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IX

Sprüche und Widersprüche

Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.

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Es gibt zweierlei Vorurteil. Das eine steht über allem Urteil. Es nimmt die innere Wahrheit vorweg, ehe das Urteil der äußeren nahegekommen ist. Das andere steht unter allem Urteil; es kommt auch der äußeren Wahrheit nicht nahe. Das erste Vorurteil ist über die Zweifel des Rechts erhaben, es ist zu stolz, um nicht berechtigt zu sein, es ist unüberwindlich und führt zur Absonderung. Das zweite Vorurteil läßt mit sich reden; es macht seinen Träger beliebt und ist auch als Verbindung eines Urteils mit einem Vorteil praktikabel.

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Das Vorurteil ist ein unentbehrlicher Hausknecht, der lästige Eindrücke von der Schwelle weist. Nur darf man sich von seinem Hausknecht nicht selber hinauswerfen lassen.

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Eine gesunde Mischung von Phantastik und Pedanterie findet sich damit ab, daß die Welt just die Grenzen hat, welche die Vorstellung ihr gibt. Ein regulierbarer Horizont kann nicht eng sein.

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Man unterscheide Menschen, die im Frühling den Winterrock ablegen, und Menschen, die die Ablegung des Winterrocks als unfehlbares Mittel zur Herbeiführung des Frühlings ansehen. Die ersten werden eher den Schnupfen kriegen.

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Alles schwelgende Genießen in Küche und Keller, alle Kennerschaft in Liebe und Leben beruht nicht auf der Fähigkeit analytischen Prüfens, sondern auf der phantastischen Verwendung der Erkenntnis: Man weiß nicht, wovon man fett wird.

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Mein Geist regt sich an den Sinnen, meine Sinne regen sich an dem Geist der Frau. Und der Körper? Den denke und fühle ich mir weg. Experimenta in corpore vili.

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Was sind alle Orgien des Bacchus gegen die Räusche dessen, der sich zügellos der Enthaltsamkeit ergibt!

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Wie begrenzt ist die Vollkommenheit, wie kahl der Wald, wie nüchtern die Poesie! Anschauungsunterricht für die Begrenzten, Kahlen, Nüchternen.

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Wie abwechslungsvoll muß das Dasein eines Menschen sein, der durch zwanzig Jahre täglich auf demselben Sessel eines Wirtshauses gesessen hat!

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Ein Leierkasten spielt zu jedem Schmerz die Melodie.

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Passende Wüste für Fata Morgana gesucht.

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Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen!

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Ein selbstbewußter Künstler hätte dem Fiesko zugerufen: Ich habe gemalt, was du nur tatest!

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Ich stelle mir ihn nicht unrichtig vor. Wenn er anders ist, so beweist das nichts gegen meine Vorstellung: der Mann ist unrichtig.

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Nichts beweist mehr gegen eine Theorie als ihre Durchführbarkeit.

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Die Moralheuchler sind nicht darum hassenswert, weil sie anders tun, als sie bekennen, sondern weil sie anders bekennen, als sie tun. Wer die Moralheuchelei verdammt, muß peinlich darauf bedacht sein, daß man ihn nicht für einen Freund der Moral halte, die jene doch wenigstens insgeheim verraten. Nicht der Verrat an der Moral ist sträflich, sondern die Moral. Sie ist Heuchelei an und für sich. Nicht daß jene Wein trinken, sollte enthüllt werden, sondern daß sie Wasser predigen. Widersprüche zwischen Theorie und Praxis nachzuweisen ist immer mißlich. Was bedeutet die Tat aller gegen den Gedanken eines einzigen? Der Moralist könnte es ernst meinen mit dem Kampf gegen eine Unmoral, der er selbst zum Opfer gefallen ist. Und wenn einer Wein predigt, mag man ihm sogar verzeihen, daß er Wasser trinkt. Er ist mit sich im Widerspruch, aber er macht, daß mehr Wein getrunken wird in der Welt.

