Das zwölfte Kapitel
Am Morgen erwachten alle erst, als schon die ersten Schulkinder da waren und neugierig die Lagerstätte umringten. Das war unangenehm, denn infolge der großen Hitze, die jetzt gegen Morgen allerdings wieder einer empfindlichen Kühle gewichen war, hatten sich alle bis auf das Hemd ausgekleidet und gerade, als sie sich anzuziehen anfingen, erschien Gisa, die Lehrerin, ein blondes, großes, schönes, nur ein wenig steifes Mädchen, in der Tür. Sie war sichtlich auf den neuen Schuldiener vorbereitet und hatte wohl auch vom Lehrer Verhaltungsmaßregeln erhalten, denn schon auf der Schwelle sagte sie: „Das kann ich nicht dulden. Das wären schöne Verhältnisse. Sie haben bloß die Erlaubnis, im Schulzimmer zu schlafen, ich aber habe nicht die Verpflichtung, in Ihrem Schlafzimmer zu unterrichten. Eine Schuldienerfamilie, die sich bis in den Vormittag in den Betten räkelt, Pfui!“ Nun, dagegen wäre einiges zu sagen, besonders hinsichtlich der Familie und der Betten, dachte K., während er mit Frieda die Gehilfen waren dazu nicht zu gebrauchen, auf dem Boden liegend, staunten sie die Lehrerin und die Kinder an eiligst den Barren und das Pferd herbeischob, beide mit den Decken überwarf und so einen kleinen Raum bildete, in dem man, vor den Blicken der Kinder gesichert, sich wenigstens anziehen konnte. Ruhe hatte man allerdings keinen Augenblick lang, zuerst zankte die Lehrerin, weil im Waschbecken kein frisches Wasser war; gerade hatte K. daran gedacht, das Waschbecken für sich und Frieda zu holen, er gab die Absicht zunächst auf, um die Lehrerin nicht allzusehr zu reizen, aber der Verzicht half nichts, denn kurz darauf erfolgte ein großer Krach, unglücklicherweise hatte man nämlich versäumt, die Reste des Nachtmahls vom Katheder zu räumen, die Lehrerin entfernte alles mit dem Lineal, alles flog auf die Erde; daß das Sardinenöl und die Kaffeereste ausflossen und der Kaffeetopf in Trümmer ging, mußte die Lehrerin nicht kümmern, der Schuldiener würde ja gleich Ordnung machen. Noch nicht ganz angezogen, sahen K. und Frieda am Barren lehnend der Vernichtung ihres kleinen Besitzes zu; die Gehilfen, die offenbar gar nicht daran dachten, sich anzuziehen, lugten zum großen Vergnügen der Kinder unten zwischen den Decken durch. Am meisten schmerzte Frieda natürlich der Verlust des Kaffeetopfes; erst als K., um sie zu trösten, ihr versicherte, er werde gleich zum Gemeindevorsteher gehen und Ersatz verlangen und bekommen, faßte sie sich so weit, daß sie, nur in Hemd und Unterrock, aus der Umzäunung hinauslief, um wenigstens die Decke zu holen und vor weiterer Beschmutzung zu bewahren. Es gelang ihr auch, obwohl die Lehrerin, um sie abzuschrecken, mit dem Lineal immerfort nervenzerrüttend auf den Tisch hämmerte. Als K. und Frieda sich angezogen hatten, mußten sie die Gehilfen, die von den Ereignissen wie benommen waren, nicht nur mit Befehlen und Stößen zum Anziehen drängen, sondern zum Teil sogar selbst anziehen. Dann, als alle fertig waren, verteilte