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V

1915

Jetzt sind alle Gedankengänge Laufgräben. Meine gar Katakomben.

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Ein Zauberlehrling scheint die Abwesenheit des Meisters benützt zu haben. Nur daß es statt Wassers Blut gibt.

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Eben jenes Böse, welches das Christentum nicht bändigen konnte, aufzupeitschen, ist der Druckerschwärze gelungen.

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In der Entwicklung europäischer Dinge konnte die Religion nicht weiter: da trat die Presse ein und führte alles zum Ende. Wahrlich, sie kam der lückenhaften Menschennatur besser entgegen; ihr zu schmeicheln, als jene, ihr zu helfen So vermag die Presse mehr gegen den Menschen als die Religion für ihn. Wie groß müßte die Persönlichkeit sein, die im Betrieb dieses Machtmittels ihrer selbst sicher bliebe, ein der Menschheit verantwortlicher Redakteur; wie stark die Menschheit, die ohne Gefahr sich ihm ganz überantworten könnte! Dies Machtmittel ist aber das Lebensmittel für eine Horde sittlicher Mißgeburten, es ist der Unterhalt aller Hinfälligen im Geiste. Das Wort, das im Anfang war, hören sie nicht, und so muß die antichristliche Menschheit auf ein neues Machtwort warten.

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Die Welt hält Gottseidank noch nicht so weit, daß das Problematische der geistigen Dinge selbstverständlich wird. Das will sie erst durch Kriege erreichen, durch die das Selbstverständliche der leiblichen Dinge problematisch wird. Sie führt einen Kampf gegen das Dasein. Aber eigentlich hat es dazusein, und dann erst wollen wir uns den Problemen zuwenden, nicht, um sie zu losen, sondern um uns zu sammeln.

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Das Kinderspiel »Wir spielen Weltkrieg« ist noch trostloser als der Ernst »Wir spielen Kinderstube«. Es wäre dieser Menschheit zu wünschen, daß ihre Säuglinge mit Erfolg anfangen, einander auszuhungern und den Ammen die Kundschaft abzutreiben.

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Es gibt eine Idee, die einst den wahren Weltkrieg in Bewegung setzen wird: Daß Gott den Menschen nicht als Konsumenten und Produzenten erschaffen hat. Daß das Lebensmittel nicht Lebenszweck sei. Daß der Magen dem Kopf nicht über den Kopf wachse. Daß das Leben nicht in der Ausschließlichkeit der Erwerbsinteressen begründet sei. Daß der Mensch in die Zeit gesetzt sei, um Zeit zu haben und nicht mit den Beinen irgendwo eher anzulangen als mit dem Herzen.

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Die Chinesen müssen die technischen Errungenschaften der Neuzeit schon in der Vorzeit durchgemacht und ihr Leben gerettet haben. Wenn sie sie wieder brauchen sollten, um sie uns abzugewöhnen, wird ihnen das Ding wieder nicht über den Geist wachsen. Asien wird Firlefanz zu moralischem Zwecke treiben.

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Im Kampf als solchem, den das Christentum verdammt, konnte einmal das Gute erlöst und das Böse im Kämpfer besiegt werden. Ist aber das Kampfmittel vom Bösen bezogen und der Zweck des Kampfes wieder nur, im Mittel zu wachsen, so siegt innen das Böse über das Gute. Wäre nun der Gegner ein solcher, der eben diesem Streben widerstrebt, so würde er außen zugrunde gehn, weil er das Mittel nicht hat, und innen, wenn er, um den Kampf zu bestehen, es erlangen möchte. Denn die Zeit ist so geartet, daß man an dem zugrunde geht, wodurch man siegt oder unterliegt.

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Dieser Krieg wirkt aus den Verfallsbedingungen der Zeit. Er ist die eigentliche Realisierung des Status quo.

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Was kann durch einen Weltkrieg entschieden werden? Nicht mehr, als daß das Christentum zu schwach war, ihn zu verhindern.

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Das Christentum war zu schwach vor der Rache Jehovahs, seine Verheißung zu dürftig, sein Himmelreich eine so arme Entschädigung, daß die Menschheit sich für dieses Himmelreich im Voraus entschädigen zu müssen glaubte. Die Szene: Ein Freudenhaus, das ein Schlachthaus ist, und im Hintergrund die letzte Kapelle, in der ein einsamer Papst die Hände ringt. Es ist nur ein Bild. Am Monolog vorbei geht die Handlung weiter.

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Paternoster heißt ein Lift. Bethlehem ist ein Ort in Amerika, wo sich die größte Munitionsfabrik befindet.

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Die technische Entwicklung wird nur noch ein Problem übrig lassen: die Hinfälligkeit der Menschennatur.

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Das Gefühl des neudeutschen Menschen, daß er sich selbst keine höhere Bestimmung zuerkennen dürfe als die, eine Präzisionsuhr zu sein, hat eine Redensart gefunden, deren smarte Häßlichkeit durch ihre bündige Wahrheit versöhnt. Man spricht davon, irgendwo sei eine Gesellschaft versammelt gewesen, in der außer Künstlern und Bohemiengs sogar Prinzen bemerkt wurden. Da setzt man denn, damit es nur sicher geglaubt werde, gleich hinzu: »richtiggehende Prinzen«. Adel und Schönheit, Liebe und Kunst, Tag und Traum, Krieg und Friede, Zufall und Schicksal — alles geht richtig. Man muß den Menschen, wenn er einmal erzeugt ist, nur aufziehen, dann geht er schon von alleine richtig. Eine weitere Gebrauchsanweisung erübrigt sich ... Und da wundert man sich, daß im Instinkt der umgebenden Menschheit etwas gegen ein Verfahren rebelliert, das als patentierter Instinktersparer den Menschen so weit gebracht hat, pünktlich dort zu sein, wohin ihn Gott nicht bestellt hat, und pünktlich dort zu fehlen, wo Gott so lange vergebens wartet.

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In einer gewissen Zivilisation muß es auch für die Seele so etwas wie einen Suppenwürfel geben, den sie nur ins heiße Wasser zu tun brauchen, um ein gleicher Art billiges wie bekömmliches Nahrungsmittel zu erzielen.

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Am Ende war ein Wort. Wenn es vor dem die Ewigkeit nicht schaudert, dann ist dies das letzte Rätsel, welches ihr die Aufklärung gelassen hat. Das Wort heißt: Aufmachung. Der Geist, der kein Geheimnis ungeschoren und keinen Inhalt unfrisiert ließ, hatte auch seine Offenbarung. Er hat die geschaffene Welt noch einmal »geschafft« und sorgte für die entsprechende »Aufmachung«. Nun ist sie zugemacht.

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Zwischen der Sprache und dem Krieg läßt sich etwa dieser Zusammenhang feststellen: daß jene Sprache, die am meisten zu Phrase und Vorrat erstarrt ist, auch den Hang und die Bereitschaft erklärt, das Wesen durch ein Surrogat des Tonfalls zu ersetzen, mit Überzeugung alles das an sich selbst untadelig zu finden, was dem andern nur zum Vorwurf gereicht, mit Entrüstung zu enthüllen, was man auch gern tut, jeden Zweifel in einem Satzdickicht zu fangen und jeden Verdacht, als ob nicht alles in Ordnung wäre, wie einen feindlichen Angriff mühelos abzuweisen. Das ist vorzüglich die Qualität einer Sprache, die heute jener Fertigware gleicht, welche an den Mann zu bringen, den Lebensinhalt ihrer Sprecher ausmacht; sie glänzt wie ein Heiligenschein, und sie hat nur noch die selbstverständliche Seele des Biedermanns, der gar keine Zeit hatte, eine Schlechtigkeit zu begehen, weil sein Leben nur aufs Geschäft auf- und draufgeht und wenn’s nicht gereicht hat, ein offenes Konto bleibt.

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Gewiß ist ein Wunder der Entwicklung geschehen. Wenn nur jetzt auch noch ein Festredner oder ein Austauschprofessor oder sonst ein Apparat so aufrichtig wäre, sich das Wort entfahren zu lassen: »Deutsche Materie hat den Geist bezwungen!«

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Ich habe einmal im Lärm einer verkehrstollen Straße den Ausruf gehört: »Weinstube Rosenkavalier — lauschigstes Eckchen der Welt!« Über solche Wahrnehmungen kann die strategisch günstigste Position schwerlich beruhigen.

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Für die Kultur eines Volkes dürfte die Anzahl der Zarathustra-Exemplare, die seine Soldaten im Tornister führen, schwerlich ein verläßlicher Maßstab sein. Eher schon der Umstand, daß den Soldaten mehr Zarathustra-Exemplare nachgerühmt werden, als im Felddienst tatsächlich zur Verwendung gelangen, und daß es jene hören wollen, die daheim ihren Zarathustra lesen und ihre Zeitung.

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Die deutsche Bildung sollte nicht geleugnet werden. Nur muß man auch wissen, daß sie kein Inhalt ist, sondern ein Schmückedeinheim.

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Mit gutem Recht ist in den Betrachtungen über Kultur und Krieg immer davon die Rede, daß die andern die Utilitarier sind. Diese Auffassung entstammt dem deutschen Idealismus, der auch die Nahrungs- und Abführmittel verklärt hat.

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Ich kann beweisen, daß es doch das Volk der Dichter und Denker ist. Ich besitze einen Band Klosettpapier, der in Berlin verlegt ist und der auf jedem Blatt ein zur Situation passendes Zitat aus einem Klassiker enthält.

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Alles, was fälschlich gegen eine barbarische Kriegführung vorgebracht wird, richtet sich, dem Hasse unbewußt, gegen eine barbarische Friedensführung.

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Gegen den Vorwurf, daß deutsche Soldaten Kindern die Füße abhacken, berufen sich deutsche Journalisten darauf, daß dieses Volk Luther, Beethoven und Kant hervorgebracht habe. Aber daran ist es mindestens so unschuldig wie an den ihm zugeschriebenen Greueltaten, und es wäre wirksamer, sich gegen solche Anschuldigungen auf die Geister zu berufen, die Deutschland noch künftig hervorbringen will. Wenn wir so weit halten, daß das Vaterland von seinen Genies keine anderen Dienste verlangt als von seinen Holzknechten, und wenn jene durch einen tödlichen Zufall der Gelegenheit überhoben werden können, ihm freiwillig andere zu leisten, dann entsteht wohl auch keines mehr. Die Geistestaten der Luther, Beethoven und Kant haben trotz allem, was die deutsche Bildung davon weiß und die deutsche Ideologie hineinbezieht, keine Verbindung mit einem Zustand, aus dem jene ad personam heute, vielleicht, nur durch den priesterlichen Beruf, durch Taubheit und durch eine Rückgratverkrümmung befreit wären.

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Die Pickelhaube ist gebildeter als der Kosak; aber er lebt nicht so weit von Dostojewski wie sie von Goethe.

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Die Deutschen nennen sich auch das Volk Schopenhauers, während Schopenhauer so bescheiden war, sich nicht für den Denker der Deutschen zu halten.

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Die Humanität im Kriege, die Philosophie im Schützengraben, der Kunstsinn vor einer zerschossenen Kathedrale und sonstige Tugenden, durch deren Vorhandensein der Krieg erst zum Barbarismus wird, sollten nicht so oft hervorgehoben werden. Ärger als die Grausamkeit im Krieg sind Erscheinungen, die jenes noch länger währende Übel, den Frieden unerträglich machen. Schweißfüße? Bewahre; das wäre die Meinung des Ästheten (wiewohl sie ein geistiges Merkmal sind). Nein, der Ästhet selbst. Nicht Bomben, sondern Luxusdrucke auf handgeschöpftem Büttenpapier. Der elende Zierat, mit dem sich der banalste Hausrat aller Kulturen behängt und durch den Gewinnsucht und Snobismus einem typographischen Ungeist, dem erlernbaren Kunstspiel, dem ärgsten Pfuschertum am Wort Gelegenheit schaffen. Eine Hekatombe Menschenopfer wiegt nicht so schwer wie der Umstand, daß die Schändung eines toten Dichters durch einen spürnasigen Tintenjuden, einen ästhetisch interessierten Buchhändler und einen Letternschneider, diese Häufung nekrophiler und bibliophiler Bestrebungen, Vergnügen und Geschäft macht. Und am Ende besteht kein Greuel ohne das andere und das ärgste ist der Protest der Bildung, daß sie damit keinen Zusammenhang habe. Sie hat noch weniger Zusammenhang mit ihrer Sprache. Denn sie wissen Bescheid von allem und ihre Sprache hat eben noch den Zweck, ihnen Bescheid zu sagen. Kein Volk lebt so weit wie dieses von der Sprache als der Quelle seines Lebens. Es schreibt heute das abgestutzte Volapük des Weltkommis und wenn es die Iphigenie nicht gerade ins Esperanto übersetzt, so überläßt es das Wort seiner Klassiker der schonungslosen Barbarei aller Nachdrucker und entschädigt sich in einer Zeit, in der kein Mensch mehr das Schicksal des Wortes ahnt und erlebt, durch Luxusdrucke und ähnliche Unzucht eines Ästhetizismus, der das echtere Stigma des Barbarentums ist als das Bombardement einer Kathedrale, und wäre sie selbst kein militärischer Beobachtungsposten. Denn die ganze Menschheit ist einer; und sie lügt, wenn sie glaubt, ihre Bildung sei ein Beweis gegen ihre Grausamkeit und nicht für diese.

