Zahlenverhältnisse unwirklich
Wir müssen uns somit in die Vorstellung flüchten, dass alles nur in unserem Bewußtsein ist, worauf irgend welche Zahlenbegriffe sich beziehen. In unserem Bewußtsein allein sind die Größenverhältnisse, die wir mit unserem Zahlensystem messen, in unserem Bewußtsein allein ist die Kontinuität, deren einzelne Punkte wir durch den Differentialbegriff zu bestimmen suchen. Wenn oben gesagt worden ist, dass die Zahlen unwirklich sind, die Größenverhältnisse aber wirklich, so war das eben nur mit den Mitteln der Sprache ausgedrückt. Es ist in der Natur etwas Wirkliches, was den Größenverhältnissen entspricht; in der Natur selbst können es aber keine Verhältnisse sein, weil diese erst durch Vergleichung, also durch Verstandestätigkeit entstehen. Die logischen Untersuchungen Spencers zeigen deutlich (Prinzipien der Psychologie II S. 283), "dass das Erkennen von aufeinanderfolgenden Zuständen und Veränderungen des Bewußtseins als gleich oder ungleich dasjenige ist, worin eigentlich das Denken besteht", dass — kürzer ausgedrückt — alles Denken auf die Empfindungen der Gleichheit und Ungleichheit zurückgeht. Denn wenn Spencer weiter versucht, Beziehungen der Gleichheit und Ungleichheit durch abstraktere Begriffe zu definieren, wenn er sie durch Veränderungen im Bewußtsein erklärt, so verläßt er unbewußt den Boden der Psychologie und hält sich an einen Ausdruck, der zugleich eine physiologische Deutung zuläßt. Dieser Fehler wird jedesmal gemacht, wenn eine Darstellung des menschlichen Innenlebens über die Empfindung hinausgeht und das organische Leben oder gar die Außenwelt mit in Rechnung zieht; dieser Fehler macht das gesamte Gebiet der Psychophysik unsicher. Denn ihr ist es wesentlich, ein möglichst ziffernmäßiges Verhältnis zu suchen zwischen der Empfindung und dem Beize, der die Empfindung verursacht hat. Allerdings liegen auch die Maße für Beizgrößen in unserem Bewußtsein, aber nicht anders als alle Wirklichkeitswelt erst in unserem Bewußtsein unser ist, mit der unausweichlichen Hypothese, dass diese Außenwelt von gleicher Art sei wie unser Körper, der die gegebene Elle der Außenwelt ist; die Maße für unsere Empfindungen dagegen sind einzig und allein in unserem Bewußtsein, und es fehlt durchaus an einer Gleichung zwischen jener körperlichen und dieser psychischen Elle.
Mit dieser Erklärung, dass auch die Empfindungen der Gleichheit und Ungleichheit nur Tatsachen unseres Bewußtseins sind, sind wir zunächst nicht nur nicht von der Stelle gerückt, sondern haben unserem Ausgangspunkte, dass die Zahlen nur in unserem Denken vorhanden sind, jeden Wert genommen. Diese Erklärung sagte doch nur dann etwas, wenn die Zahlen unwirklich waren im Gegensatze zu den wirklichen Verhältnissen und gar den wirklichen Dingen. Erinnern wir uns nun jetzt, dass die bisher als wirklich angenommenen Größenverhältnisse als Ergebnisse einer Vergleichung nur Bewußtseinszustände sein können und dass schließlich alle und jede Kenntnis von der Wirklichkeitswelt auch nur menschliche Denkoperation ist, so scheinen die Zahlen nur mit allen anderen Vorstellungen in den dunklen Abgrund der Erkenntniskritik zu versinken. Dennoch zwingt uns eine Gewißheit dieses unseres zerfaserten Denkens, bezüglich der Realität einen Unterschied zu machen zwischen unserem Bewußtsein von natürlichen Größenverhältnissen und unserem Bewußtsein von ihrer menschlichen Messung, von den Zahlen. Dem Wesen dieses Unterschiedes nähern wir uns, soweit dies überhaupt möglich ist, vielleicht durch einen Hinweis auf die Tatsache oder die Wahrscheinlichkeit, dass das Denken des Menschen geworden ist, sich entwickelt hat, also auch die Vorstellung von Größenverhältnissen ihre besondere Entwicklung durchgemacht haben mag. Ich werde es nicht versuchen auf diesem Felde mehr als eine melancholische Vermutung zu geben, die nämlich, dass unsere Zahlenvorstellungen einerseits kaum begonnen haben den Standpunkt einer empirischen Anfängerschaft zu verlassen, dass anderseits unser vielgerühmtes logisches Denken noch nicht einmal auf dem Standpunkte unserer Zahlenvorstellungen angelangt ist. Nur eine ganz kurze Bemerkung soll diese Worte rechtfertigen.
