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II

Kunst

Trauer und Scham sollten alle Pausen wahrer Männlichkeit bedecken. Der Künstler hat außerhalb des Schaffens nur seine Nichtswürdigkeit zu erleben.

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Die Eifersucht auf die ungestaltete Materie, die mir täglich um die Nase wippt und wetzt, schwippt und schwätzt, auf Menschen, die leider noch existent, aber noch nicht erschaffen sind, läßt sich schwer einem solchen begreiflich machen.

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Wer sich durch eine Satire gekränkt fühlt, benimmt sich nicht anders als der zufällige Beischläfer, der am andern Tag daherkommt, um seine Persönlichkeit zu reklamieren. Längst ist ein anderes Beispiel an seine Stelle getreten, und wo schon ein neues Vergessen beginnt, erscheint jener mit der Erinnerung und wird eifersüchtig. Er ist imstande, die Frau zu kompromittieren.

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Alle sind von mir beleidigt, nicht einzelne. Und was die Liebe betrifft, sollen alle rabiat werden und nicht die, die betrogen wurden.

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Was mir und jedem Schätzer von Distanzen einen tätlichen Überfall auf mich peinlich macht, ist die Verstofflichung der Satire, die er bedeutet. Anstatt dankbar zu sein, reïnkarniert sich das, was mir mit Mühe zu vergeistigen gelang, wieder zu leiblichster Stofflichkeit, und der dürftige Anlaß schiebt sich vor, damit mein Werk nur ja auf ihn reduziert bleibe. Darum müßte mich in einer Gesellschaft, der es an Respekt fehlt, ein Spazierstock schützen, in welchem ein Degen steckt. Mir fehlt es nicht an Respekt vor den kleinen Leuten, die mich zu etwas anregen, was ihnen längst nicht mehr gilt, wenn’s fertig ist. Ich nehme jede nur mögliche Rücksicht. Denn lähmte mich nicht die Furcht, mit ihnen zusammengespannt zu werden, so würde ich sie doch selbst überfallen. Was mir nicht nur Genuß, sondern auch Erleichterung der satirischen Mühe brächte. Anbinden — mit jedem! Aber nur an keinen angebunden werden!

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Man muß dazu gelangen, die erschlagen zu wollen, die man nicht mehr verarbeiten kann, und im weiteren Verlauf sich von denen erschlagen zu lassen, von denen man nicht mehr verstanden wird.

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Meine Angriffe sind so unpopulär, daß erst die Schurken, die da kommen werden, mich verstehen werden.

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Das Verständnis meiner Arbeit ist erschwert durch die Kenntnis meines Stoffes. Daß das, was da ist, erst erfunden werden muß und daß es sich lohnt, es zu erfinden, sehen sie nicht ein. Und auch nicht, daß ein Satiriker, dem die Personen so vorhanden sind, als hätte er sie erfunden, mehr Kraft braucht, als der, der die Personen so erfindet, als wären sie vorhanden.

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Dieser Wettlauf mit den unaufhörlichen Anlässen! Und dieser ewige Distanzlauf vom Anlaß zur Kunst! Keuchend am Ziel — zurückgezerrt zum Start, der sich erreicht fühlt.

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Man kennt meine Anlässe persönlich. Darum glaubt man, es sei mit meiner Kunst nicht weit her.

