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Ding-an-sich, Sieb der Sinne

Jetzt erst glaube ich alle Vorstellungen gegenwärtig zu haben, welche geeignet sind. Kants Begriff eines Dings-an-sich von seiner transzendentalen Verkleidung zu befreien und ihn zu einem notwendigen Bestandteil einer erkenntnistheoretischen Weltanschauung zu machen. Ich habe vorhin Kants Philosophie einen versteckten Okkasionalismus genannt; das ist sie wirklich, so lange der Parallelismus von Subjektivität und Objektivität, von Verstand und Wirklichkeit, von Seele und Leib bestehen bleibt, so lange die Welt durch ein aprioristische? Wunder aus dem Verstande entsteht, so lange der Verstand mit seinen armen fünf Sinnen Weltgesetze erfindet, die dann unbegreiflicherweise auf die Welt passen. Lassen wir den alten Begriff der Apriorität aber fallen, bescheiden wir uns, nichts im Intellekt zu suchen, was nicht vorher in den Sinnen war und dann im Gedächtnisse oder in der Sprache, bekennen wir resigniert, daß gerade dieses Fundament weiteren wissenschaftlichen Aufbaus, daß gerade die in der Sprache überlieferte gemeine Weltanschauung unser aprioristisches Wissen ist. fügen wir uns darein, daß nach den Substantiven und Verben nun auch die Adjektive als etwas Metaphorisches erkannt worden sind —, dann kann es uns nicht mehr erschrecken, wenn der menschliche Verstand es ist, der sich die Anschauungs- und Denkformen seiner Weltanschauung selber aufbaute. Auf ein Werturteil läuft am Ende die Differenz dieser Anschauung von der Kantschen hinaus, auf eine Stimmung. Kant will sagen: der Verstand muß doch ein göttliches Ding sein, weil alle Weltanschauung mitsamt aller Philosophie und mitsamt der Welt selbst sein eigenes Werk ist. Wir sagen: die Welterkenntnis mitsamt der Welterscheinung ist ein Werk des menschlichen Intellekts oder vielmehr eine Assoziation unserer Sinnesempfindungen, welche wesentlich Sinnestäuschungen sind; unsere Welterkenntnis ist aber auch darnach. Den tatsächlichen Vorgang können wir uns nur durch ein Bild vorstellen. Es gibt in vielen Industrien Siebe, welche automatisch die Körner eines Gemengsels nach bestimmten Größen scheiden; wie nun im Farbensieb (die Bezeichnung ist metaphorisch) ein Instrument erfunden worden ist, das die Farben nach ihrer Qualität durchläßt oder nicht durchläßt, so können wir uns Siebe vorstellen, die die Eigenschaften der Körper je nach ihrer Gestalt und Kristallisation oder auch bestimmte Schwingungen durchlassen oder nicht durchlassen. Niemand wird sich wundern, hinter dem Siebe nur das zu finden, was es durchgelassen hat. Hinter dem Rotsiebe erscheint die Welt rot. So erscheint die Welt im Verstande, hinter dem Siebe des Verstandes, das heißt hinter den Löchern seiner Sinne, sinnisch, verständig; diese Einsicht selbst ist widersinnisch, der gemeinen Vorstellung unverständlich. Und weil die Sinne Zufallssinne sind, so wird die Frage nach dem Werte unseres Weltbildes, nach der Zuverlässigkeit unseres Verstandes, nach dem Parallelismus zwischen Subjektivität und Objektivität, so wird jede metaphysische Frage kindlich. Wo der Mensch den Hauptwert auf die Goldkörner legt, da ist der "Durchfall" Gold, der "Rückhalt" Sand (Durchfall und Rückhalt sind technische Ausdrücke). wo etwa das Gold keinen Wert hätte und der Sand zum Mauern selten wäre, da würde das Sieb so eingerichtet werden, daß der Durchfall Sand wäre, der Rückhalt Gold. So gleichwertig nun aber für die willensfreie Neugier des Mineralogen Gold und Sand sind, so gleichwertig wäre für eine übermenschliche Weltseele das Ding-an-sich und seine Erscheinung im Menschenverstande, so gleichwertig wäre für eine Weltseele (mit anderen Worten) das, was die Sinne durchlassen, und was sie nicht durchlassen. Die menschliche Welterkenntnis ist der Durchfall des menschlichen Verstandes.