von Ungezählten Ihrer Zeitgenossen darf ich unserer Zuversicht Ausdruck geben, Sie würden nie etwas tun oder sagen — die Worte des Dichters sind ja Taten —, was feig und niedrig ist, Sie werden auch in Zeiten und Lagen, die das Urteil verwirren, den rechten Weg gehen und ihn anderen weisen.
Ihr herzlich ergebener
Freud
Juni 1935.
[Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 249.]