II. Das Verbum
Lessing
Zu der Einsicht, dass den Kategorien der Logik oder Grammatik, dass den Redeteilen in der Wirklichkeitswelt nichts entspreche, dass insbesondere das Tätigkeits- oder Zeitwort keine einfache Wahrnehmung wiedergebe, konnte Lessing, abhängig von der Psychologie und Erkenntnistheorie seiner Zeit, unmöglich gelangen. Starb er doch in dem Jahre, in welchem Kants Kritik der reinen Vernunft erschien; und die grundlegenden Untersuchungen Lockes hatte er trotz eingehender Beschäftigung mit Leibniz, dem nicht immer überlegenen Gegner Lockes, nicht weiter geführt. Um so überraschender ist es, wie Lessing durch eine seiner entscheidenden Ideen, durch die Grenzbestimmung zwischen Poesie und Malerei, zu einer Definition der Handlung geführt wird, die mit meiner psychologischen und erkenntnistheoretischen Auffassung des Tätigkeitsbegriffs fast wörtlich zusammenfällt. Diese Definition, welche eigentlich schon seinen Laokoon vorausnimmt, findet sich in seiner Abhandlung über die Fabel aus dem Jahre 1759.
"Eine Handlung nenne ich eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen. Diese Einheit des Ganzen beruhet auf der Übereinstimmung aller Teile zu einem Endzweck."
Diesen Endzweck sieht Lessing allerdings in dem moralischen Lehrsatz, für den die Fabel erfunden worden ist; aber der erkenntnistheoretische Wert der Definition geht weit über diese moralische Nutzanwendung hinaus. Lessing spricht es unmittelbar darauf aus: er könne es für eine untrügliche Probe ausgeben, dass eine Fabel schlecht sei, dass sie den Namen der Fabel gar nicht verdiene, "wenn ihre vermeinte Handlung sich ganz malen läßt". In diesen wenigen Worten liegt, wie gesagt, der leitende Gedanke des Laokoon, in welchem Lessing nur wenig später mit all seiner Scharfsichtigkeit schon die sprachphilosophische Seite der Sache bemerkt.
Er kommt auf diese philosophische Seite der Frage im 16. Kapitel des Laokoon und ist sich der Bedeutung gar wohl bewußt; denn er beginnt die Auseinandersetzung mit den Worten: "Doch ich will versuchen, die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten." Lessing ist so sehr auf die ersten Gründe seiner ästhetischen Fragen eingegangen, dass der Laokoon über seine Absicht hinaus ein Beitrag zur Sprachphilosophie geworden ist.
Schon in den einleitenden Sätzen des Werkes, in denen er stolz bescheiden die zufällige Entstehung und den Mangel an Ordnung im Werke beklagt, sagt er beiläufig etwas, was ich zu einem der Motti meiner Sprachkritik machen möchte. "An systematischen Büchern haben wir Deutschen überhaupt keinen Mangel. Aus ein paar angenommenen Worterklärungen in der schönsten Ordnung alles, was wir wollen, herzuleiten, darauf verstehen wir uns, trotz einer Nation in der Welt."
Diese Verachtung aller Wortmacherei (die sich in dem herrlichen 10. Kapitel des Laokoon bis zu der Einsicht steigert, dass auch die Zeichensprache der antikisierenden Malerei eine hohle Maskerade, ein Spiel mit toten Symbolen sein könne) mußte dem Verfasser des Laokoon so nahe liegen, weil die ersten Gründe der ganzen Untersuchung auf dem Gebiete der Ausdrucksmittel lagen. Wo er zu dieser Frage gelangt, da staunen wir zugleich über den Scharfsinn des außerordentlichen Mannes und beklagen die geringe Psychologie seiner Zeit. Er sagt: "Wenn es wahr ist, dass die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als die Poesie, jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen." Lessing sagt dann Weiter, dass Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen, Handlungen heißen; dass folglich Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie seien. Er leitet daraus die berühmte Schlußfolgerung her, dass die Malerei also nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen könne und daher den prägnantesten wählen müsse, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten werde. Es versteht sich von selbst, dass Lessing bei all diesen Darlegungen nur an solche Darstellungen der bildenden Kunst denkt, welche eben Handlungen darstellen wollen, dass Lessings Laokoon darum auf die homerischen Gedichte und auf Gemälde nach Homer weit besser paßt als auf moderne Stimmungsbilder und moderne Stimmungspoesie. Wie Lessing aber immer mit seinen Gedankenblitzen weit voraus leuchtet, so hat er auch schon das Wort ausgesprochen, mit welchem wir seinen Standpunkt kritisieren möchten.
Vielleicht kam er zu dem Gedankenblitze, den ich meine, dadurch, dass die Theorie des Laokoon sich kaum gegen ein anderes berühmtes Werk seiner Zeit so sehr zu richten schien, wie gegen den "Frühling" seines lieben Freundes Kleist. Von Herrn von Kleist versichert er eifrig, dass er, hätte er länger gelebt, dieser malenden Poesie eine andere Gestalt gegeben hätte; "er würde (es sind Worte von Marmontel) aus einer mit Empfindungen nur sparsam durchwebten Reihe von Bildern eine mit Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen gemacht haben." In diesem Zusammenhange zitiert Lessing eine Stelle aus einem nicht minder berühmten malenden Gedichte, aus Hallers "Alpen". Lessing will den Einwurf machen, dass Hallers Beschreibung demjenigen keine Vorstellung gebe, der all diese Kräuter und Blumen noch nie gesehen habe. Und hier steigt Lessing plötzlich zu den ersten Gründen herab, wenn er, mit einer seiner bewundernswürdigen Selbstunterbrechungen, ausruft: "Es mag sein, dass alle poetischen Gemälde eine vorläufige Bekanntschaft mit ihren Gegenständen erfordern. Ich will auch nicht leugnen, dass demjenigen, dem eine solche Bekanntschaft hier zu statten kömmt, der Dichter nicht von einigen Teilen eine lebhaftere Idee erwecken könnte."
Hier, an diesem Punkte müßte die neue Psychologie einsetzen, wollte sie über Lessing hinaus die Grenzen zwischen Malerei und Poesie abzustecken wagen. Was Lessing da wie mit einem ihn blendenden Blitze beleuchtet hat, das läßt uns heute den Zusammenhang zwischen den Ausdrucksmitteln der Malerei und der Poesie einerseits, den Zusammenhang zwischen der Handlung und ihrem sprachlichen Zeichen, zwischen der Wirklichkeitswelt und dem Verbum, zwischen dem Mitteilungsinhalt und der Sprache begreifen. Denn wir wissen ja, dass nicht nur alle poetischen Gemälde eine vorläufige Bekanntschaft mit ihren Gegenständen erfordern, sondern dass alle Mitteilung (vollziehe sie sich nun durch sichtbare Sprache oder Malerei oder durch die Lautsprache) nur Erinnerung ist, also immer und unter allen Umständen vorläufige Bekanntschaft voraussetzt. Der Sprachkritiker wenigstens hat gelernt, dass in dem artikulierten Worte der Lautsprache niemals etwas Anderes liegt als die Erinnerung an Sinneseindrücke und dass auch die Malerei oder Zeichnung eine künstliche und bis zu einem gewissen Grade konventionelle Artikulation dessen ist, was das Auge so ganz anders in der Wirklichkeit erblickt (vgl. I. 47).