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Die Blutbereitschaft des Blutes ist groß oder traurig. Schauerlich ist die Blutbereitschaft des Wortes. Welch ein Fetzen kann doch die Sprache sein, daß sie sich so dem unerlebtesten Inhalt hingibt, so dem niedrigsten Willen, sich neben die höchste Tat zu stellen, erliegt und dem Schleim einen Reim findet, daß er von weitem aussieht wie Erz. Blaustrümpfe, die sich nicht einmal selbst befriedigen, Hysteriker, die im Frieden nicht selbständig onanieren konnten, Lebemänner, die vor der Assentierung zittern, Mummelgreise, die sie nicht mehr zu fürchten haben, sind mit Kriegsgedichten hervorgetreten. Das Unvorstellbare, vor dem der Gedanke eben noch Kraft hat, in das Schweigen zu flüchten, hat die Mittelmäßigkeit beredt gemacht und den Dilettantismus geschwätzig. Wie viel Raum auch eine große Zeit haben mag, unmöglich wäre es, wenn die Sprache nicht zur Zeitgenossin herabgesunken wäre. Unmöglich wäre, daß im Granatenhagel die Stimme eines kleinen Judenmädels gehört werden will, das die Armee mit »Ihr, meine Treu’n« und »Schließt eure Reih’n« apostrophiert; unmöglich, daß Librettisten sich in die Begeisterung einlassen und aus einer Affäre, bei der an einem Tage vierzigtausend Menschenleiber an Drahtverhauen zucken, etwas für ihr elendes Geschäft herausfischen! Was geht nur in all den unfallsichern Menschenleibern vor, daß sie eben das, was in ihnen nicht vorgeht, nie vorgehen könnte und ihrem Gefühl völlig unerreichbar bleibt, so als ihr Mitgemachtes verbauter zu begleiten sich nicht scheuen? Welche Wundermacht neben dem Ereignis, das zu schwach war, zum schweigenden Mitleid zu überreden, ist da wirksam? Einer, der einmal von sich behauptet hat, er »liebe die hektischen schlanken Narzissen mit blutrotem Mund, er liebe die Qualengedanken, die Herzen zerstochen und wund«, wünscht jetzt ganz andere Verwundungen und ist der Dichter der Parole: »Die Russen und die Serben, die hauen wir zu Scherben!« Ist er gesund geworden, ist er erstarkt oder war eins so gefühlt wie das andere? Ist es möglich, daß Handwerker des Wortes, die ihr Leben lang gewohnt waren, die Kundschaft mit dekadenten Stimmungen oder auch Walzerträumen oder was sonst die Künste des Friedens bieten, zu bedienen, ist es möglich, daß sie nicht vor der Zumutung, ab 1. August 1914 das Ungeheuerliche zu fassonieren, verlegen werden; vor dem Wunsch, Millionen Menschen auf einmal vernichtet zu sehen, nicht lieber Reißaus nehmen als draus ein Couplet zu machen; ihre Harmlosigkeit so verleugnen und so bewähren, und sich nicht eher selbst aus dem Leben bringen, als den Tod in Reime?

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Der Dori Körner (Pseudonym für Theodor Kohn) findet jetzt Töne, über die man im Befreiungskriege einfach paff gewesen wäre, und Sie sollten sehn, wie der Moriz Abeles, der damals noch Arndt hieß, alle mit sich fortreißt!

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Wenn dieser Krieg einer wäre, so wäre keine Presse. Und wäre der Dreck nicht von selbst erstarrt, so hätte man ihm helfen müssen. Die weißen Flecke, die spärlichen und seit Erschaffung der Institution ersten anständigen Stellen im Text, sind nur geeignet, einem die schon greifbaren und doch unerreichbaren Benefizien eines Lebens auf unbedrucktem Papier als Tantalusqualen empfinden zu lassen. Staaten, die Krieg führen, sollten auch den Mut zu einem Verbot der Presse haben. Zensur ist die grundsätzliche Anerkennung des Übels. Wann denn sonst als jetzt, da ein Kommando ihm die Autorität rettet, hätte der Staat sich endlich zur Verstaatlichung jener Nachrichten entschließen müssen, auf die das Publikum Anspruch hat und die ihm ohne die heillose Zutat von Meinung und Beschreibung in Krieg und Frieden zu genügen haben? Unentbehrlich ist die Presse selbst jenen nicht, deren Vorstellungsleben sie vergiftet hat, und schwerer als den Alkohol in Rußland hätte man sie auch nicht vermißt. Wer braucht denn die Presse außer mir, der sie aber auch nur so lange braucht, als es sie gibt! Die hunderttausend nichtsnutzigen Staatsangehörigen, die heute nur deshalb nicht wehrfähig sind, weil sie schreibfähig sind und die eine Wahnvorstellung für »unentbehrlich« hält, sind ein Hindernis des Kriegs, den sie gemacht haben, und ein Ärgernis jenen, die an ihm teilnehmen. Im Krieg eine Presse haben heißt den Feind im Rücken haben. Und von allen Seuchen, die einen Krieg begleiten, ist sie jene, deren furchtbarste Verbreitung durch das einfachste Verbot zu hemmen wäre. Sollte der Gedanke, der eine Menschheit aus ihren Lebensbedingungen reißt, nicht stark genug sein vor dem Feinde aller Staaten?

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Es gibt einen Kulturgeschmack, der sich der Läuse im Pelz mit aller Gewalt zu entledigen sucht. Es gibt einen, der die Läuse duldet und den Pelz auch so tragbar findet. Und es gibt schließlich einen, der am Pelz die Läuse für die Hauptsache hält und deshalb den Pelz den Läusen zur freien Verfügung überläßt.

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An der Erfindung des Schießpulvers und an der Erfindung der Druckerschwärze müßte man vor allem die Bedeutung zugeben, die ihre Gleichzeitigkeit für die Menschheit hat.

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Drei Internationalen: die katholische, die sozialistische und die journalistische. Sie sind durch den Weltkrieg in nationale Gruppen gespalten. Der Einfluß, den die katholisch-nationale Gruppe auf die Volksgenossen zu nehmen versucht, wird allzu deutlich als Widerspruch zum Wesen empfunden und kann deshalb zur Stärkung des nationalen Hasses nicht viel beitragen. Die sozial-nationale Gruppe verzichtet zumeist auf solchen Einfluß, da sie ihn selbst als Widerspruch zum Programm empfindet, dem weder die Förderung des Staatsinteresses angemessen noch die Übertreibung des nationalen Moments erlaubt ist. Nur der Einfluß, den die preßnationale Gruppe jeweils verübt, ist andauernd und mächtig. Denn hier wird die nationale Gemeinheit nirgends als Widerspruch zum internationalen Wesen empfunden. Über allen Schlachtfeldern könnte noch heute die Einheit eines Zeitungskongresses walten, auf dem Individuen, die immer noch mehr Standesgenossen als Volksgenossen sind, mit dem Weltbrandmal auf der Stirn, Beschlüsse fassen, etwa wie sie einander am wirksamsten der Lüge bezichtigen könnten.

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Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.

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Eine Kultur ist dann fertig, wenn sie ihre Phrasen noch in einen Zustand mitschleppt, wo sie deren Inhalt schon erlebt. Das ist dann der sichere Beweis dafür, daß sie ihn nicht erlebt. Nicht daß in den Tagen der Schlacht bei Lemberg der jubilierende Besitzer eines fünfzigjährigen Börsenblattes dicht neben der Weltgeschichte, nein, vor ihr, als »Generalstabschef des Geistes« beglückwünscht wird oder seinem »Stab« nachgerühmt, daß er die »Fahne hochhalte«. Hier mißt sich der Geist, der die Phrase hat, mit der ihm fernen Sphäre, aus deren Leben er sie bezogen hat, frech genug, da diese Sphäre in nächster räumlicher Nähe eben lebendig wird. Aber man würde denken, daß sie selbst noch dieses Leben hat und in ihr selbst der unmittelbar erlebte Inhalt sich nie anders als im unmittelbar geschöpften Wort aussprechen könnte; daß ihr Phrasen gar nicht einfallen möchten, deren Inhalt ihr nicht nur eingeboren ist, sondern den sie aufs neue erlebt, und daß sie Redensarten verschmähen müßte, die so lange schon als die ausgespuckten Schalen eines ganz anders gearteten Appetits in der Welt herumliegen. Man würde doch nicht denken, daß der Krieger eben die Umschreibungen noch gebrauchen könnte, die der Bürger für seine täglichen Verrichtungen und Verfehlungen, nein, der Tagdieb als die Verzierung seiner journalistischen Niedrigkeiten aus der kriegerischen Sphäre erbeutet hat. Sonderbar genug, daß just die Untauglichen sich immer freiwillig in der kriegerischen Sprache betätigt haben Eben weil ein Regiment seine Fahne hochhält, so sollte es solches im Gegensatz zu einer Redaktion, die ja mit nichts dergleichen zu schaffen hätte, wenn der Bürstenabzug nicht auch »Fahne« hieße, und die ihrem Handwerk den gloriosen Nebensinn errafft hat, nicht mehr öffentlich zugeben, und zu allerletzt durch die Vermittlung einer Redaktion. Denn wenngleich es im Nahkampf ja fast wieder die Sache selbst ist, wirkt es doch nur als eine Umschreibung für Beharrlichkeit und ähnliche Eigenschaften, die sich in einem langen Frieden ganz andere Berufe angeeignet haben. Es würde also höchstens zu sagen sein, daß die Fahne, die ja selbst ein Ornament ist und in der Auseinandersetzung technischer Gewalten schon beinahe das Aussehen einer Phrase hat, gehalten, nicht daß sie hochgehalten wurde. Wenn man aber gar in einer Aktion, bei der die Erhaltung der Fahne nicht in Frage kam, Beharrlichkeit gezeigt hat, würde man da gut tun, davon zu sprechen, man habe sie hochgehalten? Würde der Krieger da nicht eines rauhen Eingriffs in den Sprachschatz des Kriegsberichterstatters sich schuldig machen, der ja ehedem sein eigener Besitzstand war, aber durch Verjährung schon dem Feind gehört wie nur irgendein Elsaß-Lothringen? Und kann von einem gesagt werden, er habe sich im Schützengraben seine Sporen verdient? Soll dies selbst von einem Reiter gesagt werden, auch wenn er noch ein Pferd hat und nicht im Schützengraben seine Sporen verdienen muß? Und kann in einer Seeschlacht das Leben in die Schanze geschlagen werden? Oder darf von dem Plan der Umzingelung einer Landarmee gesagt werden, er habe kläglich Schiffbruch gelitten? Darf dies selbst von der Operation einer Flotte gesagt werden, da es doch nur von einem Schiff gesagt werden kann, und auch dieses dann noch dem Verdacht ausgesetzt wäre, es sei ein Bankdirektor? Aber wenn ein Krieger von einem Schiffbruch spricht, den er nicht erleiden könnte, so könnte er auch von einem Bankerott sprechen, den er erleidet. Eine Marineaktion in Fluß bringen kann gefährlich sein. Und soll eine Armee dem Feind ihre Überlegenheit »schlagend« zum Bewußtsein bringen? Eben nur schlagend; aber wenn sie’s sagte, so wäre sie ein Advokat. Oder kann ein Soldat behaupten, der Vorgesetzte sei so beliebt, daß die Truppe »für ihn durchs Feuer gehen würde«, da sie’s doch ohnedies tun muß? Und darf der Erfolg dank unserer jetzigen Stellung bombensicher genannt werden? Wenn die Stellung selbst so genannt würde, wäre es noch eine Phrase, die gar nicht daran denkt, daß die Stellung wirklich bombensicher sein muß. Wie können Militärkritiker davon sprechen, daß die Beschießung des Platzes ein Bombenerfolg war, da sie doch nicht Theaterkritiker sind? Oder: »In London macht die Torpedierung der ›Lusitania’ tiefen Eindruck.« Das ist noch menschlich. Weiter: »Auch an der Newyorker Börse herrscht große Aufregung, alle Kurse fielen.« Weil die Menschen sanken, das ist ein Begleitumstand. Aber: »In Washington schlug die Nachricht wie eine Bombe ein.« Hier sind die Seelen torpediert. Und zwischen Kriegsberichten wird »Der Kampf gegen die Zensur« erörtert, »Der Feldzug gegen die Anleihe« und gar »Der Krieg gegen die Wehrpflicht«. Nun, Journalisten, Händler und Friedensfreunde haben ihr Lebenlang wie Soldaten gesprochen. Sie mögen dabei bleiben, wenn sie über Soldaten sprechen. Jedoch Soldaten müßten anders sprechen: nicht wie Journalisten, die wie Soldaten sprechen, sondern wie Soldaten sprechen. Die Trennung ist aber wohl nicht mehr durchführbar. Eben weil der »Generalstabschef des Geistes« auch einen »Stab« hat, so besteht Gefahr, daß der Generalstabschef einen Redaktionsstab hat, und wenn Krämer sich aufs hohe Roß schwingen, so mögen Krieger sich nachrühmen lassen, daß sie »einen Volltreffer auf ihr Konto buchen konnten«. Kommis, die die deutsche Sprache evakuiert haben, gebärden sich als Kommandanten und verbündete Armeen müssen es sich gefallen lassen, als »Gesellschafter mit unbeschränkter Haftung« angeredet zu werden. Das kommt davon, daß die Menschheit ihre Exportfragen mit Stinkbomben in Ordnung bringen will. Sollte solch ein Krieg am Ende doch nicht die moralische Kraft haben, die Menschheit zu den Dingen und zu den Worten zurückzuführen und die Zwischenhändler mühelos abzuweisen? Wenn wir die Tat erlebten, wäre der Schorf der Sprache von selbst abgefallen, der Dreck der Gesinnung erstarrt. Neulich las ich, »die Nachricht von dem Brand in Hietzing habe sich wie ein Lauffeuer verbreitet«. So die Nachricht vom Weltbrand. Die Welt brennt, weil Papier brennt. Wie konnte man auch solche Materie im Hause lassen!