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Ein alter Idiotenglaube räumt dem »Satiriker« das Recht ein, die Schwächen des Starken zu geißeln. Nun ist aber die schwächste Schwäche des Starken noch immer stärker als die stärkste Stärke des Schwachen, und darum ist der Satiriker, der auf der Höhe jener Auffassung steht, ein schmieriges Subjekt und seine Duldung ein rechtes Stigma der Gesellschaft. Aus dem infamen Bedürfnis der Gesellschaft, die Persönlichkeiten als ihresgleichen zu behandeln und durch deren Herabsetzung auf das eigene Niveau sich über dessen Niedrigkeit zu beruhigen, sind die Witzblätter entstanden. Alle Glatzköpfe glänzen, weil Bismarck auch nicht mehr als drei Haare hatte. Diese lästige Bosheit, aus der das Witzblatt dem Rachebedürfnis der Gesellschaft beispringt, nennt sie »harmlos«. Verabscheut aber den Positiven, der eine entgötterte Welt in Trümmer schlägt. Ahnt nicht, daß der Satiriker einer ist, der nur die Schwächen der Schwachen geißelt und die der Starken nicht sieht, weil es solche nicht gibt, und wenn es sie gäbe, sie ehrfürchtig bedeckte. Satire ist für die Leute etwas, was einer im Nebenamt betreiben kann, zum Beispiel, wenn er öffentlich Offizier ist und heimlich Humor hat. Echter ist wohl, öffentlich Satire zu üben und ein heimlicher Krieger zu sein. Denn Satire ist in Wahrheit nur mit einer Funktion: mit der des Mannes vereinbar, ja sie scheint sie geradezu zu bedingen. Daß der Satiriker ein Mann ist, beweist allein schon die satirische Zudringlichkeit, deren er sich selbst zu erwehren hat. Der Satiriker versteht nämlich keinen Spaß. Macht er aber das Insekt, das es auf seine »Schwächen« abgesehen hat, kaputt, so wundern sich alle und fragen, ja warum denn, und sagen, daß einer, der doch selbst Satiriker sei, es sich auch gefallen lassen müsse, daß ein anderer — und so weiter in infinitum der menschlichen Banalität.

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Polemik ist Mut, Verrat oder Feigheit. Entweder es geht einer gegen die vielen los oder einer von den vielen gegen die vielen oder einer von den vielen gegen den einen. So mutig der Starke ist, der den Schwachen, so feig ist der Schwache, der den Starken angreift. Denn der Schwache hat hinter sich eine Armee von Schwachen. Kehrt er sich, aufgehetzt von einem mißverstandenen Vorbild, gegen seinesgleichen, so wird er zum Verräter. Alle Freibeuter der modernen Meinung handeln so schimpflich. Es sind Spießbürger, die aus der Reihe treten.

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Ich mache kleine Leute durch meine Satire so groß, daß sie nachher würdige Objekte für meine Satire sind und mir kein Mensch mehr einen Vorwurf machen kann.

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Die Leute, die mir die irdischen Anlässe vorwerfen, dürften die Astronomie für eine kosmische Angelegenheit halten.

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Es gibt Leute, die sich schlechter als es notwendig ist benehmen, damit mir übel werde, ehe ich sie angreife. Doch sie geben sich einer falschen Hoffnung hin, da sie zwar jenes bewirken, aber dieses nicht verhindern können. So unappetitlich kann gar keiner sein, daß ich ihn nicht angreife.

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Ich bin schon so populär, daß einer, der mich beschimpft, populärer wird als ich.

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Welch ein Rinnsal braust an meinem Riff! Und solche Brandung beweist mich. Die Leistung könnte nicht für sich selbst sprechen — dazu ist nicht die Zeit. Erst im Lärm der andern macht sie sich vernehmlich.

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Nichts ist scheußlicher als mein Ich im Spiegel der Hysterie. Nichts ist gemeiner als mein Stil in der Hand des andern. Mich nachahmen heißt mich strafen.

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Ich habe zweierlei Verehrung erfahren. Solche, deren letzter Schluß lautet: Ich kann es nicht, er tuts für mich. Und solche, deren letzter Schluß lautet: Ich könnte es auch, er tuts an meiner Stelle.

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Tadler und Lober sind unerwünschte Zeugen. Die am Ufer stecken ihre Füße ins Wasser, um zu beweisen, daß es schmutzig sei. Die am Ufer nehmen eine hohle Hand voll, um die Schönheit des Elements darzutun.

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Vor jedem Kunstgenuß stehe die Warnung: Das Publikum wird ersucht, die ausgestellten Gegenstände nur anzusehen, nicht zu begreifen.

