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Form

I.

Form ist entschieden ein Wort der internationalen Sprache; ich möchte nur gleich bemerken, daß der Purismus der slawischen Sprachen Lehnübersetzungen geschaffen hat, im Russischen und im Tschechischen (die ältere Kultur der polnischen Sprache bewahrt daneben die beiden Lehnworte forma und ksztalt), daß aber das Lehnwort forma volkstümlich geblieben ist; ganz ähnlich liegt die Sache im Deutschen, wo die alte Lehnübersetzung Gestalt in der Schriftsprache wie in der Gemeinsprache gesiegt hat, wo aber der einfache Mann heute noch lieber Form eines Baumes u. dgl. sagt. Der Sprachgebrauch im Deutschen unterscheidet zwischen Form, Gestalt und Figur: streng ordnen ließe sich dieser Sprachgebrauch nicht, weil zu viele alte und neue Sprachen und ferne Jahrhunderte auf die einzelnen Redensarten eingewirkt haben.

Hier gilt es, aus der fast unübersehbaren Wortfamilie diejenigen Wortformen und Wortinhalte herauszufinden, die eine Beziehung haben zu dem Begriffspaar Stoff und Form, das in der Geschichte der Philosophie eine Rolle zu spielen nicht aufgehört hat, und die allein in einem Wörterbuche der Philosophie einen Platz verlangen. Nur um auf den Reichtum der Bildungen hinzuweisen und um den Einfluß erraten zu lassen, den ein solches Lieblingswort der Philosophie auf unsere modernen Sprachen nehmen konnte, will ich vorher eine kleine Auswahl solcher Ableitungen zusammenstellen.

Im Lateinischen war forma (einerlei ob das Wort wirklich eine Verhunzung von μορφη war oder, wie Jak. Grimm annahm, eine Ableitung von ferre, »das mit sich Getragene«; meine Empfindung gegen Jak. Grimm möchte ich etwa zärtliche Ehrfurcht nennen, aber seine Proportion forma: fero = norma: Nero ist doch ein wenig toll), abgesehen davon, daß es in der philosophischen Sprache als Übersetzung von ε ἰδος diente, schon in den meisten modernen Bedeutungen vorhanden: Gestalt, Figur, Antlitz, Schönheit, Staatsform, Charakter, Ausdrucksweise, Beschaffenheit, Ordnung, Abbildung, Entwurf, Spezies, Modell (Schuhleisten, Käseform, Münzstempel), Rahmen, Einfassung. Aus formalis, formell,1 im Gegensatze zu dem Wesentlichen einer Sache (Stoff und Form) entstanden in unseren Sprachen alle die Ausdrücke, die fast verächtlich von Formalitäten, von Förmlichkeiten reden, die in Berufsarten, welche auf Formeln angewiesen sind, wieder wichtig genommen werden; aber se formaliser heißt beinahe sich ärgern, weil der andere zu formell geworden ist. Formosus hieß schon im Lateinischen und dann im ältern Englisch (formous) schön, in bonam partem während das griechische ἀμορφος (lat. informis) häßlich bedeutete, im Gegensatze zu εὐμορφος = schön. Aus der Käseform (formis buxeis caseum exprimere) wurden über formaticum die romanischen Worte formaggio und fromage. Formula hieß schon im Lateinischen (außer Schuhleisten und wieder geformter Käse), was es jetzt heißt: Schema, Regel; aber die Franzosen erfanden die Neuerung formule = Rezept, formuler = Rezepte schreiben; formularium wurde zu einer Sammlung von Formeln, die jetzt Formulare heißen, und formularius hieß auch wohl ein Jurist. Überaus zahlreich sind die Zusammensetzungen. Conformis, gleichförmig, konform, wurde besonders im Englischen fruchtbar, conformist bezeichnete den Angehörigen der Kirche, die durch die Uniformitätsakte eine Liturgie eingeführt hatte, im Gegensatz zu dissenter oder non-conformist. Informare, schon lat. heranbilden, auch durch Unterricht, ließ sich zu Informator umbilden, wie noch in meiner Jugend der Hauslehrer hieß; aber s'informer und information bezogen sich auf eine Auskunft. Performare, schon im Lateinischen: die Ausbildung vollenden, nahm im Englischen die Richtung auf das Virtuosentum; performance ist besonders eine theatralische oder musikalische Aufführung. Reformare ist uns besonders durch das Schlagwort Reformation der Kirche geläufig; die Forderung der Reform war aber schon lange vor Luther vorhanden, die Kirche oder einen Orden reformieren bedeutete, die alte Zucht wiederherstellen, also bessern, läutern, den Prunk einschränken; und davon kam über Frankreich auch in das Preußen Friedrichs der Ausdruck officier reformé für einen abgedankten Offizier, wie denn reformer des troupes hieß: die Zahl der Truppen vermindern. Transformare ist in der bekannten Bedeutung ein altes Wort; ganz neu ist Transformator (fast gleich im Französischen und Englischen) für den Apparat zur Umwandlung hochgespannter elektrischer Ströme. Uniformis, einförmig wurde einerseits (uniformism) zu der Lehre von der Entstehung der Erdkruste durch gleichförmige Kräfte, anderseits, international, für den gleichförmigen Dienstanzug der Soldaten und dann auch der Beamten.