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Als stärkster Erschwerungsgrund galt mir immer, daß einer nichts dafür gekonnt hat.

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Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun!

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Ich habe um mancher guten Entschuldigung willen gesündigt; darum wird mir verziehen werden.

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Ich habe, Gott sei Dank, oft übers Ziel und selten neben das Ziel geschossen.

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Früher war ich oft amoralisch entrüstet. Aber die Sittlichkeit nimmt rings überhand, und man gibt es auf.

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Ein Paradoxon entsteht, wenn eine frühreife Erkenntnis mit dem Unsinn ihrer Zeit zusammenprallt.

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Eine Antithese sieht bloß wie eine mechanische Umdrehung aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben, Erleiden, Erkennen muß erworben sein, bis man ein Wort umdrehen darf!

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Bald sind es zehn Jahre, daß ich nicht mehr zu mir selbst gekommen bin. Als ich das letzte Mal zu mir kam, gründete ich ein Kampfblatt.

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Gewiß, auch ich bin ein Vielschreiber. Aber wahrlich einer durch unwiderstehlichen Zwang. Wohl hat sich noch nie bei mir eine Schreibmaschine wegen Überbürdung zu beklagen gehabt. Aber es ist richtig, daß meine Hand den Bestellungen meines Kopfes nicht immer nachkommen kann. Wie beneide ich die Autoren, deren Kopf den Bedürfnissen ihrer Hand nicht nachkommt! Sie können sich wenigstens ausruhen.

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Meine Leser glauben, daß ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muß ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen.

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Die Stiere aller Parteien haben sich darüber geeinigt, daß ich die Unzucht propagiere. Es ist freilich wahr, daß ich als das einzige Mittel gegen die Dummheit die Anerkennung der Schönheit empfahl und daß ich auf die durch Jahrhunderte geübte grausame Verschüttung und boshafte Verunreinigung der Quelle alles Lebens alle Übel dieser Welt zurückführte. Aber habe ich mich darum für die Sexualität der Stiere begeistert?

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Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören möchte.

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Mein Wunsch, man möge meine Sachen zweimal lesen, hat große Erbitterung erregt. Mit Unrecht; der Wunsch ist bescheiden. Ich verlange ja nicht, daß man sie einmal liest.

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Die Leute verstehen nicht deutsch; und auf journalistisch kann ich’s ihnen nicht sagen.

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Die einzige Konzession, zu der man sich etwa noch herbeilassen könnte, wäre die, sich so weit nach den Wünschen des Publikums zu richten, daß man das Gegenteil tut. Aber ich tue es nicht, weil ich keine Konzessionen mache und eine Sache selbst dann schreibe, wenn sie das Publikum erwartet.

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Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!

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Wenn ich totgeschwiegen werde, so will ich das Schweigen hörbar machen! Es wäre eine faule Retourkutsche, nicht darüber zu sprechen.

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Ich bin so frei, alles Glück der Koterien mir selbst zu bereiten.

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Ich kann mit Stolz sagen, daß ich Tage und Nächte daran gewendet habe, nichts zu lesen, und daß ich mit eiserner Energie jede freie Minute dazu benütze, mir nach und nach eine enzyklopädische Unbildung anzueignen.

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Wie viel Stoff hätte ich, wenn’s keine Ereignisse gäbe!

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Ich kann einen Festzug oder eine gewisse Sorte von Theaterstücken nur dann nach ihrem ästhetischen und kulturellen Wert beurteilen, wenn ich nicht dabei war. Sonst unterliege ich einer beliebigen Nervenwirkung und rede wie der Blinde von der Farbe. Musik besticht die Kritik, und wie leicht kann Glockenläuten einen zur Duldung einer Nichtigkeit bringen! Um mir also ein objektives Urteil zu bewahren, darf ich gewissenhafterweise nicht unterlassen, dem Schauspiel fernzubleiben.