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Wenn der Leser den Autor fragt, was er sich dabei gedacht habe, so beweist das nichts gegen den Gedanken. Aber er ist sicher gut, wenn der Autor es nicht mehr weiß und den Leser fragt, was er sich dabei gedacht habe.

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Logik ist die Feindin der Kunst. Aber Kunst darf nicht die Feindin der Logik sein. Logik muß der Kunst einmal geschmeckt haben und von ihr vollständig verdaut worden sein. Um zu behaupten, daß zweimal zwei fünf ist, hat man zu wissen, daß zweimal zwei vier ist. Wer freilich nur dieses weiß, wird sagen, jenes sei falsch.

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Zwischen den Zeilen kann höchstens ein Sinn verborgen sein. Zwischen den Worten ist Platz für mehr: für den Gedanken.

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Daß die Sprache den Gedanken nicht bekleidet, sondern der Gedanke in die Sprache hineinwächst, das wird der bescheidene Schöpfer den frechen Schneidern nie weismachen können.

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Ich beherrsche nur die Sprache der andern. Die meinige macht mit mir, was sie will.

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Wenn ich der Vollendung nahe bin, beginne ich erst zu zweifeln und da brauche ich dann einen, dem ich alle meine Fragen beantworte.

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In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache.

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Jeder Satz müßte so oft gelesen werden, als Korrekturen sein Wachstum von der Handschrift bis zur Lektüre begleitet haben. Doch um dem Leser zu ersparen, was ihm über Kraft und Glauben geht, möchte ich jeden Satz in den zehn Verwandlungen erscheinen lassen, damit das Ganze endlich immer noch weniger gelesen als verstanden werde. Dies wäre ein in der Literatur seltener Fall. Es könnte aber von einem Nutzen sein, der den Schaden eines Jahrhunderts leicht kapierter Meinung und Unterhaltung aufwiegt.

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Wenn ich nicht weiter komme, bin ich an die Sprachwand gestoßen. Dann ziehe ich mich mit blutigem Kopf zurück. Und möchte weiter.

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Meine Hilflosigkeit wächst mit der Vollendung des Geschriebenen. Je näher ich an das Wort herantrete, desto mehr blutet es wie der Leichnam vor dem Mörder. Dieses Bahrgericht erspare ich mir nicht, und bedecke die Ränder einer Korrektur, der fünfzehn sorglose voraufgegangen sein mögen, mit Zeichen, die wie Wundmale sind. Ich habe immer mindestens zwei Wege, und es wäre am besten, beide und alle zu gehen. Ich werde es wohl auch noch über mich bringen, den Satz in verschiedenen Fassungen hinzusetzen, zum Nutzen des Lesers, der so gezwungen wird, einen Satz einige Male zu lesen, und zur weitesten Entfernung von jenen, die nur nach der Meinung schnappen. Bis dahin muß ich die Verantwortung für den besten von allen guten Wegen immer dem überlassen, den ich frage. Seine mechanische Entscheidung würde mir genügen, aber da ich ihm aus ähnlicher Lage viel besser helfen könnte als er mir, so mache ichs uns nicht so einfach und stürze ihn so tief in den Abgrund meiner Zweifel, daß ich an seinem Zustand sicher werde, ihn rette und so auch mich.

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Kein Mensch, der eine meiner gedruckten Arbeiten absucht, wird eine Naht erkennen. Und doch war alles hundertmal aufgerissen, und aus einer Seite, die in Druck ging, mußten sieben werden. Am Ende, wenn’s ein Ende gibt, ist die Gliederung so einleuchtend, daß man die Klitterung nicht sieht und an sie nicht glaubt. Schreiber, die ohnedies alles im Kopf haben und beim Schreiben nur mit der Hand beteiligt sind, sind ruchlose Manipulanten, mit denen ich nichts außer dem Alphabet gemeinsam habe, und auch das nur widerstrebend. Sie essen nicht, sondern sie halten schon weiter, weil sie ohnedies alles im Bauch haben.