K. die nächsten Arbeiten: Die Gehilfen sollten Holz holen und einheizen, zuerst aber im anderen Schulzimmer, von dem noch große Gefahren drohten denn dort war wahrscheinlich schon der Lehrer. Frieda sollte den Fußboden reinigen und K. würde Wasser holen und sonst Ordnung machen; ans Frühstücken war vorläufig nicht zu denken. Um sich aber im allgemeinen über die Stimmung der Lehrerin zu unterrichten, wollte K. als erster hinausgehen, die anderen sollten erst folgen, wenn er sie riefe, er traf diese Einrichtung einerseits, weil er durch Dummheiten der Gehilfen die Lage nicht von vornherein verschlimmern lassen wollte, und andererseits, weil er Frieda möglichst schonen wollte, denn sie hatte Ehrgeiz, er keinen, sie war empfindlich, er nicht, sie dachte nur an die gegenwärtigen kleinen Abscheulichkeiten, er aber an Barnabas und die Zukunft. Frieda folgte allen seinen Anordnungen genau, ließ kaum die Augen von ihm. Kaum war er vorgetreten, rief die Lehrerin unter dem Gelächter der Kinder, das von jetzt ab überhaupt nicht mehr aufhörte: „Na, ausgeschlafen?“ und als K. darauf nicht achtete, weil es doch keine eigentliche Frage war, sondern auf den Waschtisch losging, fragte die Lehrerin: „Was haben Sie denn mit meiner Mieze gemacht?“ Eine große, alte fleischige Katze lag träg ausgebreitet auf dem Tisch, und die Lehrerin untersuchte ihre offenbar ein wenig verletzte Pfote. Frieda hatte also doch recht gehabt, diese Katze war zwar nicht auf sie gesprungen, denn springen konnte sie wohl nicht mehr, aber über sie hinweggekrochen, war über die Anwesenheit von Menschen in dem sonst leeren Hause erschrocken, hatte sich eilig versteckt und bei dieser ihr ungewohnten Eile sich verletzt. K. suchte es der Lehrerin ruhig zu erklären, diese aber faßte nur das Ergebnis auf und sagte: „Nun ja, ihr habt sie verletzt, damit habt ihr euch hier eingeführt. Sehen Sie doch!“ und sie rief K. auf das Katheder, zeigte ihm die Pfote, und ehe er sich dessen versah, hatte sie ihm mit den Krallen einen Strich über den Handrücken gemacht; die Krallen waren zwar schon stumpf, aber die Lehrerin hatte, diesmal ohne Rücksicht auf die Katze, sie so fest eingedrückt, daß es doch blutige Striemen wurden. „Und jetzt gehen Sie an Ihre Arbeit“, sagte sie ungeduldig und beugte sich wieder zur Katze hinab. Frieda, welche mit den Gehilfen hinter dem Barren zugesehen hatte, schrie beim Anblick des Blutes auf. K. zeigte die Hand den Kindern und sagte: „Seht, das hat mir eine böse, hinterlistige Katze gemacht.“ Er sagte es freilich nicht der Kinder wegen, deren Geschrei und Gelächter schon so selbstverständlich geworden war, daß es keines weiteren Anlasses oder Anreizes bedurfte und daß kein Wort es durchdringen oder beeinflussen konnte. Da aber auch die Lehrerin nur durch einen kurzen Seitenblick die Beleidigung beantwortete und sonst mit der Katze beschäftigt blieb, die erste Wut also durch die blutige Bestrafung befriedigt schien, rief K. Frieda und die Gehilfen, und die Arbeit begann.