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Was ist denn das für ein mythologischer Wirrwarr? Seit wann ist denn Mars der Gott des Handels und Merkur der Gott des Krieges?

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Ist es nicht Unzucht? Eben die Welt, deren höchstes Lob »gediegen« oder »leistungsfähig« war, darf jetzt »wacker« und »brav« sagen.

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Es ist ein Triumph der Sprache über die Sieger, daß sie, ob sie wollen oder nicht, jetzt so oft den Plural »Schilder« anwenden, und ein Triumph der Kaufleute über die Sprache, daß sie im kommenden Frieden nur noch »Schilde« über ihren Geschäften haben werden. Und es ist nicht einmal eine Verwechslung dieser Worte, da doch der Krieg auf einer Verwechslung dieser Dinge beruht. In der gepanzerten Kommerzwelt, die täglich Blutbilanz macht, tauschen der Schild und das Schild so oft ihre Rollen wie das Verdienst und der Verdienst. Es geht umso leichter, als Berufe, die ihr Lebtag einen Verdienst und ein Schild hatten, jetzt ohne Übergang einen Schild und ein Verdienst haben.

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Einer meldete: »Das Kommando wird prompt ausgeführt.« Er wollte sagen: Die Schlacht wird prompt geliefert.

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Sollte die Technik am Ende nicht imstande sein, neue Embleme herzustellen? Bleibt sie angewiesen, sie von den alten Idealen zu beziehen und auf die neue Sache aufzumontieren?

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Ahnungsvoller Druckfehlerteufel! Ein Historiker schrieb: »So mußte, als die Mongolen im 13. Jahrhundert Ungarn erobert hatten, Herzog Friedrich der Streitbare den wilden Feind durch den Sieg auf dem Blochfeld bei Wr. Neustadt von Deutschland fernhalten.«

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Diese Zeit stellt noch immer eine sichere Information vor einen ungewissen Heldentod. Darum hat sich die Zeitung, die wie keine andere der Zeit Sprache spricht, so ausgedrückt: »Bevorstehender Heldentod der deutschen Soldaten in China.«

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Daß der »Heldentod« einmal eine Zeitungsrubrik werden könnte, hat sich keiner jener Helden träumen lassen, deren Andenken auf die mündliche Überlieferung, wenn’s gut ging, auf ein Epos angewiesen war. Unsere Zeit erhebt zu dem neuen Inhalt auch noch auf die alten Embleme Anspruch. »Maschinenrisiko« wäre ihr zu farblos. Und dennoch träte hier wenigstens der individuelle Anteil am allgemeinen Schicksal immer wieder hervor, aus Rubrik und Mechanik immer wieder vor unser Gefühl. Kein Tod aber verträgt die Klischierung weniger als der Heldentod, weil er in sich der Vorstellung einer epidemischen Häufigkeit widerstrebt. Wie häßlich, daß der Lorbeer dort jetzt wachsen soll, wo die Reklame wuchert! Der Heldentod, und sei er nur der Zufall eines Schrapnells, der für die Angehörigen schmerzlich ist, sei er nur Tod schlechthin, wird er nicht entweiht durch jenes Register, in dem früher ebenso häufig die Verleihung des kaiserlichen Rats geführt wurde? Und ist die Duldung solcher Dinge nicht auch ein Zeichen der großen Zeit wie ihre Übung? Wäre nicht hier ein weißer Fleck der Leichenstein, vor dem der Leser den Hut zu ziehen hätte?

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Ehedem war der Krieg ein Turnier der Minderzahl und jedes Beispiel hatte Kraft. Jetzt ist er ein Maschinenrisiko der Gesamtheit und jedes Beispiel steht in der Zeitung.

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Die Quantität ist kein Gedanke. Aber daß sie ihn fraß, ist einer.

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Gewiß, die Entwicklung der Waffe konnte unmöglich hinter den technischen Errungenschaften der Neuzeit zurückbleiben. Nur die Phantasie der Menschheit mußte hinter ihnen zurückbleiben. »Führt man denn mit Phantasie Kriege?« Nein, denn wenn man sie noch hätte, würde man es nicht tun. Denn dann hätte man die Maschine nicht. Denn dann wüßte man, daß der Mensch, der die Maschine erfand, von ihr überwältigt wird, und daß es Sünde ist, das Leben dem Zufall auszusetzen und den Tod zum Zufall zu erniedrigen.

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Einmal rief ein Weib: »Extraausgabe! Neue Freie Presse!« Sie hatte an der Hand ein dreijähriges Kind; das rief: »Neue feile Pesse!« Und sie hatte einen Säugling auf dem Arm; der rief: » Leie leie lelle!« Es war eine große Zeit.

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Separiertes Zimmer für einen soliden Herrn gesucht, in das der Ruf »Extraausgabee!« nicht dringt.

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»Bleiben Sie denn unbewegt vor den vielen, die jetzt sterben?« »Ich beweine die Überlebenden und ihrer sind mehr.«

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»Es handelt sich in diesem Krieg —« »Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!«

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Ich begreife, daß einer Baumwolle für sein Leben opfert. Aber umgekehrt?

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Die Völker, die noch den Fetisch anbeten, werden nie so tief sinken, in der Ware eine Seele zu vermuten.

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Wir Menschen sind doch bessere Wilde.

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Es gibt verschiedene Kulturen. Die eine lebt im Lebensmittel. Die andere verbindet den Geist mit dem Lebensmittel. Die dritte trennt den Geist vom Lebensmittel. Die vierte lebt im Geist — aber nicht in Europa.

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Es gibt Gegenden, wo man wenigstens die Ideale in Ruhe läßt, wenn der Export in Gefahr ist, und wo man so ehrlich vom Geschäft spricht, daß man es nicht Vaterland nennen würde und vorsichtshalber gleich darauf verzichtet, in seiner Sprache ein Wort für dieses zu haben. Solches Volk nennen wir Idealisten des Exports eine »Geschäftsnation«.

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Das selbstlose Pathos, das uns so oft und mit Recht beteuerte, daß »Söldner« von »Sold« komme, hat ganz vergessen, daß der »Soldat« mindestens in seiner etymologischen Bedeutung auf ihn auch nicht ganz verzichten kann.

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Bismarck war der letzte, der erkannt hat, daß ihnen eine Ausdehnung ihres Etablissements nicht bekömmlich wäre, und daß sie nicht zu viel essen dürfen, weil sie eine schlechte kulturelle Verdauung haben, deren Begleiterscheinungen die Nachbarschaft im Nu spürt. Und daß die Expansion im Welthandel den deutschen Geist, von dem die deutsche Bildung etliche biographische Daten bewahrt, für alle Zeiten isolieren würde. Es gibt scheinbare Handelsvölker, die weniger Seele haben, aber dies Bißchen bewahren können, weil sie es von den Problemen des Konsums streng zu separieren vermögen. Freilich, wer weiß, wie lange noch. Sie laufen Gefahr, mit der allgemeinen Wehrpflicht nicht die anderen, sondern sich selbst zu vernichten.

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Organisation ist ein Talent und wie jedes Talent zeitläufig. Es ist praktisch und dient der Individualität, die sich seiner bedient, besser als eine zerfahrene Umgebung, in der auch der mittelmäßige Mensch Individualität hat. Wie sehr muß aber ein Volk sich seiner eigenen Individualität entäußert haben, um zu der Fähigkeit zu gelangen, so glatt die Bahn des äußeren Lebens zu bestellen! Bei der Entscheidung zwischen Menschenwerten hat das nervöse Bedürfnis des höheren Einzelmenschen nicht mehr mitzureden. Er durfte in einem schlechten Leben, und zumal in dem äußeren Chaos, worin das schlechte Leben hierzulande wohnt, sich nach Ordnung sehnen; er durfte die Technik als Pontonbrücke benützen, um zu sich selbst zu gelangen; er war es zufrieden, daß die Menschheit um ihn herum nur mehr aus Chauffeuren bestand, denen er gern noch das Stimmrecht entzogen hätte. Jetzt geht es um die Persönlichkeit der Völker — und jenes siegt, das im Verkehr mit der Technik am wenigsten Persönlichkeit behalten hat.

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Nein, es ist kein Widerspruch zwischen meinem Lob und meinem Tadel desselben Zustandes. Zwischen meinem Lob einer Zivilisation, die das äußere Leben reibungslos gemacht hat, und meinem Tadel einer Kultur, die eben um dieser Reibungslosigkeit willen sich verflüchtigt hat. Es ist kein Widerspruch, sondern eine Wiederholung. Ich fühle mich in einer allgemeinen Mißwelt am wohlsten dort, wo sie geordnet ist und die Gesellschaft seelisch genug entleert, um mir eine Komparserie zu stellen, in der einer wie der andere aussieht. Aber ich wünsche nicht, meine Kommodität über das Glücksbedürfnis der Menschheit zu setzen, und halte es für verfehlt, wenn sie selbst sich wie ein Regiment Aschinger-Brötchen aufreihen läßt.

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Der Anspruch auf einen Platz an der Sonne ist bekannt. Weniger bekannt ist, daß sie untergeht, sobald er errungen ist.

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Ich liebe die Lebensbedingungen des Auslandes nicht. Ich bin nur öfter hingegangen, um die deutsche Sprache nicht zu verlernen.

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»Ach, ’s ist ja zum Schießen!« hörte ich einen Dreijährigen sagen, einen, der drei Jahre erst gelebt, nicht gedient hatte. Irgendwo wird das Kind als Fertigware geboren. Aus dem Mutterleib springend, überspringt es die vielen Empfindungswelten, durch die das Wort sich erst entwickeln mußte, ehe es Redensart sein durfte.

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»Wir haben die feindlichen Vorstellungen genommen.« Aber die eigenen auch. Welch tiefer Sinn, daß dieses Wort jetzt nur noch den einen Sinn hat! Schopenhauer hätte über die »Welt als Wille zur Macht und als feindliche Vorstellung« nachgedacht. Nietzsche hätte den »Willen zur Macht« wegen falscher Vorstellung mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgezogen.

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(Kindermund.) »Der Papa hat gestern gesagt: Ans Vaterland ans teure schließ dich an. Ist denn das Vaterland jetzt auch teurer geworden?«

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Was ist denn das mit den Fremdwörtern? Man vergesse doch nicht, daß sie so ziemlich die einzigen deutschen Wörter sind, die dieser »aufgemachte« und dem Verkehrsbedürfnis der Kundschaft adaptierte Jargon noch hat.

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Der Kommis kennt jetzt keinen höheren Ehrgeiz, als Französisch und Englisch nicht zu können. Deutsch aber beherrscht er nach wie vor.

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Ich weiß nicht, was das ist, aber seitdem ich statt einer Potage à la Colbert eine »Suppe mit Wurzel werk und verlorenem Ei«, statt Irish stew »Hammelfleisch im Topf auf bürgerliche Art«, ein »Mischgericht« statt eines Ragout, keinen Vol-au-vent, sondern eine »Blätterteighohlpastete« und dazu nicht Mixed pickles, sondern im Gegenteil »Scharfes Allerlei« zu essen bekomme, und wenn mir ein Appetitbrot genügte, »Reizbrot, Leckerschnitte«, statt einer Sauce tartare »Tartaren-Tunke (Soß)«, statt einer Sauce Mayonnaise »Eieröltunke (Soß)«, statt Sardellensauce »Sardellentunke« oder »Sardellensose«, wobei der Patriot ohnehin schon ein Auge zudrückt, statt eines garnierten Rindfleisches entweder ein »Rindfleisch umlegt (mit Beilagen)« oder mit »Gemüse-Randbeilagen (Umkränzung)«, statt Pommes a la maître d’hotel »Erdäpfel nach Haushofmeister-Art« und ein »Rumpfstück«, ein »Beiried-Doppelstück«, ein »Rinds-Lenden-Doppelstück« oder ein »blutiges Zwischenstück«, entweder »mit Teufelstunke« oder »mit Bearner Tunke«, wobei das unübersetzbare Bearner schwer verdaulich ist, oder gar »auf Bordelaiser Art«, unter der ich mir nichts vorstellen kann, während ich einst doch wußte, wie das Leben à la Bordelaise beschaffen war, seitdem ein »Erdäpfelmus-Brei, frisch gemacht«, ein »Blumenkohl mit holländischer Tunke (Sos)« oder mit »Holländersose« oder ebenderselbe »überkrustet« auf den Tisch kommt, seitdem es, ach, »Volksgartenlendenschnitten« gibt, »Schnee-Eierkuchen mit Obstmus«, die Maccaroni verständlicher Weise »Treubruchnudeln« heißen, der Russische Salat aber »Nordischer Salat« und zwischen einem Wälischen und einem Welschen Salat zu unterscheiden ist, welch letzterer auch »Schurkensalat« genannt wird, seitdem für »zwei verlorene Eier« nur ein ehrlicher Finder gesucht wird und mir zum Nachtisch »Näschereien« geboten werden, sei es »ein Päckchen Knusperchen« oder »Kecks« oder gar eine »Krem« oder — Hilfe! — ein »Hofratskäschen« statt eines Romadour, — seitdem, ich weiß nicht, wie das kommt, ist halt alles so teuer geworden! Ja, ich versteh nicht, warum diese deutschen Übersetzungen und die dazu notwendigen Erklärungen auf Französisch und Deutsch gar so kostspielig sind!