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Der Journalist hat das Wort bei der Hand. Ich bin oft in Verlegenheit. Hätt’ ich nur einen Journalisten bei der Hand! Ich nahm’ ihm das Wort aus der Hand und gab’ ihm dafür einen Schlag auf die Hand.

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Und pflanzt’ es wieder am stillen Ort, nun zweigt es immer und blüht so fort.

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Er wollt’ es brechen, da sagt’ es fein: Soll ich zum Welken gebrochen sein? Ich grub’s mit allen den Würzlein aus ... Aber selbst verwelkt, läßt sich das Wort noch zum Fortblühen bringen.

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Das alte Wort gehört allen. Keiner kann es nehmen.

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Am Ursprung gibts kein Plagiat.

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Die Sprache hat in Wahrheit der, der nicht das Wort, sondern nur den Schimmer hat, aus dem er das Wort ersehnt, erlöst und empfängt.

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Dem von der Natur kultivierten Menschen wird das Spracherlebnis umso näher gerückt sein, je weiter er von der Fertigkeit lebt, sich der Sprache als eines Verkehrsmittels zu bedienen. Schlechtes Sprechen auf solcher menschlichen Höhe läßt sprachschöpferischen Kräften Raum. Das Kind und die natürliche Frau teilen mit dem Genie den Vorzug, sich vom Talent in der Fähigkeit des Ausdrucks und der Verständigung beschämen zu lassen. Eine Frau, die auf eine so außerordentliche Art schlecht deutsch sprach, bewies die reinste Anschauung der Wortinhalte, indem sie etwa: Zweige, die abzuschneiden waren, »abzweigen« wollte, einen Brief, den man ihr aufsetzen und niederschreiben sollte, »niedersetzen« ließ, eine Angelegenheit, die verschlechtert wurde und nunmehr Ärger schuf, »verärgert« fand, und eine solche, hinter der man stehen müsse, um sie zu betreiben, zu »hintertreiben« empfahl. Sie erkannte den Zweck des Schöntuns als »Schmeichelleckerei« und sagte von einem Advokaten, der nur mit geringern Streitsachen betraut war, daß er »dazu da sei, die kleinen Metzeleien auszuraufen«. Am Automobil wünschte sie einen »Gleitrutsch« angebracht und die Wahrnehmung, daß bei einer Fahrt eine Wegwende, die nach dem Ort Bremgarten wies, überfahren sei, ließ sie den Namen und die Nötigung, zurückzufahren, schnell in den Ausruf: »Halt, Bremsgarten!« zusammenpacken. Kinder erfassen noch diese wortbildnerische Gelegenheit, erleben die schöne Sprachnähe und Sprechentferntheit; wenn sie nicht zufällig in Berlin geboren sind, wo die Jugend schnell fertig ist mit dem Wort, nachdem sie wie dieses als Fertigware zur Welt gekommen ist.

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Wenn die Sprache nur ein Gewand ist, so wird sie schäbig oder unmodern. Bis dahin mag man unter Leute gehen. Ein Smoking macht nicht unsterblich, aber beliebt. Doch was haben nur neuestens die jungen Herren an? Eine Sprache, die aus lauter Epitheta besteht! Ein Gewand ohne Stoff, aber ganz aus Knöpfen!

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Das Hauptwort ist der Kopf, das Zeitwort ist der Fuß, das Beiwort sind die Hände. Die Journalisten schreiben mit den Händen.

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Der Erzähler unterscheidet sich vom Politiker nur dadurch, daß er Zeit hat. Gemeinsam ist beiden, daß die Zeit sie hat.

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Autoren, die es zuerst erleben und dann beschreiben, sind Berichterstatter, auf die man sich verlassen kann. Dichter erschreiben es nur.

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Ich hab’s noch nicht versucht, aber ich glaube, ich müßte mir erst zureden und dann fest die Augen schließen, um einen Roman zu lesen.

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Die Phrase ist manchmal doch einer gewissen Plastik fähig. Von einem Buch, das als Reiselektüre empfohlen wurde, hieß es: »Und wer das Buch zu lesen beginnt, liest es in einem Zuge durch«.