Als K. den Eimer mit dem Schmutzwasser hinausgetragen, frisches Wasser gebracht hatte und nun das Schulzimmer auszukehren begann, trat ein etwa zwölfjähriger Junge aus einer Bank, berührte K.s Hand und sagte etwas im großen Lärm gänzlich Unverständliches. Da hörte plötzlich aller Lärm auf, K. wandte sich um. Das den ganzen Morgen über Gefürchtete war geschehen. In der Tür stand der Lehrer, mit jeder Hand hielt er, der kleine Mann, einen Gehilfen beim Kragen; er hatte sie wohl beim Holzholen abgefangen, denn mit mächtiger Stimme rief er und legte nach jedem Wort eine Pause ein: „Wer hat es gewagt, in den Holzschuppen einzubrechen? Wo ist der Kerl, daß ich ihn zermalme?“ Da erhob sich Frieda vom Boden, den sie zu Füßen der Lehrerin reinzuwaschen sich abmühte, sah nach K. hin, so, als wolle sie sich Kraft holen, und sagte, wobei etwas von ihrer alten Überlegenheit in Blick und Haltung war: „Das habe ich getan, Herr Lehrer. Ich wußte mir keine andere Hilfe. Sollten früh die Schulzimmer geheizt sein, mußte man den Schuppen öffnen; in der Nacht den Schlüssel von Ihnen zu holen wagte ich nicht; mein Bräutigam war im Herrenhof, es war möglich, daß er die Nacht über dort blieb, so mußte ich mich allein entscheiden. Habe ich unrecht getan, verzeihen Sie es meiner Unerfahrenheit; ich bin schon von meinem Bräutigam genug ausgezankt worden, als er sah, was geschehen war. Ja, er verbot mir sogar, früh einzuheizen, weil er glaubte, daß Sie durch Versperrung des Schuppens gezeigt hätten, daß Sie nicht geheizt haben wollten, bevor Sie selbst gekommen wären. Daß nicht geheizt ist, ist also seine Schuld, daß aber der Schuppen erbrochen wurde, meine.“ „Wer hat die Tür erbrochen?“ fragte der Lehrer die Gehilfen, die noch immer vergeblich seinen Griff abzuschütteln versuchten. „Der Herr“, sagten beide und zeigten, damit kein Zweifel sei, auf K. Frieda lachte, und dieses Lachen schien noch beweisender als ihre Worte, dann begann sie den Lappen, mit dem sie den Boden gewaschen hatte, in den Eimer auszuwinden, so, als sei durch ihre Erklärung der Zwischenfall beendet und die Aussagen der Gehilfen nur ein nachträglicher Scherz; erst als sie wieder, zur Arbeit bereit, niedergekniet war, sagte sie: „Unsere Gehilfen sind Kinder, die trotz ihren Jahren noch in diese Schulbänke gehören. Ich habe nämlich gegen Abend die Tür mit der Axt allein geöffnet, es war sehr einfach, die Gehilfen brauchte ich dazu nicht, sie hätten nur gestört. Als dann in der Nacht aber mein Bräutigam kam und hinausging, um den Schaden zu besehen und womöglich zu reparieren, liefen die Gehilfen mit, wahrscheinlich weil sie fürchteten, hier allein zu bleiben, sahen meinen Bräutigam an der aufgerissenen Tür arbeiten, und deshalb sagen sie jetzt nun, es sind Kinder-.“
Zwar schüttelten die Gehilfen während Friedas Erklärung immerfort die Köpfe, zeigten weiter auf K. und strengten sich an, durch stummes Mienenspiel Frieda von ihrer Meinung abzubringen; da es ihnen aber nicht gelang, fügten sie sich endlich, nahmen Friedas Worte als Befehl, und auf eine neuerliche Frage des Lehrers antworteten sie nicht mehr. „So“, sagte der Lehrer, „ihr habt also gelogen? Oder wenigstens leichtsinnig den Schuldiener beschuldigt?“ Sie schwiegen noch immer, aber ihr Zittern und ihre ängstlichen Blicke schienen auf Schuldbewußtsein zu deuten. „Dann werde ich euch sofort durchprügeln“, sagte der Lehrer und schickte ein Kind ins andere Zimmer um den Rohrstab. Als er dann den Stab hob, rief Frieda: „Die Gehilfen haben ja die Wahrheit gesagt“, warf verzweifelt den Lappen in den Eimer, daß das Wasser aufspritzte, und lief hinter den Barren, wo sie sich versteckte. „Ein verlogenes Volk“, sagte die Lehrerin, die den Verband der Pfote eben beendigt hatte und das Tier auf den Schoß nahm, für den es fast zu breit war.
