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Völkerpsychologie

Völkerpsychologie heißt derjenige Zweig der Psychologie, welcher sich in Analogie mit der das geistige Wesen des Einzelmenschen untersuchenden Individualpsychologie die Feststellung der Gesetze des Geistes von Völkern und Völkergemeinschaften, sie als Individuen betrachtend, zur Aufgabe setzt. Die ersten Keime dieser Wissenschaft finden sich bei Vico (1668-1743), bei W. v. Humboldt (1767-1835), Herbart (geb. 1776-1841) und H. Ritter (1791-1869); als eigenes Untersuchungsgebiet ist die Völkerpsychologie aber erst von Lazarus (1824-1903) und Steinthal (1823-1899) abgegrenzt worden. Wort und Begriff rührt von Lazarus (1851) her. Hauptorgan ist für sie die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft geworden (1860-1890). Gestützt hat sich die Völkerpsychologie auf alles, was die Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert geschaffen hat (W. v. Humboldt, J. Grimm, Fr. Bopp u. a.), und auf die Psychologie Herbarts. Der Anschluß an die Sprachwissenschaft hat sie in jeder Beziehung gefordert, der Anschluß an die Herbartsche Psychologie hat ihr sowohl geschadet als genützt, da diese der physiologischen Basis entbehrt, in ihrer Auffassung der Vorstellungen als Kräfte irregeht und, indem sie alle geistigen Prozesse auf Vorstellungen zurückführt, einseitig verfährt und das geistige Leben viel zu sehr mechanisiert, andrerseits aber auch manchen brauchbaren Grundbegriff enthält. Die Völkerpsychologie grenzt an die Anthropologie und die Geschichtsphilosophie an. Während aber die Anthropologie nur die Naturgrundlage zur Geschichte schafft, will die Völkerpsychologie als Theorie alle geschichtlichen Prozesse begreifbar machen und zieht auch rein geistige Vorgänge, wie sie sich in der Geschichte abspielen, in den Kreis ihrer Betrachtung; und während die Philosophie der Geschichte nicht ohne metaphysische Spekulation und teleologische Betrachtungen auskommt, will die Völkerpsychologie, empirisch in der Methode und nach den Ursachen des Geschehens forschend, nur die Grundlage zur Geschichtsphilosophie sein und zur Erkenntnis des Mechanischen in der Geschichte führen. Am innigsten ist das Verhältnis der Völkerpsychologie zur Sprachwissenschaft, zur Ethnologie und zur Geschichtswissenschaft. Der Zusammenhang mit der Sprachwissenschaft beruht zunächst darauf, daß gerade die Sprache, mag man über ihre ersten Anfänge urteilen, wie man will, mag man sie von Einzelnen oder von einer Gemeinschaft ableiten, doch sofort in ihrer Entwicklung ein Erzeugnis der Wechselwirkung zwischen Menschen, also der Gemeinschaft wird: Das Wort wird erst zum vollen Wort, nicht schon, wenn Bedeutung und Laut im Sprechenden in Verbindung getreten oder von ihm selbst reproduziert sind, sondern erst, wenn es vom anderen gehört, verstanden und mitgebraucht ist. Sprache ist erst dann Sprache, wenn sie gemeinsame Geistesarbeit ist; und hierdurch ist die enge Verbindung zwischen Sprache und Gemeinschaft gegeben. – Der Zusammenhang zwischen Sprachwissenschaft und Völkerpsychologie beruht ferner darauf, daß gerade die neuere Sprachwissenschaft als Basis der Forschung die Psychologie anerkannt hat. Unverlierbar ist zwar der Zusammenhang, den die Griechen und Römer zwischen Logik und Grammatik geschaffen haben; die Sprache hat ihre logischen Kategorien so sehr, daß es sogar ein vergebliches Bemühen ist, logische Kategorien anders als empirisch unter Mithilfe der Sprachforschung ableiten zu wollen; aber so wenig jemals eine Sprachwissenschaft hat entstehn können, ohne daß man sich des logischen Gehaltes der Sprache bewußt wurde und für diesen die Terminologie schuf, so wenig führt andrerseits auch alle Logik zum Ziele, sobald Werden, Entstehung, Veränderung, Entwicklung, Leben in der Sprache erforscht werden sollen. Die logische Untersuchung leistet hier nichts, die psychologische alles, und die Völkerpsychologie löst hier in ihrer Forschung die Individualpsychologie schon am Eingange ab. – Endlich treten Sprachwissenschaft und Völkerpsychologie auch dadurch in enge Beziehung, daß die erstere zu dem Gesetze fuhrt, daß eine Gemeinsprache nichts Wirkliches ist, sondern daß nur eine Reihe von Einzelsprachen oder Sprachfamilien existiert, in denen sich das Leben der Sprache entfaltet. Die Sprachgeschichte führt uns von vornherein durch die Sprachmannigfaltigkeit und auch durch verschiedene Epochen in der Entwicklung der einzelnen Sprache hindurch, so durch die Stufe der Onomatopöie, auf der Gefühl, Anschauung und Laut miteinander verwachsen und dem durch Reflexbewegung erzeugten Laute noch eine gewisse Ähnlichkeit mit der durch ihn bezeichneten Anschauung innewohnt, so durch die Stufe der Etymologie, auf der Anschauungen zerlegt werden und das Einzelne seine Bezeichnung durch die vorhandenen und sich fortentwickelnden Laute empfängt, so durch die Stufe des Sprachgebrauchs, auf der der etymologische Sinn der Worte vergessen und synonyme Bezeichnungen nach Gefühlswerten vorgezogen oder verworfen werden, so durch die Stufe des grammatischen Baus, auf der sich der Ausdruck der syntaktischen Beziehungen in Zusammensetzung, Ableitung und Flexion ausbildet. Die Sprache ist auf allen Stufen ein Lebendiges; Lautwandel, Bedeutungswandel und Analogiebildung sind ihr Lebensprozeß. Indem sich jede einzelne Sprache eigentümlich auf jeder Stufe entwickelt, wird sie zu einer Art instinktiver Weltanschauung, in der sich die Eigenart eines Volkes ausprägt. Der Weg der Völkerpsychologie geht daher naturgemäß durch die Sprachwissenschaft hindurch.