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Den Werken des Dichters Sch. wird ein längeres Leben vorausgesagt als den meinen. Das mag im allgemeinen zutreffen. Nur die eine Schrift, in der ich zum Ableben der Werke des Dichters Sch. beigetragen habe und der sie deshalb ein Fortleben verdanken, wird sich wohl so lange am Leben erhalten wie diese Werke und sie hierauf überleben, was dann vielleicht auch meinen andern Schriften zugute kommen wird, die am Ende den Werken des Dichters Sch. ein längeres Leben verdanken könnten, als diesen selbst vorausgesagt wurde. Ich glaube also, daß wir es uns ganz gut einteilen und keinen Richter nicht brauchen werden.

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Ein X sagte geringschätzig, daß von mir nicht mehr bleiben werde als ein paar gute Witze. Das wäre immerhin etwas, aber leider bleibt auch das nicht, weil mir die paar guten Witze längst gestohlen wurden und zwar vom X.

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Ein Künstler, der Erfolg hat, muß den Kopf nicht hängen lassen. Er soll erst dann an sich verzweifeln, wenn ein Schwindler durchfällt.

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Nicht jeder, der kein Künstler ist, muß deshalb auch schon Erfolg haben. Man kann auch so zwischen zwei Stühlen sitzen, daß man von dem einen hinuntergestoßen und zu dem andern nicht hinaufgelassen wurde.

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In mancher Beziehung war die Ähnlichkeit Bahrs mit Goethe auffallend. Wenn man zum Beispiel geglaubt hat, er sei noch in Linz, war er schon längst in Urfahr.

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Die eigenen Lorbeern ließen Herrn v.H. nicht schlafen, aber auf fremden ruhte er gern aus.

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Ich weiß nicht, wie er zur Welt kam. Wenn durch Geburt, so muß eine Zange geholfen haben, und wenn sie half, so war sie aus Amethyst. Zur Amme fand er erst Zutrauen, als er sah, sie sei wie Alabaster.

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Zwei Sorten hat der deutsche Geist ausgespien: die Tänzerischen und die Nachdenklichen. Für diese ist mehr Heine, für jene mehr Nietzsche verantwortlich. Man wird auch im zweiten Fall dem Vorläufer dahinterkommen.

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Die Literatur von heute sind Rezepte, die die Kranken schreiben.

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Die meisten Kritiker schreiben Kritiken, die von den Autoren sind, über die sie die Kritiken schreiben. Das wäre noch nicht das Schlimmste. Aber die meisten Autoren schreiben dann auch die Werke, die von den Kritikern sind, die über sie Kritiken schreiben.

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Der Scheinmensch kann alles, er kann sündigen und er kann auch bereuen. Aber er wird durch die Sünde nicht schlechter und durch die Reue nicht besser.

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Der Schmutz verlieh ihm noch Haltbarkeit. Was blieb von ihm, da er sich reinwusch? Ein Schwamm.

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Manche Talente bewahren ihre Frühreife bis ins späte Alter.

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Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist.

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Dieser Autor ist so tief, daß ich als Leser lange gebraucht habe, um ihm auf die Oberfläche zu kommen.

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Die Hemmungslosigkeit eines Peter Altenberg schließt mehr Menschlichkeit auf, als zehn gebundene Jahrgänge der Wiener Literatur zurückhalten.

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Es wird jetzt viel über Ekstase gesprochen, von solchen, die eben noch um die Vorteile ihres schäbigen Bewußtseins Bescheid wissen. Ich war aber dabei, als Peter Altenberg, dessen hundertfaches Leben sein einfaches Werk ersäuft, vor einer deutsch lallenden Tänzerin ausrief: »Und wie sie deutsch spricht! Alleredelste!! Goethe ist ein Tier gegen Dich!!!« Goethe war einverstanden. Gott selbst stimmte zu. Und wenn sich die lebende deutsche Literatur von der Kraft dieses Augenblicks bedienen könnte, so würden Werke hervorkommen, die noch besser wären als das Deutsch der kleinen Tänzerin. Aber da sie alle als Bettler neben diesem Bettler stehen, der durch alle zeitliche Erniedrigung aufsteigen wird in das Reich des Geistes und der Gnade, so ist jedes Tier ein Goethe gegen sie.