Recht nahe an unser Interesse, an das Begriffspaar Stoff und Form, treten einige ganz internationale Redensarten: pro forma, pour la forme, for forme, das wir in lateinischer Form zu gebrauchen pflegen; in optima forma, en bonne forme, in due form, in bester Form, sind dem Sinne nach und beinahe auch in der Form identisch, nur daß die englische Sportsprache uns die Ausdrücke in (good) form, in guter Verfassung, in Form geschenkt hat, wo ein feines Ohr noch den altlateinischen Sinn Beschaffenheit mit der philosophischen Nuance des Vorübergehens, des Nichtbleibens heraushören kann. In die theologische Wortgeschichte gehört das für Nichtchristen dereinst unerklärliche, sub utraque forma oder specie, das die Arten, die beiden Elemente im Sakrament des Abendmahls bezeichnete und von Luther übersetzt wurde: Christus hat das Sakrament beider Gestalt eingesetzt. Brentano kannte die Wortgeschichte schlecht, als er dichtete:

»Brot und Wein, die zwei Gestalten,
Sind nur Zeichen, sie enthalten
Gottes volle Wesenheit.«

Nein, Gestalt übersetzt forma, und forma kann als Wesenheit nur in der Theologie eine Mehrzahl dulden, nicht in der Poesie. (Daß aus dem hilflosen utraque das Wort Utraquist werden konnte, wo dann que, die unbedeutendste aller Silben, in den Wortstamm hineingeriet, ist eine Keckheit der Wortbildung, wie sie doch nur auf dem Gebiete der Gottesgelahrtheit möglich war und ist.)

In irgendeiner Weise mögen wohl die Menschen seit der Urzeit die räumliche Erscheinung eines Dinges von den sog. sekundären Eigenschaften, z. B. von der Farbe, unterschieden haben. In dieser Bedeutung haben alle unsere Gemeinsprachen den Formbegriff. Als aber das Wort forma im Lateinischen aufkam, war es selbst nach Form und Inhalt zu unterscheiden; lautlich wenigstens erinnerte es bis zur möglichen Verwechslung an das griechische μορφη, die Gestalt, die äußere Leibesbildung, die Kontur; es war aber inhaltlich die Lehnübersetzung eines ganz andern griechischen Wortes, εἰδος, das ursprünglich ebenfalls die sichtbare Gestalt bedeutet hatte, dann aber durch Platon in die Ideenlehre hineingeriet, in die es etymologisch hineingehörte (ἰδεα = die äußere Erscheinung), dort wie ἰδεα für ein Bild gebraucht wurde, für die Art, auch im Sinne von Spezies, im Gegensatze zum genus oder γενος; Aristoteles aber, der überhaupt Platons Ideenlehre aller ihrer poetischen Reize entkleidet hat, brachte es zustande, das Wort εἰδος seiner Muttersprache, das ausdrücklich und nach seiner Herkunft nichts bedeutete als die sichtbare, äußere Gestalt, zu einem Terminus für das Gegenteil zu verkehren, zu der Bezeichnung für einen Begriff, der ebenso sehr gegen den naiven Realismus der Gemeinsprache wie gegen den Idealismus Platons gerichtet war. Außer dieser immerwährenden Polemik gegen Platon ist dem Formbegriff des Aristoteles noch ein Umstand verhängnisvoll geworden: systematischer als ein anderer Grieche, aber ebenso wortabergläubisch wie die meisten Griechen, hat Aristoteles Ontologie getrieben, mit allen abstrakten Worten immer nur Ontologie, und die Ahnung von unserer Erkenntnistheorie noch nicht besessen, noch nicht nach der Herkunft und Berechtigung der Begriffe gefragt. Es kam ihm noch nicht in den Sinn, den Wissensbegriff zu untersuchen.