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Wenn man mir persönliche Antipathien vorwirft, weil ich einen Literaten für einen Pfuscher erkläre, so unterschätzt man meine Bequemlichkeit. Ich werde doch nicht meinen Haß strapazieren, um eine literarische Minderwertigkeit abzutun!

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Ich schnitze mir den Gegner nach meinem Pfeil zurecht.

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Pest und Erdbeben sind große Themen. Wie kleinlich, Gliederreißen als Symptom der Pest zu erkennen und sich bei einer Trübung des Quellwassers aufzuhalten, die ein Erdbeben anzeigt! Wie kleinlich, den Weltekel zu fühlen, wenn ein Schmock vorübergeht!

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Es gibt Leute, die mich wie eine wilde Bestie meiden. Das sollten sie nicht tun: wir entfernen uns allzuweit voneinander. Denn sie sind es doch, die ich viel schnelleren Fußes als zahme Haustiere fliehe.

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Warum tadeln mich so viele? Weil sie mich loben und ich sie trotzdem tadle.

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Wer kein Geschäft mit dem Leben machen will, zeige an, daß er seinen Bestand an Bekanntschaften zu reduzieren beabsichtigt und seine Erfahrungen unter dem Einkaufspreis abgibt.

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Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt. Ich lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft abstoßen, eine einflußreiche Beziehung verlieren könnte. Vielleicht bringe ich’s doch noch zu einer Position!

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Wenn einer in meiner Charakterluft nicht atmen kann und mich deshalb verraten muß, so sagt die Öffentlichkeit: Aha! Denn meine Unzuverlässigkeit ist berühmt seit dem Tage, da ich aus unsauberer Luft geflohen bin.

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Die wahre Treue gibt eher einen Freund preis als einen Feind.

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Ich war selten verliebt, immer verhaßt.

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Hüte dich vor den Frauen! Du kannst dir eine Weltanschauung holen, die dir das Mark zerfressen wird.

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Halte deine Leidenschaften in Zaum, aber hüte dich, deiner Vernunft die Zügel schießen zu lassen.

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Erfahrungen sind Ersparnisse, die ein Geizhals beiseite legt. Weisheit ist eine Erbschaft, mit der ein Verschwender nicht fertig wird.

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Eine Notlüge ist immer verzeihlich. Wer aber ohne Zwang die Wahrheit sagt, verdient keine Nachsicht.

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Wahrheit ist ein ungeschickter Dienstbote, der beim Reinmachen die Teller zerschlägt.

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Eitelkeit ist die unentbehrliche Hüterin einer Gottesgabe. Es ist närrisch, zu verlangen, daß das Weib seine Schönheit und der Mann seinen Geist schutzlos preisgebe, um die Armut nicht zu kränken. Es ist töricht, zu sagen, ein Wert dürfe nicht auf sich selbst weisen, um nicht den Unwert des andern zu verraten. Wer mir Eitelkeit vorwirft, macht sich des Neides verdächtig, der bei weitem keine so schöne Eigenschaft ist wie die Eitelkeit. Aber wer sie mir abzusprechen wagt, verdächtigt mich der Armut.

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Sinnlichkeit des Weibes lebt so wenig vom Stoff wie männliche Künstlerschaft. Je nichtiger der Anlaß, desto größer die Entfaltung. Der Geist ist an kein Standesvorurteil gebunden und die Wollust hat Perspektive.

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Phantasie hat ein Recht, im Schatten des Baumes zu schwelgen, aus dem sie einen Wald macht.

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Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.

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Jede Erkenntnis sollte so erschütternd sein, wie die eines Bauern, der eines Tages erfährt, daß ein kaiserlicher Rat und ein Hoflieferant dem Kaiser nichts zu raten und dem Hofe nichts zu liefern haben. Er wird mißtrauisch.