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Ein Literaturprofessor meinte, daß meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von Redensarten seien. Das ist ganz zutreffend. Nur hat er den Gedanken nicht erfaßt, der die Mechanik treibt: daß bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr herauskommt als bei der mechanischen Wiederholung. Das ist das Geheimnis des Heutzutag, und man muß es erlebt haben. Dabei unterscheidet sich aber die Redensart noch immer zu ihrem Vorteil von einem Literaturprofessor, bei dem nichts herauskommt, wenn ich ihn auf sich beruhen lasse, und wieder nichts, wenn ich ihn mechanisch umdrehe.

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Der Dichter schreibt Sätze, die kein schöpferischer Schauspieler sprechen kann, und ein schöpferischer Schauspieler spricht Sätze, die kein Dichter schreiben konnte. Die Wortkunst wendet sich an Einen, an den Mann, an den idealen Leser. Die Sprechkunst an Viele, an das Weib, an die realen Hörer. Zwei Wirkungsströme, die einander ausschalten. Der jahrhundertalte Wahnsinn, daß der Dichter auf die Bühne gehöre, bleibt dennoch auf dem Repertoire und wird jeden Abend vor ausverkauftem Haus ad absurdum geführt.

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Ich weiß nicht, ob der Dichter etwas geträumt hat; aber von der Wirkung, die der Schauspieler mit der Umbiegung seines Wortes erzielen kann, hat er sich gewiß nichts träumen lassen. Und solche Leute sind so schamlos, das Geld einzustecken, das andere gegen sie verdient haben.

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Wenn der Autor, ein ungeschminkter Zivilist, sich an der Hand des Schauspielers verbeugen kommt, so wird er zum Akteur einer Komödie, die auch nicht von ihm ist.

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Daß sich ein Autor verbeugt, ist nicht Erniedrigung, sondern Überhebung. Was will das Bleichgesicht nach Schluß auf der Bühne? Aber vorher hatte er dort noch weniger zu tun, und es ist ein Betrug an den Schauspielern, daß man jenem die Tantièmen zahlt.

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Die Viechsarbeit, neunhundert Menschen, die aus dem Bureau kommen, zur Empfänglichkeit für das Wort zusammenzuschließen, hat nicht das Wort, sondern die Musik zu besorgen. Theaterdirektoren, die das Orchester abschaffen wollen, sollen sich selber hinaufstellen.

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Es gibt jetzt literarisch beflissene Theaterdirektoren, die den Ehrgeiz haben, intelligente Leute ins Theater zu bekommen. Um die zu einer Wirkung zusammenzuschließen, müßte schon den ganzen Abend das Orchester spielen. Und dann noch die ganze Nacht und überhaupt das ganze Leben hindurch!

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Wenn sich einer von den neunhundert schneuzt, setzt der Wirkungsstrom aus. Und die Ästhetiker glauben dennoch, daß ein Shakespearescher Gedanke hinüberkommt.

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Die deutschen Bühnen sollten bei den Naturalisten bleiben. Mit dem in Deutschland naturalisierten Shakespeare ist’s nichts.

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Das Verhältnis der Bühne zum Dichter ist, daß sie eben noch seine szenische Bemerkung realisieren kann.

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Ich bin vielleicht der erste Fall eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt. Würde ich darum einem andern Schauspieler meinen Text anvertrauen? Nestroys Geistigkeit ist unbühnenhaft. Der Schauspieler Nestroy wirkte, weil er etwas, was kein Hörer verstanden hätte, so schnell heruntersprach, daß es kein Hörer verstand.