Platon gegenüber mochte er eine instinktive Antipathie in bezug auf dessen konsequenten Idealismus haben. Die Einzeldinge, deren Sein Platon mit phantastischer Größe leugnete, waren dem »baumeisterlichen« Aristoteles im Grunde doch das einzig Wirkliche, wie dem naiven Realismus der Gemeinsprache; da aber mit den philosophischen Begriffen des Platonismus alles bewiesen werden konnte, so bewies Aristoteles den naiven Realismus mit den abstraktesten Worten. Die Materie, die ὑλη, ist unerkennbar, unwahrnehmbar, ist nur die erschlossene Ursache dessen, was wir Materie nennen. Das Einzelding aber wird erst wahrnehmbar durch seine Form. Die Beispiele zeigen, daß er unter der Form ursprünglich ganz naiv die äußere Gestalt versteht, etwa die Bildsäule im Verhältnis zu ihrem Erze. Wie Aristoteles überhaupt den am festesten eingewurzelten Irrtümern der Menschheit ihre Wortform geprägt hat, so hat er auch den ihm so vertrauten Begriff des Zweckes oder der Endursache mit seinem Formbegriff verknüpft: Stoff und Form verhalten sich zueinander wie Ursache und Endursache, wie Realgrund und Motiv. Zweck und Form werden zu Synonymen. Wie der Bildhauer seine Statue absichtsvoll formt, so ist in den lebendigen Dingen ein formendes Prinzip, das man auch die Seele nennen kann. Ja sogar auch die Moral wurde aus der Form hergeleitet, weil doch das Gute und das Schöne in den Traktätlein der Zeit und in dem Modewort καλοκαγαϑια eng verbunden war. Physik also, Biologie, Ästhetik, Moral wurden aus einem Prinzip geholt, das dem naiven Realismus durch der Augen Schein, dem Kunstfreunde durch die Statuen dargeboten war. So wurde Platons Lehre auf den Kopf gestellt: für Platon war das Einzelding unwirklich, wirklich nur die Gattung oder die Idee; in der Sprache des Aristoteles, die »oftmals etwas mehr sagt als er meint« (Ritter III. 134), entstand das Einzelding durch die Gattung und einen Unterschied; und nun war auf einmal die Gattung oder die Materie unwirklich, der Unterschied oder die Form das einzig Wirkliche. (Es gibt freilich wieder andere Bedeutungen von Stoff und Form, bei Aristoteles, die miteinander vertauscht werden können; aber ich will den Aristoteles ja nicht kritisieren, noch weniger retten, ich will hier nur die Gedankengänge herausheben, die für die Wortgeschichte wichtig geworden sind.)