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Es gibt eine niedrige Leichtgläubigkeit des Vertrauens und eine höhere Leichtgläubigkeit der Skepsis. Der eine wird betrogen, der andere ist Manns genug, sich selbst zu betrügen. Jener ist ein Gefoppter, dieser ein Wissender, der sich vom Wissen nicht das Spiel verderben läßt, wenn er sich über die eigene Schulter guckt. (Ich wollte ihre Unterschrift auf einer Ansichtskarte. Ich bat einen Freund, sie zu fälschen. Wenn er dann noch dazu schriebe, daß sie echt sei, würde ich’s sicher glauben.) Von meiner Leichtgläubigkeit hätte ich mir früher, da ich noch glaubte, keine Vorstellung machen können. Jetzt bin ich oft verblüfft von den Überraschungen, die ich mir bereite, und von meinem Überraschtsein. Seitdem mein Mißtrauen gewachsen ist, weiß ich, wie sehr ich glaube.

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Wenn wir einen Fehler längst abgelegt haben, werfen uns die Oberflächlichen den Fehler und die Gründlichen Inkonsequenz vor.

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Die Persönlichkeit hat ein Recht zu irren. Der Philister kann irrtümlich recht haben.

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Der Klügere gibt nach, aber nur einer von jenen, die durch Schaden klug geworden sind.

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Der Unechte glaubt an keine Echtheit. Und glaubte er. er würde nicht begreifen, wie man echt sein könne, in einer Zeit, in der es wirklich niemand nötig hat, echt zu sein.

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Auf einem Kostümfest hofft jeder der Auffallendste zu sein; aber es fällt nur der auf, der nicht kostümiert ist. Sollte das nicht einen Vergleich geben?

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Das ist noch immer nicht die richtige Einsamkeit, in der man mit sich beschäftigt ist.

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Man verachte die Leute, die keine Zeit haben. Man beklage die Menschen, die keine Arbeit haben. Aber die Männer, die keine Zeit zur Arbeit haben, die beneide man!

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An einem Ideal sollte nichts erreichbar sein als ein Martyrium.

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Wer offene Türen einrennt, braucht nicht zu fürchten, daß ihm die Fenster eingeschlagen werden.

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Was einen foltert, sind verlorene Möglichkeiten. Einer Unmöglichkeit sicher sein ist Gewinn.

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Ich mag mich drehen und wenden, wie ich will, überall zeigt mir das Leben seine Verluste, da es entweder das Malerische dem Nützlichen oder das Nützliche dem Malerischen aufgeopfert hat.

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Das individuelle Leben der Instrumente ist von übel. Ich kann mir denken, daß sie eine politische Überzeugung haben, aber daß sie atmen stört mich.

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Es ist ein Unglück, daß in der Welt mehr Dummheit ist, als die Schlechtigkeit braucht, und mehr Schlechtigkeit, als die Dummheit bewirkt.

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Gedanken sind zollfrei. Aber man hat doch Scherereien.

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Die wahre Grausamkeit ist von keinem Machtmittel beschränkt.

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Der Nationalismus, das ist die Liebe, die mich mit den Dummköpfen meines Landes verbindet, mit den Beleidigern meiner Sitten, und mit den Schändern meiner Sprache.

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Das größte Lokalereignis, das in allen Städten gleichzeitig und unaufhörlich sich begibt, wird am wenigsten beachtet: der Einbruch des Kommis in das Geistesleben.

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Das ist kein rechtes Lumen, das dem Verstände nicht zum Irrlicht wird.

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Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt »noch mitgeht«. Der Künstler sollte auch bis dorthin die Begleitung ablehnen.

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An einem Dichter kann man Symptome beobachten, die einen Kommerzialrat für die Internierung reif machen würden.

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Der »starre Buchstabe des Gesetzes«? Das Leben selbst ist zum Buchstaben erstarrt, und was bedeutet neben solchem Zustand die Leichenstarre der Gesetzlichkeit!

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Der Ernst des Lebens ist das Spielzeug der Erwachsenen. Nur, daß er sich mit den sinnvollen Dingen, die eine Kinderstube füllen, nicht vergleichen läßt.