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Im Halbschlaf erledige ich viel Arbeit. Eine Phrase erscheint, setzt sich auf die Bettkante und spricht mir zu. Die Situation, die sie herbeigerufen hat, ist die denkbar unpassendste. Einer etwa speit und sagt hinterher: »Kommentar überflüssig«. Wenn Gesichter im Raum sind, weiß ich, daß ich schlafen werde. Vorher treiben sie Allotria. Nichts ist ihnen heilig. Sie sprechen und gestikulieren in einer Art, daß mir bald Hören und Sehen vergehen wird. Einer hat Lippen, von denen ihm beim Sprechen die Bildung herunterrinnt. Und so etwas wagt Goethe zu zitieren. Halb erinnere ich mich, womit ich mich am Schreibtisch beschäftigt habe. Halb an ein Abenteuer in Czernowitz, wo einer beim Kartenverkauf gut abschnitt. Den Widerstand der Zeit gegen die neue Lyrik begriff ich nunmehr in dem Wort, das die Stimme eines alten ehrlichen Juden, dem man nichts beweisen kann, neben mir sagte: »Ich hab gern über allen Gipfeln Ruh«.

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O.K. malt bis ins dritte und vierte Geschlecht. Er macht Fleisch zum Gallert, er verhilft dort, wo Gemüt ist, dem Schlangendreck zu seinem Rechte.

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Ein Bild, das sich noch vom Betrachter getroffen fühlt.

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Das Futurum der Futuristen ist ein Imperfektum exaktum.

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Der Wissenschaftler bringt nichts neues. Er erfindet nur, was gebraucht wird. Der Künstler entdeckt, was nicht gebraucht wird. Er bringt das Neue.

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Der Ästhet verhält sich zur Schönheit wie der Pornograph zur Liebe und wie der Politiker zum Leben.

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Der Ästhet ist der rechte Realpolitiker im Reich der Schönheit.

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Die meisten Autoren haben keine andere Qualität als der Leser: Geschmack. Aber der hat den bessern, weil er nicht schreibt, und den besten, wenn er nicht liest.

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Die Bildungslüge hat die Entfernung des Publikums von der Wortkunst noch größer gemacht als die von den anderen Künsten, weil es zwar nicht die Farben, die einer malt, klecksen zu können, nicht die Töne, die einer komponiert, pfeifen zu können, wohl aber die Sprache, die einer schreibt, sprechen zu können behauptet. Und doch könnte es, und eben darum, noch eher klecksen und pfeifen. Man lebt so entfernt von der Sprache und glaubt, weil man sprechen kann, sprechen zu können. Der Respekt vor ihr wäre größer, wenn’s auch eine Umgangsmalerei und eine Umgangsmusik gäbe, so daß die Leute einander mit Pfeifen oder Klecksen erzählen könnten, was sie heute gegessen haben.

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Solange die Malerei nicht den Leuten was malt und die Musik ihnen nicht heimgeigt, halte ich’s mit der Literatur; da kann man mit ihnen deutsch reden.