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Es gibt einen Hindenburg-Kakau-Sahne-Zucker-Würfel. So praktisch ist das Leben eingerichtet. Noch praktischer: es gibt auch eine »Kulturwohnung« mit einem »Kulturbadezimmer«.

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Im Sagenkreis des Deutschtums wird dereinst ein großes Durcheinander entstehen zwischen Kyffhäuser und Kaufhäuser.

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Welch ein Aufgebot von Bildung! Verleger haben das eiserne Kreuz, Soldaten schreiben Feuilletons und Feldherrn sind Doktoren.

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In der deutschen Bildung nimmt den ersten Platz die Bescheidwissenschaft ein.

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Aus den Äußerungen der deutschen Dichter habe ich entnommen, daß sie nichts zu sagen haben, und mir mit der Erwartung geschmeichelt, daß sie mein Schweigen anders deuten würden.

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Die deutschen Dichter haben das Talent, nicht den Mund halten zu können.

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Ein deutscher Dichter hat das Geräusch der Maschinengewehre »Sphärenmusik« genannt und ein österreichischer hat beobachtet, wie »jeder Halm stramm steht«. Wenn die Dichter so parieren, werden der Kosmos und die Natur zu meutern beginnen.

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Ich habe zu den Mysterien des Dichters D. nie so rechtes Zutrauen gehabt. Dem Lyriker L., diesem Genie der Klarheit, imponierten sie mächtig. Mir waren sie der Nebel, der über den Wassern liegt, aber ohne nachfolgende Schöpfung. Mir waren sie der Dampf, der zu Zeiten aus der Lebensversicherung aufsteigt. D. muß dieses Mißtrauen schließlich geteilt haben. L., dieses Genie der Klarheit, das auf stofflich greifbarstem Erdengrund alle Tiefe und Höhe durchlebt hat und noch im Waffenrock ein Schöpfer war, schien ihm unerreichbar. Da kam denn der Krieg, da ging er denn hin, und zog auch den Waffenrock an. Er ließ sich, damit kein Zweifel sei, darin photographieren. Er rief: »Hurra, ich darf mit!« und schrieb ein Abschiedsfeuilleton an seine Kinder. Er ward Leutnant. Er nannte das Geräusch der Maschinengewehre Sphärenmusik. Um aber dem Erlebnis Farbe abzugewinnen, wie sein Vorgesetzer in der Lyrik, der Hauptmann L., war er um 45 Jahre zu spät in den Krieg gezogen. Es war doch anders, als man sich’s vorgestellt hatte. Man hat ein eisernes Kreuz. Schließlich gehts vom Feld in die Kanzlei, wo die Mysterien, ich sag’s ja, immer noch am besten aufgehoben waren.

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Die deutschen Lyriker sind versatile Leute.

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Unsere Literatur hat einen belebenden Impuls empfangen? Sie hätte lieber Ohrfeigen empfangen sollen. Wie, die Schöpfungen unserer Dichter haben etwas von dem Feueratem übernommen, mit dem diese Zeit über den Alltag hinweggefegt ist oder so? Zwischen dem Feueratem und dem Alltag hat sich sofort eine Gemeinsamkeit ergeben, die Phrase, die unsere Dichter, anschmiegsam wie sie sind, sofort übernommen haben. Sie sind pünktlicher und schneller eingeschnappt, als es die verblüffte Kundschaft verlangt hätte. Ihre Schöpfungen als einen Beweis für die Größe der Zeit offerieren, hieße Optimismus bereits mit Frozzelei verwechseln. Ich mache immerhin noch den Unterschied mehrerer sittlichen Grade zwischen Bürgern, die die Notwendigkeit aus dem Bureau in den Schützengraben treibt, und Tagdieben, die daheim mit dem Entsetzen Ärgeres treiben als Spott, nämlich Leitartikel oder Reime, indem sie eine Gebärde aus zweiter Hand, die schon in der ersten falsch war, und einen Feueratem aus dem Mund der Allgemeinheit zu einer schnöden Wirksamkeit verarbeiten. Ich habe in diesen Schöpfungen keine Zeile gefunden, von der ich mich nicht schon in Friedenszeiten mit einem Gesichtsausdruck abgewandt hätte, der mehr auf Brechreiz als auf das Gefühl einer Offenbarung schließen ließ. Die einzige würdige Zeile, die in dieser ganzen großen Zeit gedruckt wurde, stand im Manifest des Kaisers und war an den Anschlagsäulen so lange zu lesen, bis sie vom Gesicht des Wolf aus Gersthof verdeckt wurde, des wahren Tyrtäus dieses Kriegs!

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Ein simpler Reim jedoch, den ich gelesen habe, entstanden im Munde eines Wiener Soldaten, der seinen Vater an der Front wiedersieht, scheint für die säkulare Schande der Kriegslyrik von 1915 zu entschädigen und weist wie ein verirrter Naturlaut auf eine ursprüngliche Menschlichkeit zurück, die einmal unter die Maschine des neuwienerischen Lebenstons geraten ist.

Servas, spater Herr! Bist aa scho dader?
Ah, Jessas, da schauts her — des is mei Vader?!

Wenn die Geschicklichkeit des Berichterstatters, eines der peinlichsten, es nicht erfunden hat — und der Geschicklichkeit sind heute selbst die Wunder der Natur zuzutrauen —; wenn es — und man glaubt es lieber — wirklich ein Soldat beim Anblick des Vaters ausgerufen hat, so ist er der Dichter, der diesen Krieg erlebt, war es mindestens in diesem Augenblick, der das Gefühl zur Sprache steigert: ein Deutschmeister von anderm Zuschnitt als jener, der noch als Zivilist den berühmt gewordenen Kitsch eines »Reiterliedes« verfaßt hat. Hier hat der wie die Bildungssprache verödete Wiener Dialekt wieder die alte Kraft. Die Begebenheit selbst ist tragischer als der Heldentod. Und nichts könnte die grimmige Lebensumstülpung einfacher als dieser Auftritt, als der Anruf an den »spaten Herrn« (welch ein Wort!) bezeugen, den die Zeit »auch schon« dorthin geweht hat und auf den der überraschte Sohn — ah, Jessas, da schauts her — mit Staunen, Freude und Erschütterung weist. Der letzte Girardi- Ton und einer Tragödie letzte Szene: »So nutzt das große Weltall einst sich ab zu nichts.« Vielleicht liegt so viel nicht drin; ich wollte, es läge drin. Dann wären es zwei Zeilen, und mehr Seele als in fünfzig Jahrgängen eines Armeelieferantenorgans, in das der irre Zufall dieser Zeit solches Gedicht verschlagen hat, wie solches Leben in den Krieg.

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Wenn ich einem im August 1914 prophezeit hätte, daß übers Jahr der Wolf aus Gersthof so groß geworden sein wird wie die Zeit und daß dereinst, wenn draußen eine Menschenmillion begraben ist, die Hinterbliebenen ihm ins Auge schauen werden und noch immer nicht dem Tod, und daß in diesem Antlitz ein blutiger Blick sein wird wie ein Riß der Welt, darin man lesen wird, daß die Zeit schwer ist und heute großes Doppelkonzert — wenn ich es einem im August 1914 prophezeit hätte, er hätte sich, empört über meine Kleingeisterei, von meinem Tische erhoben. Zufällig habe ich es prophezeit, aber mir selbst, und schon damals den Verkehr mit den Gläubigen der großen Zeit gemieden, so daß ihnen eine Enttäuschung erspart geblieben ist.

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Es gibt jetzt eine Jerichoposaune vor allen Festungen, es gibt jetzt, des Morgens und des Abends, einen Ton in der Welt, den man nicht mehr aus den Ohren bringen wird. Etwa so:
Die Nase der Kleopatra war eine ihrer größten Schönheiten. Gestern wurde gemeldet, noch ist Polen nicht verloren. Heute wird gemeldet, daß Polen noch nicht verloren ist. Aus diesen übereinstimmenden Meldungen geht auch für den einfachen Laien die wichtige Tatsache hervor, daß Polen noch nicht verloren ist. Vergleichen wir die gestrige Meldung mit der heutigen Meldung, so ergibt sich unschwer, daß Polen, von dem man immer schon gewußt hat, daß es noch nicht verloren ist, noch nicht verloren ist. Hier fällt uns vor allem das Wörtchen »noch« auf. Das Auge bohrt sich förmlich hinein in den Bericht und man kann sich vorstellen, wie er zustandegekommen ist, und die Eindrücke sind lebhaft und die Einbildungskraft wird angeregt und die Gefühle erwärmen sich und die Hoffnungen werden wieder wach und vielleicht ist es in diesem Augenblick schon wahr und vielleicht ist es nicht mehr länger zu verbergen und vielleicht wälzen sie sich schon unruhig in ihrem Bett, wenn sie hören werden, daß Polen noch nicht verloren ist. Wir möchten das Gesicht des Präsidenten Poincaré sehen, wenn er diese Nachricht bekommt. Wir haben schon am Montag aus dem amtlichen Bericht, der in trockenen Worten meldete, daß Polen noch nicht verloren ist, die Folgerung gezogen, daß Aussicht bestehen muß, daß es noch nicht verloren ist. Das kann auch aus dem gestrigen Bericht und auch aus dem heutigen Bericht herausgelesen und nach den einfachen Denkgesetzen behauptet werden. Die besten militärischen Kenner sagen, es steht gut, unser Kriegskorrespondent meldet, die Stimmung ist sehr gut. Das ist ein wichtiges Moment der Lage. Heute läßt sich die Übereinstimmung dieser Folgerungen und Eindrücke mit den Berichten unseres Kriegskorrespondenten feststellen. Wir atmen diese Zuversicht mit der Luft ein und sie kommt aus der inneren Gewißheit des Instinkts. Wer die Karte ansieht und sich auf Grund der amtlichen Berichte in den Zusammenhang zwischen den einzelnen Schlachten und Kämpfen hineindenkt, muß nach den Mitteilungen zu der Folgerung kommen, daß, wie auch aus dem Bericht hervorgeht, angenommen werden kann, daß unsere Armee den Feind zurückgeworfen haben muß. Treues Gedenken dem Vaterlande und einen Glückwunsch den braven Soldaten zu ihrem Vollbringen. Wir möchten nicht sentimental werden und es ist nicht unsere Gewohnheit, übermütig zu sein, bevor die wichtige Meldung, daß Polen noch nicht verloren ist, durch die Ereignisse selbst mit den Einzelheiten und den Details bestätigt ist. Aber schon jetzt müssen die Ereignisse einen Rückschlag auf die Stimmungen ausüben und der Eindruck muß groß sein und der Zweifel dürfte sich ausbreiten und im Flügel ist Blei und im Gemäuer beginnt es zu rieseln. Wer möchte nicht gern heute über die Boulevards von Paris gehen und in den Elyséepalast hineinsehen, wo die Sorge nistet. Das kann nicht sein, daß die Verderbtheit und der Dünkel sich dort noch behaupten können, wo die Einsicht und die Reue schon durch einen einfachen Blick auf die Karte geweckt wird und sich die Erkenntnis durchringen muß, wir haben gefehlt. Der alte Belisar war ein anständiger Mensch. Talleyrand pflegte, wenn er beim Essen war, zu sagen, die Sprache ist der Mensch, und beim Empfang dieser Nachricht wird sich der Schrecken ausbreiten, und vielleicht werden sie, nachdem die Schlechtigkeit ihre Früchte getragen hat und nachdem sie die Einbildungen vergiftet und die Stimmungen nicht geschont und die Leidenschaften aufgewiegelt haben, erkennen, wie sie sich überhoben haben. Vernichten haben sie uns wollen, zerstören haben sie wollen die Früchte des Talents, und die Bosheit hat nicht genug Einfälle gehabt, zu verärgern und Schlingen zu legen und durch Sticheleien zu reizen und durch Neckereien zu verbittern. Die Familie Brodsky ist eine der reichsten in Kiew. Kein Mensch kann heute wissen, was hinter dem Schleier der Zukunft verborgen ist, von der die Lady Hamilton zu sagen pflegte, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Heute wurde gemeldet, daß Polen noch nicht verloren ist. Wir entbieten der Armee unsern Gruß. Wenn wir hören werden, daß Polen, welches schon so viele Verluste überstanden hat, noch nicht verloren ist, so wird wieder Freude in das Herz einziehen, und überstanden sind die Tage unfruchtbarer Grübeleien. Wenn der knappe Bericht des Generalstabs, den das Auge abtastet, eine so vielsagende Wendung nicht umgeht, sondern mit kurzen Worten andeutet, was zu den Herzen spricht, so können wir uns vorstellen, was es zu bedeuten hat, und auch der einfache Mann von der Straße kann sich an den Fingern abzählen, wenn er hören wird, daß Polen noch nicht verloren ist, daß tatsächlich die Möglichkeit besteht, daß es noch immer nicht verloren ist. Die Einbildungskraft schwelgt in der Vorstellung, wie es geschehen sein mag, und frohe Tage brechen an und die Hoffnung lebt auf und es wird wieder licht um uns. Kaiserin Katharina schrieb in ihr Tagebuch, es ist eine Lust zu leben. Die letzte Meldung ist sehr wichtig. Polen ist noch nicht verloren.