Das ursprüngliche Verhältnis, in welchem auch das Tier und das Kind und der Wilde zu den Quantitäten der Natur steht, war offenbar das der Anschauung. Sehr bald mögen die Begriffe "einige" und "viele" dazugekommen sein. Als nun die Menschheit mit unsäglicher Geistesanstrengung zählen lernte, zuerst mit einer epochemachenden Erfindung bis 2, dann bis 3, bis 4, bis 5, bis 6, bis 10, bis 12, bis 20, da war die Zahlenvorstellung ganz offenbar auf dem kindlichsten Standpunkt stehen geblieben wie etwa die Raumvorstellungen des Kindes, welches sein Bettchen schon ausmessen kann, aber das Fenster seines Zimmers und den Mond vor dem Fenster eben auch noch auf Armchenlänge entfernt glaubt. Gar so sehr veränderte sich dieser kindliche Zustand nicht, als die Griechen nach jahrtausendelanger Verbesserung der Zahlenerfindung bis zu zehntausend zählen gelernt hatten. Das Unendlichkeitssystem des Archimedes war unbrauchbar für das eigentliche Weiterzählen ins Unendliche. Immer lautete die Antwort auf die Frage, wie groß die Sonne sei: so groß wohl wie ein Fuder Heu. Das änderte sich erst, als durch den Gedanken, man könnte ins Unendliche weiterzahlen, unser dekadisches Zahlensystem eigentlich erst perfekt wurde. Von jetzt ab konnte man ins Unendliche messen, das heißt vergleichen und vergaß darüber, dass vergleichen nicht erkennen ist. Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist; und die Zahl ist nicht einmal ein erschaffener Geist, sondern nur ein erfundenes Instrument. Ins Innere der Natur konnte man mit Hilfe der diskreten Zahlen nicht dringen, auch wenn man in der Phantasie zählend zum Unendlichgroßen fortschritt. Wie aber, wenn man umgekehrt die Lücken zwischen den diskreten Zahlen ausfüllte, wenn man unendliche Reihen des Unendlichkleinen zwischen sie warf, die Zahl dadurch kontinuierlich machte und durch den Begriff der Differentialänderung die Entstehung der Naturbewegungen kennen lernte, den Anfang der Bewegung? Ich möchte nicht wiederholen, was oben gesagt worden ist. Entweder die Differentialänderung ist nur ein mathematisches Symbol für die unendlich kleinen Momente der in der Natur wirkenden Kräfte, nur ein Symbol der auf einen ausdehnungslosen Punkt zusammengedrängten Größenverhältnisse, dann ist das Differential nicht eine Zahl, sondern eine logische Hilfsvorstellung zur Naturerklärung; oder es ist eine Zahl, dann ist es nur eine mathematische Hilfskonstruktion in der Rechnung, nicht in der Natur. Und zwischen diesen beiden Worten, der Zahl und dem Differentialbegriff, hat die Sprache der Gegenwart, also unsere gegenwärtige Weltanschauung noch keine Verbindung herzustellen vermocht. Noch einmal: entweder das Differential gehört der Sprachwelt an, dann ist es das Bild von etwas Unvorstellbarem, dann ist es metaphorisch, schwebend wie alle Begriffe; oder es gehört der Zahlwelt an, und dann ist es kein Begriff, weil Zahlen keine Begriffe sind.
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