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Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.

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Fechten und Keulenschwingen sind trügerische Entfettungskuren. Sie scharfen Hunger und Durst. Was den meisten Menschen abgeht und was ihnen unfehlbar helfen könnte, ist die Möglichkeit, geistige Bewegung zu machen.

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In einem geordneten geistigen Haushalt sollte ein paarmal im Jahr ein gründliches Reinemachen an der Schwelle des Bewußtseins stattfinden.

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Willst du ein klares Urteil über deine Freunde gewinnen, so frage deine Träume.

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Man mag dem Traum für das bißchen Klarheit, das er einem hin und wieder schenkt, dankbar sein. Mir träumte von einer aufgedunsenen Raupe, die ich töten wollte. Ich stach nach ihr, aber sie lebte, und drehte mir lachend den Kopf zu und sagte: Ich komme wieder.

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Ich weiß ganz genau, welche ungebetenen Gedanken ich nicht über die Schwelle meines Bewußtseins lasse.

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Wer sich nachts, allein in seinem Zimmer, vor allen Überraschungen sicher fühlt, den beneide ich nicht um seine Sicherheit. Daß Bilder nicht aus ihren Rahmen treten können, mag einer wissen, und dennoch glauben, daß es geschehen könnte. Solchen Glauben sollte man sich erhalten. Es ist nicht der Glaube der Väter, aber weil er als der Glaube der Kinder verlacht wird, soll man ihn ernst nehmen. Er ist die Häresie des Aberglaubens. Man muß sich nicht zu dem Dogma bekennen, daß man am Freitag nicht dreizehn Schlechtigkeiten begehen darf. Aber die mit linker Hand erfaßte Türklinke wird aufstehen und gegen mich zeugen!

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Wer zu den Dingen in seinem Zimmer eine persönliche Beziehung gewonnen hat, rückt sie nicht gern von der Stelle. Ehe ich ein Buch aus meiner Bibliothek leihe, kaufe ich lieber ein neues. Sogar mir selbst, dem ich auch nicht gern ein Buch aus meiner Bibliothek leihe. Ungelesen an Ort und Stelle, gibt es mir mehr als ein gelesenes, das nicht da ist.

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Ich nehme viel lieber an, daß sich eine Zauberkunst nur auf metaphysische Art erklären läßt. Sonst wäre sie doch noch viel unerklärlicher. Daß in meinem Hut ein Karnickel, drei Tauben und ein hundert Meter langes Band vorkommen, kann meinetwegen durch die Geschicklichkeit des Taschenspielers ermöglicht sein. Aber daß sie in seiner Tasche Platz hatten, das eben ist es, was ich mir auf natürliche Weise durchaus nicht erklären kann.

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Wenn ich einschlafe, spüre ich so deutlich, wie die Bewußtseinsklappe zufällt, daß sie für einen Augenblick wieder offen steht. Aber es ist nur die Vergewisserung, daß das Bewußtsein aufhört. Gleichsam das Imprimatur des Schlafes.

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Wer schlafen will und nicht kann, der ist ohnmächtiger, als wer schlafen muß und nicht will. Dieser hat die Ausrede des Naturgebots, dem man freilich mit schwarzem Kaffee zu trotzen vermag. Jener läßt sich ein gutes Gewissen, hilft’s nicht, einen deutschen Roman, schließlich Morphium verordnen. Würdig sind solche Mittel nicht. Die menschliche Natur wird vom Schlaf überwältigt; da sie den Schlaf nicht überwältigen kann, lerne sie es, ihn zu überlisten. Man zeichne die Figuren in die Luft, die er am liebsten hat; ohne das absurdeste Spielzeug steigt er nicht ins Bett: Ein Kalb mit acht Füßen, ein Gesicht, dem die Zunge bei der Stirn heraushängt, oder der Erlkönig mit Krön’ und Schweif. Man stelle die Unordnung her, die der Schlaf braucht, ehe er sich überhaupt mit unsereinem einläßt. Man ahnt gar nicht, welche Menge von Bändern, Kaninchen und sonstigen Dingen, die nicht zur Sache gehören, man bei einiger Geschicklichkeit aus dem Zauberhut des Unbewußtseins hervorholen kann. Nichts imponiert dem Schlaf mehr. Schließlich glaubt er daran, und der Zauberer ist unter allem Tand verschwunden. Ich habe das Experiment oft bei wachstem Bewußtsein unternommen, und es gelang so vollständig, daß ich mir das Gelingen nicht mehr bestätigen konnte.