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Die Sprache seelischer Zerrüttung, die die Aufschriften über Meldungen aus Feindesland seit Jahr und Tag führen — Besorgnisse im Vierverband, Entmutigung in Frankreich, Beklemmungen in Rußland, Zerknirschung in England, Reue in Belgien, Enttäuschung in Italien, Demoralisation in Serbien, Verzweiflung in Montenegro, Mißtrauen in Frankreich gegen Rußland, Verstimmung von Rußland über England, Zweifel in London, Paris, Rom und Petersburg —, hat kürzlich für die Mitteilung, daß ein Heerführer von neuem erhebliche Verstärkungen »erbat«, den Titel gefunden: »Die Engländer erbeten neue Verstärkungen für die Dardanellen«. Den Feinden ist in all dem Elend, in das sie ihr Deutschenhaß gestürzt hat, nur der eine Trost geblieben, daß ihre Besieger nicht deutsch können.

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Einer der führenden Geister Berlins hat ein satirisches Gedicht auf die italienische Politik verfaßt, in dem die Wendung: »Das Kabinett hat ausgiolitten« sechsmal variiert war. Da die italienische Sprache mehr vom Klang lebt als vom Gedanken, kann ihr so etwas nicht passieren.

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»Infolge der kriegerischen Ereignisse müssen wir zu unserem Bedauern vorläufig den Umfang der Hefte einschränken, wir werden jedoch bestrebt sein, nach Eintritt normaler Verhältnisse unseren Abonnenten durch Ausgabe stärkerer Hefte Ersatz zu bieten.« So verspricht die ›Österreichische Rundschau’. Man sieht, es gibt Verhältnisse, die den eingefleischtesten Friedensfreund über den Wert des Krieges vorurteilsfreier denken lassen könnten.

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»Es wird weiter gedroschen.« Nein, so grausam sind wir nicht. Immer noch mehr Phrasen als Menschen!

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Es gibt ein Revanchebedürfnis, das weit über Elsaß hinausgeht.

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Die falschesten Argumente können einen richtigen Haß beweisen.

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Die Wurzel des innereuropäischen Übels ist, daß sich das Lebensmittel über den Lebenszweck erhob und daß der Händler, anstatt wie es sich gebührte ein Leibeigener zu sein, der Herr des Geistes wurde.

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Jeder Staat führt den Krieg gegen die eigene Kultur. Anstatt Krieg gegen die eigene Unkultur zu führen.

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Vae victoribus!

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Manches Volk lebt wie einer, der seinen neuen Regenschirm bei schönem Wetter aufspannt und wenns regnet, mit seinem alten Gewand zudeckt.

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Was zu gunsten des Staates begonnen wird, geht oft zu Ungunsten der Welt aus.

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Es hängt letzten Endes von den Diplomaten ab, wie der Volksruf: »Nieder mit den —!« auszufüllen ist. Das Nichtgewünschte bitte zu durchstreichen. Ich fühle international.

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Ein großer Moment hat schon oft ein kleines Geschlecht gefunden, noch nie aber hat ein so kleines Geschlecht eine so große Zeit gefunden.

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Noch kurz vor Kriegsausbruch habe ich solche Coupégespräche zwischen Menschen, die einander bis dahin fremd gewesen waren, gehört: »Hab ich mir doch meine Kolatschen erobert!« »Wenn wir Geistesgegenwart haben, können wir in Wessely ein Gullasch essen!« Man denke, wie die seelische Annäherung, die der Krieg gebracht hat, die Gemeinsamkeit in Freud und Leid, erst nachher zur Aussprache gelangen wird. Ich werde die Strecke abfahren und darauf achten.

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Der seelische Aufschwung des Hinterlands ist der Straßenstaub, den die Kehrichtwalze aufwirbelt, damit er unverändert wieder zu Boden sinke.

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Das Übel wirkt über den Krieg hinaus und durch ihn; es mästet sich am Opfer.

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Im Krieg gesundet die Menschheit? Wenn sie nicht den Krieg ansteckt!

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Wohl ist der Krieg besser als der Friede. Aber der Friede dauert länger.

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Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.

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Wie, noch mehr Wucher? Ja, sind denn die Zurückbleibenden der Landsturm der Selbsterhaltung?

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Es ist schön, für eine Idee zu sterben. Wenn’s nicht eben die Idee ist, von der man lebt und an der man stirbt.

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Die Macht hat zur Durchsetzung ihrer Idee jene Organisation geschaffen, zu der die Idee ausschließlich fähig war.

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Wenn nur nicht ein Volk, das sich den Militarismus anschaffen muß, um mit dem Militarismus fertig zu werden, statt mit diesem mit sich selbst fertig wird! Die Kraft, das technische Leben zu überdauern, wächst nicht in den Reichen des Christentums.

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Der Kampf bis aufs Brotmesser ist eine logische Notwendigkeit, die nur noch ein Überflüssiges mitschleppt: das Blut, mit dem die Fakturen geschrieben werden.

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Der Schützengraben ist heute noch eine ziemlich primitive Zuflucht vor dem Mörser. Wenn der Geist, der diesen erschaffen hat, erst so weit halten wird, jenen mit allem Komfort der Neuzeit auszustatten, dann wird er vielleicht auf den Mörser verzichten.

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Welcher Weg der deutschen Seele von der Schwärmerei zur Klarheit — von der Jean Paul’schen Entrückung in einer Montgolfiere bis zu dem gelungenen Witz, der eine Bombe aus einem Zeppelin begleitet!

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Deutsche Sätze wie die fünf Seiten bei Jean Paul, in denen der Aufstieg in einer Montgolfiere beschrieben wird, können heute nicht mehr Zustandekommen, weil der Gast der Lüfte nicht mehr die Ehrfurcht vor dem näheren Himmel mitbringt und bewahrt, sondern als Einbrecher der Luft die sichere Entfernung von der Erde zu einem gleichzeitigen Attentat auf diese selbst benützt. Der Aufstieg des Luftballs war eine Andacht, der Aufstieg des Luftschiffs ist eine Gefahr für jene, die ihn nicht mitmachen. Weil die Luft »erobert« ist, wird die Erde bombardiert. Es ist von allen Schanden dieser Erde die größte, daß jene einzige Erfindung, die die Menschheit den Sternen näher bringt, ausschließlich dazu gedient hat, ihre irdische Erbärmlichkeit, als hätte sie unten nicht genügend Spielraum, noch in den Lüften zu entfalten! Und selbst hier noch ein sittlicher Rangunterschied: zwischen dem Mut, der jene grauenvolle Sicherheit, statt eines Arsenals ein Schlafzimmer zu treffen, bestialisch betätigt, immer von neuem vergessend, was es bedeute, und dem Fleiß, der mit der Bombe noch einen Witz hinunterschickt und gar den eines »Weihnachtsgrußes«. Selbst da wieder die greuliche Vermischung des Gebrauchsgegenstandes, nämlich der Bombe, mit dem Gemütsleben, nämlich dem Scherz oder Gruß: der Greuel größtes, jene äußerste Unzucht, durch die sich ein im Reglement verarmtes Leben auffrischt, die organische Entschädigung für Zucht und Sitte, der Humor des Henkers, die letzte Freiheit einer Moral, die die Liebe auf den Gerichtstisch gelegt hat!

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Held ist Einer, der gegen viele steht. Diese Position erringt im neuen Krieg am ehesten der Luftbombenwerfer, einer, der sogar über vielen steht.

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Es gibt ein militärisches Witzblatt, das der großen Zeit umso leichter nachgekommen ist, als sich die große Zeit bemüht hat, dem militärischen Witzblatt nachzugeraten.

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Es gibt auch Bilder, die den Krieg von einer versöhnlichen Seite zeigen. Die Sammler von Dokumenten der Menschlichkeit sollten es sich nicht entgehen lassen: »Szene in der befreiten Bukowina: Rumänische Bäuerin gibt einem Kriegsberichterstatter Feuer.«

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Ich weiß nicht, wie das mit dem Mut ist. Ich bin darin, da ich erst seit sechzehn Jahren allein gegen alle stehe, offenbar nicht maßgebend. Ich weiß nicht, ob der Nervenarzt recht hat, der zweierlei Mut unterschied und den anderen, auf dessen neurasthenischen Ursprung zurückgehend, als eine Art Losgelassenheit definierte, die auch den Minderwertigen zu Taten befähige, die sonst einen ganzen Mann erfordert haben. So wäre denn Tapferkeit unter Umständen eine rabiate Feigheit und das Vorwärtsgehen eine umgekehrte Flucht. Ich weiß nicht, ob die Wissenschaft recht hat. Das aber ist mir aufgefallen, daß ein junger Mann, der einmal, als ich irgendwo eine Vorlesung hielt, aus einem Pfeifchen Töne hervorbrachte, den ganzen Abend hindurch in einem Winkel geduckt, und nur stille wurde, wenn der Arrangeur zufällig den Blick nach dem Winkel richtete, daß eben dieser junge Mann eine belobende Anerkennung »für tapferes, mutiges und beispielgebendes Verhalten vor dem Feind« empfangen hat. Es ist möglich, daß, wenn der Feind oben auf dem Podium statt mit dem Wort mit dem Maschinengewehr gewirkt hätte, auch das Verhalten vor ihm ein tapferes und mutiges gewesen wäre und vielleicht beispielgebend für den Saal, der dann endlich einmal, anstatt mir unter meiner Suggestion Applaussalven zuzuschicken, mich seiner wahren Meinung entsprechend beschossen hätte. Da ich aber nur das Wort habe und nur einer gegen alle und nicht unter allen eingereiht, so kenne ich mich mit der Tapferkeit nicht aus. So viel kann ich aber noch sagen, daß auch Leute, die der Abfassung von anonymen Schmähbriefen an mich überwiesen sind, draußen gute Arbeit leisten, lauter Volltreffer erzielen oder wenn sie sich schon nicht selbst bemühn, doch mindestens, erfüllt vom Glanz des Erlebten, daheim der großen Tat das Wort sprechen, und zwar in Vortragssälen, wie ich im Frieden gewohnt war. Es ist aber möglich, daß mir die Vereinbarkeit solcher Erscheinungen mit meinen Erfahrungen nur darum auffällt, weil ich den seelischen Aufschwung übersehe, der im Gefolge einer tatberauschten Gegenwart Wunder auch über jene vermocht hat, die bis dahin nur des heimlichen Wortes fähig waren. Ist dem so, dann wird die Verwandlung gewiß auch meinem eigenen Wirken zugutekommen, und ich könnte sicher sein, daß es künftig von verborgenen Kunstpfeifern und heimlichen Korrespondenten verschont bleibt. Sollte diese Wendung durch Gottes Fügung aber gleichwohl nicht eintreten, so werde ich mit der mir eigenen Offenheit davon Bericht erstatten, genau den Helden bezeichnen und die Anerkennung, die er empfangen hat, und fortfahren, mich durch tapferes, mutiges und beispielgebendes Verhalten vor dem heimgekehrten Feind auszuzeichnen.

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Einer, der in dem Verdacht steht, ohne gerade eine Persönlichkeit zu sein, eine solche doch zu haben, so einer wird für die Gefahr des Krieges, der ihm das leibliche Ende oder sonst allerlei Schaden bringen kann, durch einen sichern Vorteil entschädigt: durch das Todesurteil, das die zu den höheren Zwecken organisierte öffentliche Meinung über seine Geltung beschlossen hat. Durch die Abkehr einer peinvollen Aufmerksamkeit, durch die Zerstreuung des Pöbels und die Ablenkung der Hysterie, also durch das plötzliche Desinteressement zweier Mächte, die sich fast so willig von dem Druck des Einzelnen befreien, wie er von ihrer Gefolgschaft. Sie können endlich von der Gnade einer allgemeinen Pflicht das beziehen, was vom Zwang eines besonderen Charakters nicht zu haben war: auch auf der Welt zu sein. Subordination unter eine Massenverpflichtung wird von ihnen bei weitem nicht so hart empfunden wie das Gefühl der Inferiorität vor dem Denker und darum überstürzen sie sich in beiderseits willkommenen Absagen an ihn. Die allgemeine Verpflichtung ist die Befreiung für beide. Sie schafft einen klaren Zustand, mit dem sie zufrieden sein können. Die Möglichkeit, durch Pflicht und Zufall als Held zurückzukehren, ist doch ein berauschenderes Erlebnis als die tote Gewißheit, hinter dem Helden leben zu müssen und tatenlos, wehrlos in der Front vor dem immer feindlichen Geist zu stehen. Die erfrischende Leere um einen Zurückbleibenden, die ehedem durch eine wertlose Truppe scheinbar ausgefüllt war, gibt erst das Maß der ausgespielten Rolle. Man wird gleichwohl nicht unbescheiden; denn das Glück dieser ruhigen Gegenwart ist groß, weit größer als die verflossene Ehre. Niemand bekennt lieber als der so Gestürzte den Sachverhalt der so verrückten Welt. Wohl, »jetzt ist nicht die Zeit für Gedanken«. Jetzt tragen die Quallen einen Panzer. Die Zeit ist groß, ich habe zehntausend Geliebte im Feld! Keine läuft mir mehr nach. Die Literatur ist von mir befreit: ich atme auf. Das Scheinmenschentum, von mir abgeglitten, beginnt sich zu fühlen, und manch ein Tinterl steht draußen und — macht Gedichte, als wär’s ein Bluterl.