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Die liberale Presse hausiert jetzt mit neu aufgefundenen Bemerkungen Lichtenbergs: gegen den Katholizismus und: »wenn noch ein Messias geboren würde, so könnte er kaum so viel Gutes stiften, als die Buchdruckerei«. Um sich aber mit Fug auf Lichtenberg zu berufen, wäre der Beweis nötig, daß er auch nach 125 Jahren noch derselben Ansicht ist. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Mann. Den wahren Segen der Buchdruckerei hat er nicht erlebt. Denn er hat nicht nur nicht die Presse erlebt, sondern nicht einmal eine Drucklegung seiner Tagebücher, deren Tiefe dort, wo sie unverständlich ist, auf ihrem Grund Druckfehler hat, die die literarhistorischen Tölpel in Ehren halten, weitergeben und fortpflanzen. Darüber ließen sich ergötzliche Dinge erzählen, wenn nicht die Wehrlosigkeit des Geistes vor dem Druck eine so tragische Angelegenheit wäre wie die Ahnungslosigkeit einer Bildung, welche die »Freigabe« ihrer Klassiker an das Geschäft der Nachdrucker, diese Vogelfreigabe des Wortes, als einen Triumph des Fortschritts bejubelt. Was muß aus den Gedanken Lichtenbergs geworden sein, wenn selbst Eigennamen, die er niederschreibt, verhunzt wurden, und in Stellen, deren Nachprüfung den Herausgebern nicht nur geboten, sondern auch möglich war. Keines dieser Subjekte aber hat sich auch nur die Mühe genommen, die von Lichtenberg gepriesene Stelle aus Jean Paul zu lesen. »Haben Sie wohl die Stelle in dem ›Kampaner Tal’ gelesen, wo Chiaur in einem Luftball aufsteigt?« Nein, sie haben es nicht getan; sie, Lichtenbergs bezahlte Herausgeber, haben, was jeder seiner Leser zu tun verpflichtet ist, unterlassen — denn sonst hätten sie eine solche Stelle nicht gefunden. Wie das? Steigt Chiaur nicht auf? Im ganzen Buch nicht. Wohl aber eine Gione. Die sonderbare Tatsache, daß Lichtenberg einen Chiaur und Jean Paul eine Gione aufsteigen läßt, gestattet vielleicht die Rekonstruierung der Handschrift Lichtenbergs, die ich nicht gesehen habe:

Handschrift Lichtenbergs

Es läßt die Möglichkeit zu, daß jedes zweite Wort verdruckt wurde. Denn die Herausgeber dürften dort, wo sie nur auf die Handschrift Lichtenbergs und jeweils auf die vorhergehende fehlerhafte Ausgabe angewiesen waren, sich kaum findiger gezeigt haben als dort, wo ihnen ein Vergleich mit dem Jean Paul’schen Druck möglich war. Und dafür, daß dieselbe Schande, nur immer in anderer Einteilung und mit anderem Umschlag, wiederholt wird, zahlen Verleger Honorare, die ein Jahrgehalt der Lichtenbergschen Professur übersteigen dürften. Nein, die Erwartung des Messias dürfte — gegen und für Lichtenberg — dem Glauben an die Buchdruckerei noch immer vorzuziehen sein. Kaum ein Autor ist gröblicher mißhandelt worden; nicht nur durch eine wahllose Zitierung, die den aus Vernunftgläubigkeit, Laune oder Andacht entstandenen Notizen den gleichen Bekenntniswert beimißt. Man könnte, wenn eine von Natur meineidige Presse Lichtenberg zum Eidhelfer beruft, ihr auch mit dem Gegenteil dienen, und vor allem mit jenem Gegenteil, zu dem eine Menschlichkeit seiner Art vor der heutigen Ordnung der Dinge ausschließlich fähig wäre. Der Liberalismus ist, wenn alle Stricke reißen, imstande, sich auf Gott zu berufen, der einmal gesehen haben soll, daß es gut war. Aber heute, nach 5673 Jahren, ist er gewiß auch nicht mehr derselben Ansicht. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Gott.

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In mir verbindet sich eine große Fähigkeit zur Psychologie mit der größeren, über einen psychologischen Bestand hinwegzusehen.

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Künstler ist nur einer, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann.

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Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.

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Mir scheint alle Kunst nur Kunst für heute zu sein, wenn sie nicht Kunst gegen heute ist. Sie vertreibt die Zeit — sie vertreibt sie nicht! Der wahre Feind der Zeit ist die Sprache. Sie lebt in unmittelbarer Verständigung mit dem durch die Zeit empörten Geist. Hier kann jene Verschwörung Zustandekommen, die Kunst ist. Die Gefälligkeit, die von der Sprache die Worte stiehlt, lebt in der Gnade der Zeit. Kunst kann nur von der Absage kommen. Nur vom Aufschrei, nicht von der Beruhigung. Die Kunst, zum Tröste gerufen, verläßt mit einem Fluch das Sterbezimmer der Menschheit. Sie geht durch Hoffnungsloses zur Erfüllung.