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Feinnervige Menschen mögen sich daran erkennen, daß sie in dem Augenblick, da sie sich ins Bett legen, den Traum der vergangenen Nacht anfühlen, aber nicht deutlicher, als eine Mondlandschaft den Nebelschleier fühlt.

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Unmittelbar nach einer Lektüre der Begebenheiten des Enkolp träumte ich der Reihe nach alle die Himmelserscheinungen, die Petronius als Vorboten des Bürgerkrieges beschreibt: Kometen sah ich, blutiger Regen fiel herab, »im Laufe sterbend standen Ströme stille«. Aber der Ätna, der aus seinen Eingeweiden Feuerwogen speit, war der Sonnwendstein. Schon trug ich eine Hoffnung — aber das Wiener Publikum, das im Hotel Panhans war, machte sich gar nicht daraus, sondern saß auf der Terrasse und applaudierte bei jedem Himmelszeichen. Ich war über die schamlose Störung des wunderbaren Schauspiels empört und dachte mir: das ist echt römisch. Offenbar war für diesen polemischen Teil des Traums Petrons Schilderung von der frechen Üppigkeit der Römer maßgebend: »Schon hatte Rom den Erdenkreis bezwungen ...«; Tiger werden auf Menschen losgelassen, »um satt an ihrem Blute sich zu trinken, indeß die Römer freudig dazu klatschen«.

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Was könnte noch reizvoller sein als die Spannung, wie der Ort aussehen wird, den ich mir so oft vorgestellt habe? Die Spannung: wie ich meine Vorstellung wiederherstelle, nachdem ich ihn gesehen habe.

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Seit vielen Jahren schon versäume ich den Frühling. Aber dafür habe ich ihn zu jeder Jahreszeit, sobald ich die Stimmung eines Tags der Kindheit mir hervorhole, mit dem jähen Übergang vom Einmaleins zu einem Gartenduft von Rittersporn und Raupen. Da ich vermute, daß es dergleichen nicht mehr gibt, halte ich persönliche Erfahrungen in diesem Punkte geflissentlich von mir fern.

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Es sollte verlockend sein, das Vorstellungsleben eines Tages der Kindheit wiederherzustellen. Der Pfirsichbaum im Hofe, der damals noch ganz groß war, ist jetzt schon sehr klein geworden. Der Laudonhügel war ein Chimborasso. Nun müßte man sich diese Dimensionen der Kindheit wieder verschaffen können. In einem Augenblick vor dem Einschlafen gelingt das der Phantasie manchmal. Plötzlich ist alles wieder da. Ein Fuchsfell als Bettvorleger wirkt ganz schreckhaft, der Hund in der Nachbarvilla bellt, eine Erinnerungswelle aus dem Schulzimmer trägt einen Duft von Graphit heran und einen Klang des Liedes »Jung Siegfried wa-a-ar ein tapferer Held«, der Lehrer streicht die Fiedel, als ob er der leibhaftige Volker wäre, das alte Herzklopfen, weil man »drankommen« könnte, im Garten blüht Rittersporn, kuhwarme Milch, erste Gleichung mit einer Unbekannten, erste Begegnung mit einer Unbekannten, das Temporufen des Schwimmeisters, Cholera in Ägypten und die Scheu, in der Zeitung die Namen der Städte Damiette und Rosette (mit täglich zweihundert Toten) zu lesen, weil sie ansteckend wirken könnten, der Geruch eines ausgestopften Eichhörnchens und in der Ferne ein Leierkasten, der die Novität »Nur für Natur« oder »Er soll dein Herr sein« spielt. Alles das in einer halben Minute. Wer nicht imstande ist, es herbeizurufen, wenn er will, kann sich sein Schulgeld zurückgeben lassen. Ein gutes Gehirn muß kapabel sein, jedes Fieber der Kindheit so mit allen Erscheinungen sich vorzustellen, daß erhöhte Temperatur eintritt.