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Der Krieg wird vielleicht eine einzige Veränderung bringen, aber eine, der zuliebe er sicher nicht unternommen wurde: die Opfer der Psychoanalyse werden gesund heimkehren Denn der Krieg versteht fast so wenig von Psychologie wie die Psychoanalyse, aber er hat vor dieser individualisierenden Methode, die auf das Nichts am meisten eingeht, wenigstens den Vorteil, daß er am meisten schabionisiert und somit dem Nichts wieder zu seiner wahren Position verhilft. Es ist gut, wenn Quallen, die noch nicht einmal Instrumente waren, dazu erhoben werden.

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Heimlich ein offenes Wort nicht scheuend und vor aller Welt ein Kujon, so zwischen Hochverrat und Unterwürfigkeit, lebt sich’s hier am besten. Es gibt Märtyrer ihres Mangels an Überzeugung, auf deren Lügen kein Verlaß ist, die aus purer Verachtung für gesellschaftliche Ehren sie zu erlangen trachten und einer Hoheit nur zu dem Zweck hineinkriechen, um zu sagen, daß es dort finster sei.

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Die Zurücklegung von Orden ist die Ordensstreberei nach hinten. Denn obschon diese immer nach hinten zielt, so diesmal auch vom Punkte des Strebenden aus.

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Die Quantität mindert in jeder Hinsicht den Ertrag. Die Anziehungskraft, die die Verkleidung auf Frauen ausübt, ist geschwunden und geblieben die erotische Enttäuschung. Da den Frauen nur gefällt, was auffällt, so hat heute wieder jener die bessere Aussicht, der ein Zivilgewand trägt, oder ein Bunter, von dem bekannt würde, daß er sich durch besondere Feigheit vor dem Feind hervorgetan hat; denn Held kann ein jeder sein. Es geht eben wie auf jedem Maskenball, für den jeder sich selbst das größte Aufsehen verspricht und an dessen Ende er erkennt, daß er einen Frack hätte anziehen müssen, um aufzufallen, denn eine falsche Nase hatten alle.

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Gleichwohl wird sich der Heimkehrende nicht leicht in das zivile Leben wieder einreihen lassen. Vielmehr glaube ich: Er wird in das Hinterland einbrechen und dort den Krieg erst beginnen. Er wird die Erfolge, die ihm versagt werden, an sich reißen und der Krieg wird ein Kinderspiel gewesen sein gegen den Frieden, der da ausbrechen wird. Vor der Offensive, die dann bevorsteht, bewahre uns Gott! Eine furchtbare Aktivität, durch kein Kommando mehr gebändigt, wird in allen Lebenslagen nach der Waffe und nach dem Genuß greifen und es wird mehr Tod und Krankheit in die Welt kommen, als der Krieg je ihr zugemutet hat.

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Eine Frau sechs Wochen im Schützengraben? Wenn sie nicht doch auch einmal in der Zeit geblutet hätte, müßte man es für unnatürlich halten.

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Ich glaube nicht, daß erzogene Mädchen, die bis zum 1. August 1914 nicht wissen durften, wie der Mann beschaffen ist, von dem sie Mutter sein werden, von da an, ohne ihr eigenes und die ihm folgenden Geschlechter in Verwirrung zu bringen, Handreichungen an der Leiblichkeit fremder Männer vornehmen können, auf die niemals Väter, Brüder, Gatten, geschweige denn Diener einen Anspruch hatten. Ich glaube, daß diese Verwandlung der Dame zur Pflichterfüllerin, auch wenn sie äußerlich nicht die kleinste Bewegtheit und nicht die geringste greifbare Inkonvenienz mit sich brächte, unter den Blicken von Ärzten, die nie in ihrem ganzen Leben davon geträumt haben, in die gesellschaftliche Nähe solcher Frauen zu gelangen oder gar deren Befehlshaber zu werden, sich mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sie vor sich ging, auch als erotisches Schauspiel präsentieren könnte. Ich glaube nicht, daß die Möglichkeit, eine Aristokratin zur Entfernung von Ungeziefer zu verhalten, von einem graduierten Burschen mit intelligenten Äuglein nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstaufopferung tagsüber betrachtet und abends am Stammtisch besprochen werden dürfte. Ich glaube, daß der im luftleeren, von Fibelgedanken begrenzten Raum lebende Offizialgeist sich auch dieses Kriegsopfer anders vorgestellt hat, als es ausfällt. Ich glaube: das hinter der äußern Wirrnis in furchtbarer Unsichtbarkeit verborgene Chaos werden erst die Enkel büßen. Die Nächstenliebe, die den weiblichen Landsturm aufgeboten hat, ist noch weniger als der Nächstenhaß imstande, die Folgen zu decken. Keiner der Imperative, unter denen die heutige Welt noch geboren ist, weder der heroische, noch der charitative, wird den neuen Zeitformen standhalten. Eine Gesellschaft, die unter dem Schutze alter Moralgesetze so unbekannte Abenteuer bestehen zu können wähnt, muß an jenen selbst zuschanden gehn. Nicht die Sittlichkeit, sondern deren Umsturz ist die Grundbedingung, daß die Frau von der Krankenpflege davonkomme. Wer hilft den Helferinnen? Denn es kann wohl einem Restchen Phantasie, welches dem technischen Weltsturm standgehalten hat, nicht verborgen bleiben, daß dieses Experiment der Menschheit die Frauen noch in Mitleidenschaft ziehen wird, wenn die Männerwunden längst geheilt sein werden. Die Entwicklung in die Quantität hat sie zu einem früher nie gesehenen Aufgebot der Hilfe mobilisiert, dessen Agenden einen viel tiefern Wesenseingriff bedeuten als die Verwandlung der Männer und viel schmerzlichere Wunden hinterlassen werden, als jene sind, bei deren Behandlung die Frauen assistieren. Denn noch weniger als Blutverlust sich im Raum idealer Schulvorstellungen vollzieht, spielen sich dort die Angelegenheiten der Caritas ab. Dieselbe Sittlichkeit, die Aufopferung verlangt und weibliche Hingabe außerhalb des Geschlechts konstruiert, hat durch Generationen nicht einmal zur Aussprache gelangen lassen, was jetzt täglich, plötzlich, zur unmittelbaren Anschauung kommt. Der praktische Sinn der Menschheit hat der Unmoral nur im männlichen Punkt Konzessionen gemacht und die Erkenntnis zugelassen, daß man mit Bibelsprüchen keine Eisenbahnen baut. Aber daß man mit Fibelsprüchen Spitäler bedient, von dieser Überzeugung würde er sein Lebtag nicht lassen. Hat er aber schon für den Bereich männlichen Wirkens im Kriege außer der Verpflichtung, fürs Vaterland zu bluten, keine unheroischen Begleiterscheinungen berücksichtigt und etwa die Möglichkeit, Läuse zu bekommen, gar nicht in die Glorie einbezogen, wie würde er diese mit der Notwendigkeit, jene zu entfernen, vereinbaren können? Ist eine Geistesverfassung haltbar, die zu jedem Bett eines Kriegers neben die Pflegerin auch die unsichtbare Gouvernante der Moral stellt, die nicht zu fühlen erlaubt, was zu tun sie nicht verhindern kann, und nicht auszusprechen, was zu empfinden die unsichtbare Kupplerin Natur befiehlt? Ist der Zustand fortsetzbar, daß eine vor ihren Angehörigen nicht beim Namen nennen darf, was sie tagsüber für einen Fremden tun mußte? Die freiwillige Pflegerin ist doch eben jenes Mädchen, das nach aufgehobener Hochzeitstafel von der Mutter, ja gleich darauf vom Gatten auch nicht annähernd so viele physiologische Neuigkeiten erfährt, als eine Stunde am Operationstisch oder Krankenbett ihr vermitteln kann. Die Hoffnung, daß das überstandene Studium eine moralistische Auffassung in diesem Belang, die immer noch gesünder war, künftig ausschalten werde, wäre töricht. Nur das Zwielicht wird peinlicher sein, und der Kontrast, daß die schlechte Zeitung, die in den guten Häusern gehalten wird, in einem Kriegsbericht das Wort Läuse nur mit dem Anfangsbuchstaben und vier Punkten schreibt und die Töchter der Abonnenten ohne Umschreibung mit der Sache selbst fertig werden müssen, wird sich tausendmal fühlbar machen. Die Natur, vorausgesetzt, daß so etwas noch in Frauen lebt, dürfte denn doch leichter eine Verbindung mit dem Ekel zur Erschaffung heilloser Hysterien eingehen können, als die Moral mit dem Wort. Was die Krankenpflege, gefährlich nur durch die Gelegenheit, daß Gefühlsmonstren zur Welt kommen, an normaleren Vermischungen zeitigen mag, ist unbeträchtlich, da hier dank einer tatsachenduistigen Moral der greifbare Fall rasch genug bekannt wird und die Zahl der Begebenheiten immer hinter der Fülle der Erzählungen zurückbliebe. Viel bedenklicher ist jene Einwirkung, die von der Moral zwar von altersher verschuldet, aber im präsenten Fall von ihr nicht bemerkt und nicht verstanden wird Die Verbindung der formwilligsten Natur mit Grauen und Ekel wird noch in Generationen zu spüren sein, die von dem Anlaß nur aus Geschichtsbüchern unterrichtet sein werden. Und ist man wirklich so blind, den Anteil nicht zu sehen, den an solcher Alteration noch der wehrloseste Patient hat, der nach einer geschlechtlichen Hungerperiode zum erstenmal die beständige Nähe eines Wesens spürt, das immerhin von der Natur dazu gebildet scheint, den durch Blutgeruch hundertfach vermehrten Hunger zu befriedigen? Und ist es denn human, Männer, deren rein körperliche Erregung dem Heilungsprozeß abträglich ist, so im Prokrustesbett der Sitte liegen zu lassen, Frauen, deren vom Geschlecht irritiertes Gemütsleben in die Zukunft wirkt, in die Luft solch eines Krankenzimmers zu stellen? Ist es nicht grausam, die furchtbarste Naturgewalt, die sich im Bund mit dem blutigsten Handwerk steigert, der konstanten Reizung auszusetzen und eine Entspannung zu verhindern? Nicht noch grausamer, den Instinkt der Frau, dem der eigene Wunsch fern genug liegen mag, aber der fremde schmeichelt, solchen Prüfungen zu überlassen und die Schönheiten des Hinterlandes vermöge einer suggerierten idealen Aufgabe zum bewußten Zielpunkt von Begierden zu machen, die draußen in den beklagten sexuellen Gewalttaten Befriedigung finden? Und wenn es schon nicht das ausgehungerte Geschlechtstier selbst ist, dem die Pflichterfüllerin vorgeführt wird, wenn Aggression und jedes Anbot gröberen Wunsches vollständig ausgeschaltet wären, bringt dann nicht doch der Reiz der Unterwerfung unter weibliche Aufsicht und die dem feineren Geschmack auf beiden Seiten erreichbare Sensation des Standesunterschieds genug Nebensinn in die Barmherzigkeit, um sie, mindestens durch die Zeugenschaft dritter Personen, zu einer erotischen Angelegenheit zu machen? Was hat denn die Chirurgie mit diesen Dingen zu schaffen, und hat man nicht oft genug gehört, daß Kranke, die von allen erotischen Ingredienzen nur die Schamhaftigkeit hatten, aber zu krank waren, um sie in ein Wohlgefühl umzusetzen, den Beistand der ihnen sozial übergeordneten oder gleichgestellten Damen unbequem empfanden? Nichts müßte »geschehen«, und die Geschlechtsluft, in der diese Frauen geatmet haben, hinterließe doch — unter der gleichzeitigen Erhaltung dessen, was sie im Zaum hält, und eben darum — eine fortwirkende Unruhe. Warum belügt sich denn die Welt so dumm, und was ändert die unmenschliche Sicherheit ihrer Vorkehrungen an dem Dasein eines Triebes, der sich am Verbot nährt und verheerend nach innen wendet! Der strategische Rückzug dieses Feindes ist die Offensive gegen die Zukunft.

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Zu einer jungen Krankenpflegerin: »Nein, ich bin nicht dafür.« »Warum?« »Weil ich Ihnen nicht sagen darf, warum ich dagegen bin.«

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Alles was ehedem paradox war, bestätigt nun die große Zeit.

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»Von allen möchte ich doch noch am liebsten die zu Feinden haben.« »Aber nicht zu Freunden!«

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In Deutschland steht die Kunst »im Dienste des Kaufmanns«. Noch nie dürfte einem Dienstboten mit weniger Wahrheit nachgerühmt worden sein, daß er gesund entlassen wurde.

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Die Achtziger Jahre brachten allerlei Schnörkel. Das Sinnbild des Lebens war ihnen der Pferdesport und mit dessen Zeichen verschnörkelte man alle Gegenstände des nüchternen Gebrauchs. Kein Tintenzeug, das nicht mit Sattel oder Jockeykappe bepackt war, kein Leuchter, der nicht auf einem Hufeisen stand. Aber das Spiel, mit dem der Ernst ornamentiert wurde, war wenigstens vom Spiel bezogen, nicht vom Ernst. Die eiserne Zeit hält es anders. Sie ist keineswegs zu ernst, um auf das Ornament zu verzichten; aber sie behängt nicht den Ernst mit dem Spiel, sondern das Spiel mit dem Ernst. Es wäre immerhin noch geistig sauberer, einen Mörser zu verzieren, als dem Zierat die Fasson eines Mörsers zu geben. Die Achtziger Jahre waren denn doch besser, wiewohl sie nur die hufeiserne Zeit waren.