Die Völkerpsychologie legt die allgemeinen Gesetze, nach denen die im Volksleben wirkenden Kräfte sich entwickeln und zusammenwirken, dar und sucht aus diesen die besonderen, die Völker der Erde geistig charakterisierenden Gesetze abzuleiten. So ist sie in ihrem ersten Teile allgemein und entwickelt das Wesen des Volksgeistes, in ihrem zweiten limitierend und behandelt die wirklich existierenden Volksgeister und ihre geschichtlichen Entwicklungsformen. Hierdurch tritt sie zur Ethnologie in engste Beziehung. Ihr erster Teil ist ethnologische Psychologie, ihr zweiter psychische Ethnologie, und wenn ihr in letzterer Beziehung die Parallele zur Individualpsychologie fehlt, welche die Charakteristik des einzelnen Menschen nicht zu ihrer Aufgabe machen kann, so ist sie eben mit ihrer größeren Allgemeinheit des Begriffs Völkerindividuum auf günstigerem Arbeitsfelde, und es braucht ihr auf diesem Gebiete nicht der Name Psychologie abgesprochen zu werden.

In der Lösung ihrer Aufgaben tritt die Völkerpsychologie in engste Beziehung zu allen Kreisen der Geschichtswissenschaft. Sie erforscht die Gründe der Entstehung, der Entwicklung und des Unterganges von Völkern, das Verhältnis des einzelnen zur Gesamtheit, die Entwicklung der Sitten, der Mythen, der Gottesidee, der Schrift, der Wissenschaft, der Kunst usw. Alles, was in die Geschichte eines Volkes eingeht, geht auch in die Völkerpsychologie ein und dient derselben als Material, zu dem sie die Begründung und Theorie sucht. – So ist sie bisher natürlich mehr Aufgabe als fertige Wissenschaft geblieben. Es liegen nur ihre Anfänge vor; vollendet ist sie nicht. Aber soweit sie sich auf empirische Forschung gestützt hat und vorsichtig in der Induktion zu Werke gegangen ist, ist sie auch nicht resultatlos geblieben. Ihr Grundproblem ist und bleibt der Volksgeist. Wer allerdings wie H. Paul (Prinzipien der Sprachgeschichte, S. II) alle psychischen Prozesse als nur in den Einzelgeistern sich vollziehend und alle Wechselwirkung zwischen Individuen für nicht psychisch ansieht, muß die Berechtigung der Völkerpsychologie anzweifeln; allein wenn auch zugegeben werden muß, daß der Volksgeist nur in den einzelnen Geistern entsteht und sich offenbart und nicht ab etwas Gesondertes neben den Einzelgeistern existiert, so ist doch ein radikaler Nominalismus, wie der Panische, höchst bedenklich. Die Einzelgeister haben ihr Verwandtes, und der Volksgeist besteht als die Gemeinsamkeit des geistigen Typus einer Menschengruppe. Die Idee einer Völkerpsychologie dürfte darum also zu Recht bestehen. Anerkannt ist ihre Bedeutung auch von Wundt (geb. 1832), der ihr die Aufgabe zuweist, die Gesetze der Fortentwicklung der Sprache sowie ihre Rückwirkungen auf das Denken des einzelnen sowie der Gemeinschaften zu schildern. Vgl. Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, hrsggb. von Lazarus und Steinthai (1860-1890); St. Mill, Logik. Bd. II, Kap. 5; Bastian, Der Mensch in der Geschichte. 1860; O. Peschel, Völkerkunde. 1897; Kurt Bruchmann, Die Völkerpsychologie (Unsere Zeit, N. F. XII. Jahrg. 15. S. 161-188); Wundt, Aufgaben und Ziele der Völkerpsychologie (Philos. Stud. Bd. 4. Leipz. 1888). Kurt Bruchmann, Psychologische Studien zur Sprachgeschichte. Berlin 1888 Wundt, Völkerpsychologie 1. Bd. 2. Aufl. 1904.