Wir werden bei der Untersuchung des Begriffes Veränderung auf die Schwierigkeiten zurückkommen müssen, die alten und neuen Denkern die Frage nach dem unsichtbaren Subjektträger (der allein sichtbaren Veränderungen) gemacht hat; auch da hat Aristoteles den unheilvollen Gegensatz von δυναμις und ἐνεργεια, von potentia und actus, für zwei Jahrtausende geprägt; die Form ist ihm nun weder δυναμις noch ἐνεργεια, sondern ein drittes Prinzip, das die δυναμις zur ἐνεργεια umschafft, das die Existenz des Einzeldings verursacht. Eigentlich ist die Form so etwas wie Gott (forma prima sagten nachher die Scholastiker von Gott); die höchste, die reinste Form, frei von der Materie – als ob der alte Grieche die Materie schon für sündhaft gehalten hätte. Ewig sind die Formen auch. Und Aristoteles, der ahnungslose Materialist, gelangt zu der Lehre: die Form sei die erste Wesenheit, sei das Wesentliche am Weltall. Damit schien sein Lehrer Platon besiegt. In schlichtem Deutsch liegt das Rätsel und seine Lösung etwa so: die Menschen kennen von ihrer Welt nur das Wie und fragen nach dem Was, nach dem Was der toten und lebendigen Dinge, nach dem Was der ästhetischen und moralischen Begriffe; da antwortet nun Aristoteles nicht wie ein Skeptiker, daß wir uns mit dem Wie begnügen müssen und vom Was niemals etwas erfahren werden, sondern er entscheidet dogmatisch, daß das Wie das Was sei. Und weil Aristoteles auch nicht ein schlichtes Griechisch schrieb, so erfand er für die Form, als die Wesenheit aller Dinge, den ungeheuerlichen Ausdruck το τι ἠν εἰναι.2

Die Scholastik ist das ungeheure und formell gewiß bewunderungswürdige Virtuosenstück, die christliche Theologie und ihre Magd, die christliche Philosophie, in das Wortsystem des vergötterten Aristoteles (Aristotelis logica ipsius Dei logica est) hineinzupressen oder die christliche Lehre aus den alten Worten herauszupressen, auszudrücken. Genauer: aus den neuen lateinischen Worten, mit denen Cicero, Augustinus und endlich die Scholastiker selbst die griechischen Termini bald sklavisch, bald frei übersetzt, bald weitergebildet hatten. Mir scheint das Wort forma den eigentlichen Mittelpunkt des scholastischen Denkens auszumachen. Gott ist die forma prima, die erste Ursache. Die verlegene Vorstellung des Aristoteles, daß die Form teils das Wesentliche am Einzelding, teils die Ursache des Wesentlichen sei, führt zu dem scholastischen Leitmotiv: forma dat esse rei. Alle obersten Begriffe der Scholastik sind im Grunde Synonyme von forma; die Wirrnis liegt in der Sache: essentia, species, actus, quidditas, es ist immer ein und dasselbe. Die Scholastiker, die ihren Aristoteles so lange nur auf dem Umwege über die Araber und die lateinischen Übersetzungen der Araber studiert hatten, fanden beim Averroës eine Definition der Form: actus et quidditas rei; ich sehe in dem barbarischen quidditas einen Versuch, das talmudische το τι ἠν εἰναι wiederzugeben. Die Ideen oder Begriffe oder Universalien heißen formae secundae, weil die forma prima dem Herrgott vorbehalten war. Und der große Kampf zwischen Nominalismus und Realismus, der ahnungslose Kampf um die Sprachkritik, die mit Recht nominalistisch genannt worden ist, weil sie nichts ist als kritischer Nominalismus, weil sie den falschen Weg des alten Nominalismus zum dogmatischen Materialismus verlassen hat – der Kampf zwischen Nominalismus und Realismus knüpft schon bei Albertus Magnus an den Formbegriff an. Nicht von den Universalien, sondern von den formae sagt er (Summa Theol. I Qu. 50), daß sie drei Gattungen haben: ante rem, in re, post rem; er sagt: ante rem, in materia, quod abstrahente intellectu separatur a rebus.