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Derselbe Mischmasch einer Kultur, die aus Absatzgebieten Schlachtfelder macht und umgekehrt, baut aus Stearinkerzen Tempel und stellt »die Kunst in den Dienst des Kaufmanns«. Wenn die Industrie Künstler beschäftigt, so kann sie auch Krüppel liefern.

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Das Kriegsmittel sei vom Material bezogen. Wenn zwei Konsumvereine sich streiten, so ist der der sittlich höher stehende Konsumverein, der nicht die Vereinsmitglieder selbst, sondern eine von ihnen gemietete Polizei raufen läßt, und er handelt am sittlichsten, wenn er sich gar mit der Kundenabtreibung begnügt. Die einen wollen den Export und sagen, es handle sich um ein Ideal; die andern sagen, es handle sich um den Export, und diese Offenheit ermöglicht schon das Ideal. Und sie könnten es den andern zurückerobern, indem sie sie von der kulturwidrigen Gewohnheit befreien, es als »Aufmachung« für ihre Fertigware zu verwenden. Denn Spediteure haben nicht ideale Güter als Draufgabe zu verfrachten.

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Wenn Buchhalter Kriege führen, sollten sie auch die Chancen berechnen.

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Wie einer lügt, kann manchmal wertvoller sein als daß ein anderer die Wahrheit sagt.

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Die Lügen des Auslands, vorausgesetzt daß nicht auch sie made in Germany sind, enthalten noch immer mehr Lebenssaft als eine Wahrheit des Wolff’schen Büros. Denn bei jenen kann man die Lüge, die einem Naturell entspringt, von der Wahrheit, die einer Einsicht entspringt, noch unterscheiden; anderwärts sagen sie selbst die Wahrheit wie gedruckt und alles entspringt dem Papier.

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Es gibt Künstler der Lüge und es gibt Ingenieure der Lüge. Jene wirken gefährlich auf die Phantasie; diese haben sie schon vorher aufgebraucht.

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Die Lüge im Krieg ist entweder ein Rausch oder eine Wissenschaft. Diese schadet dem Organismus mehr.

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Die deutsche Sprache ist die tiefste, die deutsche Rede die seichteste.

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Ich weiß um die Entfernung des heiligen Geistes von den Sitten der Wilden. Ein Analphabet in Timbuktu nämlich dürfte dem Geist seiner Sprache erheblich näher stehen als ein Literaturprofessor in Dresden dem Geist der seinen. Mithin dürfte ein Analphabet in Timbuktu auch dem Geist der deutschen Sprache näher stehen.

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Der Franzose hat sich von seiner Oberfläche noch immer nicht so weit entfernt, wie der Deutsche von seiner Tiefe.

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Die grausamsten Schändungen werden doch an der Sprache begangen. Es gibt Kosakenhorden, die den Boden für die Ewigkeit verwüstet haben, und es gibt Kulturen, die es zufrieden sind.

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Manchen Punkt wüßte ich noch, der erfolgreich mit Bomben belegt werden könnte. Aber folgt man mir denn?

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Ein rechter Krieg wäre erst, wenn nur die, die nicht taugen, in ihn geschickt würden.

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Der Österreicher läßt sich aus jeder Verfassung bringen, nur nicht aus der Gemütsverfassung.

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Darin ist Ordnung: die Schlamperei ist geblieben. Darin ist Pünktlichkeit: die Schlamperei beruft sich auf den Weltbrand.

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Es ist in alten Mären, auf welche die Nibelungentreue zurückzuführen ist, der Wunder viel geseit. Aber was sind diese gegen die wunderbaren, märchenhaften Verbindungen und Kontraste der blutlebendigen Gegenwart? Denn: Noch nicht einmal telephonieren können und nichts als telephonieren können — das mag wohl zwei Welten ergeben; aber läßt es eigentlich ihre seelische Verbindung zu, da kaum eine telephonische Zustandekommen könnte? Lassen sich zwei Wesen Schulter an Schulter denken, deren eines die Unordnung zum Lebensinhalt hat und nur aus Schlamperei noch nicht zu bestehen aufgehört hat, und deren anderes in nichts und durch nichts besteht als durch Ordnung?

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Wir hier müssen erst das werden, was wir nicht sein sollen.

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Der Wiener wird nie untergehn, sondern im Gegenteil immer hinaufgehn und sich’s richten.

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Immer schon habe ich es draußen in der Welt ungemütlich gefunden. Wenn ich trotzdem so oft hinausgereist bin, so geschah es nur, weil ich es hier gemütlich gefunden habe.

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Den Ägyptern war der Scarabäus heilig, den Wienern der Zahlkellner. Die unwahrscheinliche Verflossenheit dieser Kultur spricht schon heute in Hieroglyphen. Eine Bilderschrift ergibt etwa den folgenden Sinn: Ein anscheinend den besseren Ständen angehöriger Herr hat während des Essens noch die Geistesgegenwart, dem Zahlkellner einen Witz zu erzählen. Der Zahlkellner schmunzelt befriedigt und revanchiert sich, indem er um den Gast herumgeht, sich über sein Ohr beugt, und ihm eine offenbar gewagte Anekdote einsagt. Das Gesicht des Herrn, auf dem das wachsende Verständnis sich aus nachdenklichen Schatten mählich zu einem strahlenden Ausdruck gesteigert hat, legt sich wieder in Falten: er scheint sich an etwas zu erinnern und beginnt mit vollem Mund sich über die ungenügende Verpflegung in den Schützengräben aufzuhalten ... Der Zahlkellner war im Rang über den Hohepriester gestellt. Er bezog scheinbar nur dafür Einkünfte, daß man ihm Geld gab; in Wahrheit hatte er Rat und Trost in allen Lebenslagen zu spenden. Ihm nahe im öffentlichen Ansehen kamen die Sänger. Hatte der Zahlkellner auf den Geist der Männer einzuwirken, so sprach der Operettentenor mehr zu den Sinnen der Frauen. In allen Schaufenstern, die man auch Auslagen nannte, prangte sein Bild, selbst in Blumenläden tauchte das anheimelnde Gesicht unvermutet wie eine liebe Schnecke zwischen den Boten des Frühlings auf, in der Regel sogar mit der eigenhändigen Unterschrift verziert. Als es Krieg gab, erhöhte die Uniform den Reiz dieser an und für sich schon unwiderstehlichen Figuren, denen man dann noch häufiger auf der Straße begegnete als sonst, weil ihre Unentbehrlichkeit für die Damenwelt ihnen von selbst eine Beschäftigung im Hinterland anwies. Das Wesen jener sagenumwobenen Stadt war es, daß der Liebreiz ihrer Sitten noch das Auspeitschenswerteste mit dem Vorzug der Schmackhaftigkeit begnaden konnte.

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Bei Kriegsausbruch scheint es in Paris zugegangen zu sein, wie in Wien nach Konzertschluß.

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Es gab Tage in Wien, wo einem eher die Fenster eingeschlagen wurden, wenn man laut sagte, die Franzosen hätten ein Debacle erlitten und wären nun in der Sauce, als wenn man von einer Niederlage der Deutschen gesprochen hätte, die nun in der Tunke wären.

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In einer aufgeregten Zeit, in der alles durcheinandergeht, kann es leicht geschehen, daß ein Korrespondent von den »Brüsseler Spitzen der Behörden« spricht.

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Ein kleines Vorstadtcafé in der Nähe des Westbahnhofes, das Café Westminster hieß, damit sich die ankommenden Lords sogleich wie zu Hause fühlten, heißt jetzt Café Westmünster. Das ist ein rührender Beweis für den guten Willen, die Notwendigkeiten der veränderten Zeit zu erfassen, und dürfte späterhin auch eine verdiente Enttäuschung für die auf dem Westbahnhof wieder ankommenden Lords bedeuten. Die wem schaun!

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Der kriegerische Zustand scheint den geistigen auf das Niveau der Kinderstube herabzudrücken. Nicht allein, daß jeder recht und der andere angefangen hat. Nicht nur, daß jeder sich eben das als Einsicht und Ehre einräumt, was des andern Unbill und Schande ist, dem andern die Untat vorwirft, die er selbst begeht, das Unglück vorhält, das er selbst erleidet, und daß noch die grellste Anschaulichkeit solcher Kontraste, die in zwei benachbarten Zeitungsspalten zusammenstoßen, ihnen nichts von ihrer Unbefangenheit nehmen kann und immerzu der, dessen Kartoffeln nur dreimal so teuer wurden, den andern, dem sie um zwanzig Prozent hinaufgegangen sind, für ruiniert halten wird. Nicht nur, daß keiner von ihnen unter allen möglichen Schlüssen, mit denen man eine verfehlte Sache beenden kann, auch nur den Vernunftsschluß wählt, der eigene Sieg müsse längst besiegelt sein, wenn nur der hundertste Teil dessen wahr ist, was der Tag an feindlichen Verlusten von Macht und Ehre bringt. Nein, jeder ist auch der Meinung, daß der »Wille zum Sieg« diesen verbürge und daß nur er allein diesen Willen zum Sieg habe, während der andere, offenbar von dem nicht minder entschlossenen Willen zur Niederlage getrieben, mit knapper Not und mit Anspannung aller Kräfte vielleicht diese erreichen kann, aber beileibe nicht den Sieg, auf den er es ja auch gar nicht abgesehen hat, es wäre denn, daß wider Erwarten der am Ende doch allen gemeinsame Wille zum Sieg allen eben diesen verbürgte. Dabei ahnt aber die verfolgende Unschuld nicht, daß tatsächlich der Wille zur Niederlage eine Triebkraft sein könnte, die einen wahren Feldherrn der Kultur zum Triumph der Demut über den expansiven Ungeist führt, und daß jene Sprache gewinnen würde, in deren Verkehrsbereich sich der Zusammensturz des weltbeherrschenden Unwerts endlich vollzieht, damit auch dieser Krieg den Sinn eines Krieges habe. Wenn aber die Sprachen so weit halten, daß dieselbe Rede die Wahrheit des einen und die Wahrheit des andern ist, so lügt nicht einer, sondern beide, und über alle triumphiert wie eh und je der Unwert.

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Der Witz umarmt die Wirklichkeit, und der Wahnsinn springt auf die Welt. Wie soll man noch erfinden, wenn hinter jeder Fratze ein Gesicht auftaucht und sich selbst zum Sprechen ähnlich findet? Wie soll man übertreiben, wenn die Tatsache zur Karikatur der Übertreibung wird? A und B sind im Streit. Von A erzählt man eine rechtswidrige Handlung. Da man das aber aus irgendeinem Grunde nicht laut sagen darf, so sagt man laut: Wissen Sie schon, welche Rechtswidrigkeit der B wieder begangen hat? Daß B sie wirklich auch begangen haben könnte, daran denkt man dabei nicht. Daß A, seines eigenen Vergehens bewußt, es dem B je zum Vorwurf machen könnte, wenn der es auch begangen hätte, glaubt man gleichfalls nicht. Wenigstens in diesem besonders argen Fall nicht. Nur die allgemeine Erfahrung, daß ähnliches wohl schon geschehen sei, ja daß dem B so viel aufs Kerbholz gesetzt werde, was nur der A getan hat, berechtigt zu der scherzhaften Verwechslung: »Nein, denken Sie, was bei dem B alles möglich ist!« Am nächsten Tag erscheint eine Verwahrung des A gegen das Vorgehen des B. Er habe eben jene Rechtswidrigkeit begangen, in der Reihe ähnlicher Vergehungen die ärgste. So übernimmt A selbst die parodistische Methode, mit der man die Sünden des A dem B zuschiebt, weil man nicht anders kann. So bleibt nur die Erklärung, daß er Reue verspürte und in der Hoffnung, man werde ihn richtig verstehen, sein Verschulden in der Form beichtete, daß er es dem B zuschob. Hätte B es wirklich begangen, so müßte ja A mindestens den gerechten Ausgleich spüren und schweigen. Nicht die Entrüstung über das, was man selbst auch schon oder gar nur allein getan hat, bildet die Komik des Falles, sondern die Pünktlichkeit, mit der eine absichtliche Entstellung, die der Vorsichtige gebraucht, welcher B sagen muß, wenn er A meint, von A aufgegriffen wird. Somit hüte man sich nicht nur, die Wahrheit zu sagen, man sei auch vorsichtig mit der Lüge, denn auch sie ist vergeblich und taugt höchstens zum Possenmotiv.

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Was die Spione immer verbrechen mögen, die Landesgrenzen der Ethik werden sie nicht verrücken können. Immer wird jeder Staat dasselbe Verbrechen, das er mit dem Tode bestraft, mit Gold aufwiegen. Darum sollte eine Angelegenheit der Utilität wenigstens von dem Ballast einer Moralität befreit werden, innerhalb deren ja beide Teile einander nichts vorzuwerfen haben.

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Es gibt politische Überzeugungen, deren Anhänger lieber gegen sie als für sie sterben.

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Nie sollte der Bürger das Gefühl haben, daß das Vaterland ein Gut- und Blutegel sei!

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Diplomatie ist ein Schachspiel, bei dem die Völker matt gesetzt werden.