„Bleibt also der Herr Schuldiener“, sagte der Lehrer, stieß die Gehilfen fort und wandte sich K. zu, der während der ganzen Zeit, auf den Besen gestützt, zugehört hatte: „Dieser Herr Schuldiener, der aus Feigheit ruhig zugibt, daß man andere fälschlich seiner eigenen Lumpereien beschuldigt.“ „Nun“, sagte K., der wohl merkte, daß Friedas Dazwischentreten den ersten hemmungslosen Zorn des Lehrers doch gemildert hatte, „wenn die Gehilfen ein wenig durchgeprügelt worden wären, hätte es mir nicht leid getan; wenn sie bei zehn gerechten Anlässen geschont worden sind, können sie es einmal bei einem ungerechten abbüßen. Aber auch sonst wäre es mir willkommen gewesen, wenn ein unmittelbarer Zusammenstoß zwischen mir und Ihnen, Herr Lehrer, vermieden worden wäre, vielleicht wäre es sogar auch Ihnen lieb. Da nun aber Frieda mich den Gehilfen geopfert hat-“, hier machte K. eine Pause, man hörte in der Stille hinter den Decken Frieda schluchzen-, „muß nun natürlich die Sache ins reine gebracht werden.“ „Unerhört“, sagte die Lehrerin. „Ich bin völlig Ihrer Meinung, Fräulein Gisa“, sagte der Lehrer. „Sie, Schuldiener, sind natürlich wegen dieses schändlichen Dienstvergehens auf der Stelle entlassen; die Strafe, die noch folgen wird, behalte ich mir vor, jetzt aber scheren Sie sich sofort mit allen Ihren Sachen aus dem Haus. Es wird uns eine wahre Erleichterung sein, und der Unterricht wird endlich beginnen können. Also schleunig!“ „Ich rühre mich von hier nicht fort“, sagte K. „Sie sind mein Vorgesetzter, aber nicht derjenige, welcher mir die Stelle verliehen hat, das ist der Herr Gemeindevorsteher, nur seine Kündigung nehme ich an. Er aber hat mir die Stelle doch wohl nicht gegeben, daß ich hier mit meinen Leuten erfriere, sondern wie Sie selbst sagten damit er unbesonnene Verzweiflungstaten meinerseits verhindert. Mich jetzt plötzlich zu entlassen wäre daher geradewegs gegen seine Absicht; solange ich nicht das Gegenteil aus seinem eigenen Munde höre, glaube ich es nicht. Es geschieht übrigens wahrscheinlich auch zu Ihrem großen Vorteil, wenn ich Ihrer leichtsinnigen Kündigung nicht folge.“ „Sie folgen also nicht?“ fragte der Lehrer. K. schüttelte den Kopf. „Überlegen Sie es wohl“, sagte der Lehrer. „Ihre Entschlüsse sind nicht immer die allerbesten; denken Sie zum Beispiel an den gestrigen Nachmittag, als Sie es ablehnten, verhört zu werden.“ „Warum erwähnen Sie das jetzt?“ fragte K. „Weil es mir beliebte“, sagte der Lehrer, „und nun wiederhole ich zum letzten Male: Hinaus!“ Als aber auch das keine Wirkung hatte, ging der Lehrer zum Katheder und beriet sich leise mit der Lehrerin, diese sagte etwas von der Polizei, aber der Lehrer lehnte es ab, schließlich einigten sie sich, der Lehrer forderte die Kinder auf, in seine Klasse hinüberzugehen, sie würden dort mit den anderen Kindern gemeinsam unterrichtet werden. Diese Abwechslung freute alle, gleich war unter Lachen und Schreien das Zimmer geleert, der Lehrer und die Lehrerin folgten als letzte. Die Lehrerin trug das Klassenbuch und auf ihm die in ihrer Fülle ganz teilnahmslose Katze. Der Lehrer hätte die Katze gern hiergelassen, aber eine darauf bezügliche Andeutung wehrte die Lehrerin mit dem Hinweis auf die Grausamkeit K.s entschieden ab; so bürdete K. zu allem Ärger auch noch die Katze dem Lehrer auf. Es beeinflußte dies wohl auch die letzten Worte, die der Lehrer in der Tür an K. richtete: „Das Fräulein verläßt mit den Kindern notgedrungen dieses Zimmer, weil Sie renitenterweise meiner Kündigung nicht folgen und weil niemand von ihr, einem jungen Mädchen, verlangen kann, daß sie inmitten Ihrer schmutzigen Familienwirtschaft Unterricht erteilt. Sie bleiben also allein und können sich, ungestört durch den Widerwillen anständiger Zuschauer, hier so breitmachen, wie Sie wollen. Aber es wird nicht lange dauern, dafür bürge ich!“ Damit schlug er die Tür zu.