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Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire.

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Kurz vor dem Einschlafen kann man sich allerlei Fratzen in die Luft zeichnen. Das sind die hypnagogischen Gesichte. Wer die leibhaftigen Menschen als solche sieht, der ist nah daran, aus dem Leben zu scheiden.

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Tag des Grauens, dazuliegen, wenn die Pferdehufe der Dummheit über einen hinweggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe!

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Aus Lebensüberdruß zum Denken greifen: ein Selbstmord, durch den man sich das Leben gibt.

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»Sich keine Illusionen mehr machen«: da beginnen sie erst.

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Solange es innere Deckung gibt, können einem die Verluste des äußeren Lebens nichts anhaben.

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Zu allen Dingen lasse man sich Zeit; nur nicht zu den ewigen.

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Die Unsterblichkeit ist das einzige, was keinen Aufschub verträgt.

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Man muß oft erst nachdenken, worüber man sich freut; aber man weiß immer, worüber man traurig ist.

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Ich habe beobachtet, daß die Schmetterlinge aussterben. Oder werden sie nur von den Kindern gesehen? Als ich zehn Jahre alt war, verkehrte ich auf den Wiesen von Weidlingau ausschließlich mit Admiralen. Ich kann sagen, daß es der stolzeste Umgang meines Lebens war. Auch Trauermantel, Tagpfauenauge und Zitronenfalter machten einem das junge Leben farbig. Vanessa Io, Vanessa cardui — Vanitas Vanitatum! Als ich nach manchem Jahr wiederkam, waren sie alle verschwunden. Die Mittagssonne dröhnte wie ehedem, aber kein Farbenschimmer war sichtbar, dafür lagen Fetzen von Zeitungen auf der Wiese. Später erfuhr ich. daß man das Holz der Wälder zur Herstellung des Druckpapiers gebraucht hatte, und daß bei der Fülle der Informationen die Schmetterlinge im Übersatz bleiben mußten. Ein Freund unseres Blattes sendet uns den letzten Schmetterling, und einer unserer Mitarbeiter hatte Gelegenheit, ihn auf die Feder zu spießen und nach den Ursachen seiner Vereinsamung zu fragen. Die Welt flieht vor den Farben der Persönlichkeit, man schützt sich, indem man sich organisiert. Nur die Schmetterlinge haben es unterlassen, sich zu organisieren. So kam es, daß an den Blumenkelchen jetzt Redakteure nippen, schillernde Feuilletonisten. Selbst die eintönigen Kohlweißlinge, mit denen der Journalismus wegen einer gewissen Verwandtschaft noch am ehesten hätte paktieren können, mußten weichen. Der Vernichtungskampf gegen die Flieger bezeichnet den Triumph der Zeitungskultur. Falter und Frauen, Schönheit und Geist, Natur und Kunst bekommen es zu spüren, daß ein Sonntagsblatt hundertfünfzig Seiten hat. Mit Fliegenprackern schlägt die Menschheit nach den Schmetterlingen. Wischt sich den farbigen Staub von den Fingern. Denn sie müssen rein sein, um Druckerschwärze anzurühren.

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Wenn es nur endlich finster wäre in der Natur! Dieses elende Zwielicht wird uns noch allen die Augen verderben.

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Man lebt nicht einmal einmal.