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Der Krieg wäre ja ein leidliches Strafgericht, wenn er nicht die Fortsetzung des Deliktes wäre.

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Der militärische Typus ist der brauchbarste aller im Frieden vorrätigen Typen der Bürgerlichkeit. Dienst ist die Schranke der zügellosen Unbedeutung. Es ist Pflichterfüllung um ihrer selbst willen. Zucht ist der Anstand der Mittelmäßigkeit. Selbst der Jobber, der einmal dienen muß, statt zu gebieten, kommt mit einem bessern, weniger störenden, weniger individuellen, fettloseren Gesicht zurück. Dies ist kein Lob des Krieges, sondern beileibe nur der Strapaz. Der Tod hebt den erreichten Gewinn wieder auf. Nicht daß die Jobber stürben, bewahre! Die Jobber sterben nicht. Aber ich denke, daß der angemaßte Todesglanz den Wert der Turnübung wettmacht. Das Heldentum der Unbefugten ist die traurigste Aussicht dieses Krieges. Es wird dereinst der Hintergrund sein, auf dem sich die vermehrte und unveränderte Niedrigkeit noch malerischer und vorteilhafter abhebt.

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Die militärische Daseinsform verträgt sich mit dem Denken nur als Gelegenheit oder Beruf des edel Gebornen, den Gefahrenlust oder die Empfindlichkeit in jedem und somit auch im vaterländischen Ehrbegriffe zum Schutz des zu solchen Gefühlen untauglichen Bürgers befähigen, und als Dienst des Söldners. Die große Neuerung, die Hand in Hand mit der Entwicklung der technischen Quantität den Bürger selbst unter die militärische Pflicht gestellt hat, wäre höchstens dort, wo sie den Vorteil körperlicher Abhärtung ergibt, mit dem Sinn des Lebens in Übereinstimmung zu bringen. Die Demokratisierung der Glorie, die Umwandlung des Opfers zum Tribut, des Rechts, für das Vaterland zu sterben, in die diesbezügliche Pflicht, ist bisher nur als der Nutzen eines vermehrten Aufgebots der Körper in Betracht gezogen, aber in ihren inneren Folgen noch nicht durchdacht worden. Disziplin ist das erhaltende Prinzip innerhalb des militärischen Berufs oder des militärischen Geschäfts, ein zerstörendes innerhalb des militärischen Zwanges. Wenn das Dienen der Inhalt der durch moralische oder materielle Ambition freigewählten Betätigung ist, so findet der Wert kein anderes Maß als im Rang. Nie kann es da geschehen, daß ein Hochwertiger einem Minderwertigen zu gehorchen hat. Denn da — die Gerechtigkeit der Verwaltung und die Ordnung der Sphäre gerade da leicht vorausgesetzt — muß der Vorgesetzte, der sein ganzes Wesen dem Beruf gewidmet hat, menschlich über dem Subalternen stehen, der desgleichen getan hat. Kultur ist im letzten Grunde von der restlosen Aufwendung der Fähigkeiten für den freigewählten Beruf bedingt. Nun denke man aber den Fall, daß — aus einer mißgeleiteten demokratischen Absicht — ein autokratisches Gesetz zustandekommt, welches den Gelehrten eines Tages zwingt, als Lehrling bei einem Tischlermeister einzutreten und ihm außer der Arbeit, die sein besseres Teil zwar nicht aufbraucht, aber schädigt, auch noch wo immer die vorschriftsmäßige Ehrenbezeigung zu leisten. Der Rangunterschied dürfte hier kaum mit dem Wertunterschied zur Deckung kommen. Die Fortsetzung dieses Zustands in ein soziales und seelisches Chaos ist unschwer durchzudenken. Die demokratische Idee, die es auf die Freiheit aller von allen abgesehen hat, ist bloß nicht ins Leben umzusetzen. Aber wenn sie mit dem Zwang aller durch alle vorlieb nimmt, führt sie sich ad absurdum. Wie kann ein Beruf, dessen Bereitschaft zu Gefahren Staat und Gesellschaft mit Recht durch ein Vorrecht belohnt haben, die Popularisierung ertragen? Oder wie kann die Pflicht, gleiche Gefahr zu bestehen, auf das Vorrecht verzichten? Nie konnte ein Subalterner der alten Ordnung unter dem Gefühl, der höhere Mensch zu sein, leiden, weil solches Gefühl auch Gelegenheit hatte, ihn bei der Berufswahl zu beraten und noch die Möglichkeit, die Berufswahl zu korrigieren. Wohltätig wäre der plötzliche Zwang, der nur den zuchtlosen Intellekt oder die freche Habsucht unter das Kommando einer Schablone beugte, mag auch diese heute im letzten Grunde nichts anderes bedeuten als die Autorität der Erwerbsmächte selbst. Wie soll aber wahres Menschentum, das solchen Stoßes nicht bedurft hat, in der neuen Wirklichkeit sich zurecht finden? Und wenns gelingt, wie kann das Mißverhältnis von Macht und Wert bestehen bleiben ohne weitere, der Macht nur zu erwünschte Verkümmerung des Wertes? Wenn die Demokratie des einzigen Privilegs, das sie noch nicht hatte, des Privilegs, Zucht zu halten, habhaft wird, dann kann es zu einem furchtbaren Instrument in der Hand der Minderwertigkeit werden, zu einem grausameren als die Waffe selbst. Kein Staat vermöchte als einziger dieser Entwicklung Einhalt zu tun. Aber welcher Gedanke war, da das Menschenleben kurz ist, die Sonne nur einmal scheint und Haushalten mit der irdischen Glückseligkeit geboten ist, welcher Gedanke war so verführerisch, alle zusammen und die Welt selbst auf diese Bahn zu führen!

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Die Entwicklung der Technik ist bei der Wehrlosigkeit vor der Technik angelangt.

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Nie war eine riesenhaftere Winzigkeit das Format der Welt. Die Tat hat nur das Ausmaß des Berichts, der mit nach-keuchender Deutlichkeit sie zu erreichen sucht.

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Wie geht das nur zu? Die Welt brennt — aber von den Häuptern jener Lieben, die man schon vorher täglich gezählt hat, fehlt kein einziges.

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Welche Torheit, zu glauben, daß die ekelhaftesten Erscheinungen des gesellschaftlichen Hinterlandes nicht die maßgebenden seien! Was wie Oberfläche aussieht, ist in Wahrheit Alles, denn Alles drängt zur Oberfläche. Was geopfert wird, war gesünder als das, was bleibt: diesem wurde es geopfert. Wie? Der deutsche Michel ist für die Schmach der Großstadt nicht verantwortlich? Aber er dient ihr, für sie blutet er. Denn alles wird Großstadt und Schmach. Der Thüringer, in die Maschine geworfen, stirbt oder wird Berliner. Umgekehrt gehts nicht und zurück ginge es auch nicht mehr. Der deutsche Michel ist das Rohmaterial. Die Fertigware, auf die es ankommt, ist der deutsche Koofmichel.

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La bourse est la vie.

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Die Feldpost bewährt sich. Sie hat schon jetzt die seelische Verbindung zwischen den Taten und dem Hinterland überlebt.

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Nichts hat sich geändert, höchstens, daß man es nicht sagen darf.

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Jetzt sprechen hat entweder zur Voraussetzung, daß man keinen Kopf hat, oder zur Folge.

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Ich bin dafür, daß man den Leuten verbietet, das, was ich denke, zu meinen.

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Die Menschheit würde vom Krieg statt einer Extraausgabe einen Denkzettel behalten, wenn sie durch den Krieg verhindert würde, jene zu bekommen.

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Einer saß am Klavier, nach ein paar Tagen traf ihn ein Schuß ins Herz ... Ein Verstümmelter mit zuckendem Gesicht schleppt sich vorbei ... Wie gut blickt jener, der dort hinkt, als möchte er dem schnellen Passanten sagen: Alles kam, ich weiß nicht wie, ich war ja bereit für euch, nun finde ich mich nicht mehr zurecht unter euch, dem Tod entkam ich, bitte, wie kommt man hier durchs Leben? Weicht nie mehr dieser Brand von meinem Auge, nie diese Höllenmusik aus meinem Ohr? ... Zwei Leiber, die nicht Narben, sondern Lieferungen haben, eilen vorüber. Es fällt das Wort: »Friedensrisiko«.

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Ich sah einen, dessen Gesicht gedieh, wurde breit und breiter, bis es aufging wie ein lachender Vollmond über dem blutigen Zeitvertreib der Erde. Solcher Monde so viele zählte schon der Krieg.

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Wenn man dem Teufel, dem der Krieg seit jeher eine reine Passion war, erzählt hätte, daß es einmal Menschen geben werde, die an der Fortsetzung des Krieges ein geschäftliches Interesse haben, das zu verheimlichen sie sich nicht einmal Mühe geben und dessen Ertrag ihnen noch zu gesellschaftlicher Geltung verhilft — so hätte er einen aufgefordert, es seiner Großmutter zu erzählen. Dann aber, wenn er sich von der Tatsache überzeugt hätte, wäre die Hölle vor Scham erglüht und er hätte erkennen müssen, daß er sein Lebtag ein armer Teufel gewesen sei!

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Wenn man von einem Krieg der Quantitäten spricht, bejaht man scheinbar die Notwendigkeit des Krieges als solchen, der ja immerhin das Problem der Übervölkerung auf eine Zeit in Ordnung bringen mag. Aber wäre dieser edle Zweck nicht schmerzloser durch die Freigabe der Fruchtabtreibung zu erreichen? »Dazu würde die herrschende Moralauffassung« — höre ich eben diese sagen — »nie ihre Zustimmung geben!« Das habe ich mir auch nicht eingebildet, da die herrschende Moralauffassung nur dazu ihre Zustimmung gibt, daß Frauen Kinder bekommen, damit diese von Fliegerbomben zerrissen werden!

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Ein Franktireur ist ein Zivilist, der mit Absicht einen Bewaffneten angreift. Ein Flieger ist ein Bewaffneter, der durch Zufall einen Zivilisten tötet.

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Der Humor eines Kegelklubs wirft, wenns sein muß, auch Bomben mit Witzen.

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Als tausende Menschen in den schauerlichsten Tod versunken waren, erhob sich von einer Wiener Operettenbühne der Witz zu den Sternen: »Dös warn die ramasurischen Sümpfe« — und eine Stadt, der es bestimmt ist, immerdar nicht unterzugehen, lachte. Ein Sumpf, der Menschenleiber trägt, warf sich in Bauchfalten und lachte. Ein Riesenbauch, dem keine Gefahr aufstößt, wand sich lachend, gekitzelt von einem Juden, geschützt vor den Einfällen des Weltlaufs, und lachte, und siehe, eine gemütliche Pratzen streckte sich der Schicksalshand entgegen und sagte: Mir wem kan Richter brauchen! Und hielt sie fest. Darob verwunderten sich die Sterne.

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Alles was geschieht, geschieht für die, die es beschreiben, und für die, die es nicht erleben. Ein Spion, der zum Galgen geführt wird, muß einen längeren Weg gehen, damit die im Kino Abwechslung haben, und muß noch einmal in den photographischen Apparat starren, damit die im Kino mit dem Gesichtsausdruck zufrieden sind. Schweigen wir. Beschreiben wir es nicht, die es erlebten. Es ist ein dunkler Gedankengang zum Galgen der Menschheit, ich wollte ihn als ihr sterbender Spion nicht mitmachen. Und muß, und zeige ihr mein Gesicht! Denn mein herzbeklemmendes Erlebnis ist der horror vor dem vacuum, das diese unbeschreibliche Ereignisfülle in den Gemütern, in den Apparaten vorfindet.

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Ich glaube: Daß dieser Krieg, wenn er die Guten nicht tötet, wohl eine moralische Insel für die Guten herstellen mag, die auch ohne ihn gut waren. Daß er aber die ganze umgebende Welt in ein großes Hinterland des Betrugs, der Hinfälligkeit und des unmenschlichsten Gottverrats verwandeln wird, indem das Schlechte über ihn hinaus und durch ihn fortwirkend, hinter vorgeschobenen Idealen fett wird und am Opfer wächst. Daß sich in diesem Krieg, dem Krieg von heute, die Kultur nicht erneuert, sondern nur durch Selbstmord vor dem Henker rettet. Daß er mehr war als Sünde: daß er Lüge war, tägliche Lüge, aus der Druckerschwärze floß wie Blut, eins das andere nährend, auseinanderströmend, ein Delta zum großen Wasser des Wahnsinns. Daß dieser Krieg von heute nichts ist als ein Ausbruch des Friedens, und daß er nicht durch Frieden zu beenden wäre, sondern durch den Krieg des Kosmos gegen diesen hundstollen Planeten! Daß Menschenopfer unerhört fallen mußten, nicht beklagenswert, weil sie ein fremder Wille zur Schlachtbank trieb, sondern tragisch, weil sie eine unbekannte Schuld zu büßen hatten. Daß für einen, der das beispiellose Unrecht, das sich noch die schlechteste Welt zufügt, als Tortur an sich selbst empfindet, nur die letzte sittliche Aufgabe bleibt: mitleidslos diese bange Wartezeit zu verschlafen, bis ihn das Wort erlöst oder die Ungeduld Gottes.
»Auch Sie sind ein Optimist, der da glaubt und hofft, daß die Welt untergeht.«
Nein, sie verläuft nur wie mein Angsttraum, und wenn ich erwache, ist alles vorbei.