Zum Hauptinhalt springen

Ästhetik

Wir wollen nun aber weitergehen und vorläufig von der Frage absehen, ob Erkenntnis etwas Wirkliches sei, wir wollen nur noch einmal und zwar induktiv erklären, weshalb wir die Erkenntnis eine soziale Erscheinung nennen. Die ethischen Urteile werden von schlechten Menschen nicht für voll genommen werden. Sie werden sagen, die Ethik enthalte überhaupt keine Erkenntnis. Nicht viel anders wird es uns gehen, wenn wir jetzt den sozialen Faktor in anderen Werturteilen nachweisen, in den ästhetischen Werturteilen. An der Tatsache wird nicht zu zweifeln sein, daß die scheinbar so individuellen Geschmacksurteile notwendig von dem Geschmacke der Zeit abhängen, welcher sich durch das Wort Mode ausdruckt, ("Mode" wie "modern" von modo: das Jetzige, das Heutige.) Von dem Zeitgeschmack läßt sich jeder schaffende Künstler beeinflussen, der gewöhnliche Kunstindustrielle nach seinem gemeinen Erwerbssinn, aber auch der stolzeste Künstler, weil der Mensch unfähig ist, sich ohne Wechselwirkung, sich ohne seine Umgebung zu entwickeln. Irgend ein Künstler des alten Ägyptens oder Japans konnte seine Zeit mit noch so wildem Radikalismus überragen, er sprach dennoch die Formensprache seiner Zeit und fügte sich seiner Zeit so sehr ein, daß nur die schärfste Beobachtung unserer Forscher einen Unterschied zwischen ihm und seinen Genossen wahrnehmen kann; ein Maler, ein Musiker, ein Dichter unter unseren Zeitgenossen mag sich gegen den Geschmack der Zeit noch so sehr stemmen wollen, er wird dennoch als eine Erscheinung des gegenwärtigen Jahrzehnts einst zu erkennen sein, wenn er nicht in äußerstem Raffinement irgend eine Vergangenheit nachzuahmen, also zu fälschen versucht. Wäre dieser Einfluß der Umgebung auf die Geschmacksurteile der Schaffenden nicht so stark, die Kunsthistoriker wären nicht im stände, jeder Kunstschöpfung mit instinktiver Sicherheit ihre Zeit und ihr Land anzuweisen. Und der Einfluß auf die Kunsturteile der Genießenden ist womöglich noch stärker.

Man wird erwidern, daß auch die Geschmacksurteile nicht dasjenige bieten, was man gewöhnlich Erkenntnis nennt. Meinetwegen. Wenn nur an den Werturteilen der Ethik und der Ästhetik Beispiele dafür gegeben worden sind, wie bei dem geistigen Prozesse des Urteils, bei dieser souveränen Äußerung des menschlichen Denkens, ein sozialer Faktor mitsprechen kann.