Die Synonymität führt zu verwickelten Tautologien; so wenn Albertus sagt, die forma substantialis sei die essentia, cuius actus est esse. Wir haben Mühe zu glauben, daß der Mann sich bei diesem Hexeneinmaleins etwas gedacht habe; aber wir dürfen nicht vergessen, daß jede Zeit unter der Hypnose ihrer Zeitsprache steht. Forma substantialis ist eine Lehnübersetzung von εἰδος οὐσιωδης und hat ihren Gegensatz in der forma accidentalis; die letzte schafft das Einzelding in seinem quale vel quantum, und die erste – ja, was schafft sie? Was vom Einzelding übrig bleibt, wenn man das quale vel quantum abzieht. Nichts, glauben wir. Die Scholastiker aber dachten etwas dabei, und vielleicht etwas ganz Tiefes. »Was da ist gewesen zu sein«, was über das Wahrnehmbare hinaus ein Grund ist, warum das Einzelding so ist, wie es ist. Wir sagen dafür Kraft, und eine künftige Zeit wird über unsere Kräfte (die Neuesten sagen schon Energien) ebenso lächeln, vielleicht milder, wie wir über die formae substantiales lächeln, die identisch waren mit den berüchtigten qualitates occultae.

Ein Beispiel für die weitreichende Bedeutung dieser scholastischen Schlagwörter: die formae substantiales galten nicht allein für die Physik, sondern auch für die Psychologie. (Die Moral hatte ihre formae intentionales.) Die Seele war die forma substantialis des Menschen; das war allgemein anerkannt, man dachte sich etwas dabei, etwas Hübsches sogar, und sagt noch heute (es ist wirklich nur eine Übersetzung des alten Schlagwortes forma substantialis), daß die Seele sich den Körper baue. Wie aber steht es dann um die Tierseele? Undenkbar für jene Zeit die Vorstellung, daß Seele eine leere Worthülse sei. Die Seele, auch eine Tierseele muß entweder materiell oder immateriell sein. Ist sie immateriell wie die Seele des Menschen, so muß sie auch unsterblich sein, was dem Dogma widerspricht, als dessen Magd allein die Philosophie zu schließen hat. Die Philosophie tut, was ihr aufgetragen ist. Die Seele ist zugleich materiell und immateriell, ist substantiell ohne Materie, ist eine forma substantialis. Und weil die Tierseele offenbar Empfindung hat, weil es der Gerechtigkeit des allgütigen Gottes widerspräche, wenn seine Geschöpfe ohne Erbsünde litten, so muß die Philosophie auch noch diesen Konflikt aus der Welt schaffen; ohne Sinn für die Qual der Kreatur hat denn kein Geringerer als Descartes (um seine eigentlich mechanistische Seelentheorie – wie ich schon angedeutet – vor der Kirche zu verhüllen) die infame Behauptung aufgestellt, daß die Tiere nicht empfinden, nicht leiden, daß die Tiere Maschinen seien; erst Schopenhauer hat dieser äußersten Frechheit des Menschen völlig ein Ende gemacht, weil er die Qual der Kreatur verstand und sie zur Begründung seines Pessimismus brauchte. Die Seele als eine forma substantialis war längst ein kirchliches Dogma geworden; das erste Kanon des Konzils von Vienne (1312) erklärte die Behauptung für ketzerisch, daß die vernünftige Seele nicht ihrem Wesen nach die forma substantialis des menschlichen Körpers sei. Der Barfüßermönch Pierre Jean d'Oliva war dieser Ketzerei angeklagt worden. Da ich keinen Beruf in mir fühle, mich über das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes zu entrüsten, will ich nur kurz hinzufügen, daß Johannes XXII. (1325) die Verurteilung bestätigte, den inzwischen verstorbenen Mönch ausgraben und seine Knochen verbrennen ließ; daß Sixtus IV. auf eine Reklamation der Franziskaner den Prozeß wieder vornehmen ließ und das Andenken des Mönches von jedem Vorwurf reinigte; daß endlich Leo X. auf dem lateranischen Konzil die Lehre des d'Oliva, die Seele sei nicht die forma substantialis, endgültig verdammen ließ.

Ich mag auf die Rolle, die der Formbegriff der Scholastik in der Sakramentenlehre der Kirche spielte, nicht näher eingehen; ich zitiere nur ein Dekret des Papstes Eugen IV.: omnia sacramenta tribus perficiuntur videlicet: rebus tanquam materia, verbis tanquam forma, et persona ministri conferentis sacramentum. Man glaube nicht, daß da unter forma allein die Formel verstanden war, die Beschwörungsformel; wenn auch selbst diese Formeln wieder theologisch unterschieden wurden, je nachdem der Indikativ oder der bittende Imperativ vorgeschrieben war. (Die Katholiken hören: ego te absolvo; die Griechen etwa: Domine dimitte peccata usw.) Nein, die Worte des Priesters waren die forma substantialis, die das Wunder schuf, in der Materie, durch den Priester so wie die forma substantialis im Menschen das Wunder seiner Existenz schuf. Es wäre zwecklos und ziellos, alle Haarspaltereien aufzuführen, durch die die Scholastiker ihren Formbegriff besser zu verstehen glaubten. Wieder nur ein Beispiel: es gab eine forma informans, die wesentliche Form, die etwa als Seele den Menschen, den präformierten, hervorbringt, die im Menschen das Erkennen bewirkt, energiert, informiert (davon auf Umwegen unser Informator); es gab im Gegensatze dazu eine forma assistens, die ebenfalls regierte, aber nicht zum Wesen des Regierten gehörte, wie etwa der Steuermann die forma assistens seines Schiffes war, was wir heute noch in Ausdrücken, wie er ist die Seele des Geschäfts, wiederfinden.

Aus der scholastischen Zeit stammen, außer dem schon zitierten forma dat esse rei, eine Menge canones oder Regeln, die bis tief in unsere Zeit hinein nachgewirkt haben, weshalb es doch vielleicht nicht überflüssig ist, von Zeit zu Zeit an der Scholastik und ihrem Aristoteles Kritik zu üben. Alle diese canones und Schlagwörter laufen auf den Gedanken hinaus, der den Kegel auf den Kopf stellt: die Form, die wir Menschen aus der Wirklichkeit doch erst abstrahiert haben, sei der Schöpfer der Wirklichkeit, – wie wir denn den Gott, den unsere Sprache geschaffen hat, nach unserem Bilde, zum Schöpfer des Menschen gemacht haben. Man lehrte: forma est principium activum, materia est principium passivum; und daraus ging mit scholastischer Evidenz hervor: forma materia est nobilior.

Nicht Descartes, nicht die großen deutschen Denker, die bei aller Kühnheit vom peripatetisch-scholastischen Worte nicht loskommen konnten, haben das Abendland von dieser worthypnotischen Weltanschauung befreit, sondern die Engländer mit ihren Untersuchungen über den menschlichen Verstand, mit ihrer neuen Disziplin der Erkenntnistheorie. Aus Frankreich wäre freilich der große Gegner aller Pedanterie zu nennen, dessen Name in der Geschichte der Philosophie kaum genannt zu werden pflegt. Wieder einmal zitiere ich Molière. Die ganze kleine Burleske »Le mariage forcé« (von 1664) ist, außerdem daß sie ein Klagelied auf die Hahnreischaft der Männer ist, eine köstliche Parodie auf die Scholastik und auf Aristoteles, die beide damals noch mächtig genug waren, um Strafmandate gegen die Neuerer möglich zu machen. In einer Szene, in der tiefste Weisheit mit Clownscherzen vorgetragen wird, will der gelehrte Aristoteliker die Klagen von Sganarelle gar nicht anhören, weil er außer sich ist über eine proposition épouvantable, effroyable, exécrable. Der Satz, der ihn verrückt macht, betrifft just den Formbegriff. N'est-ce pas une chose horrible, une chose qui crie vengeance au ciel, que d'endurer qu'on dise publiquement la forme d'un chapeau? ... Je soutiens qu'il faut dire la figure d'un chapeau, et non pas la forme; d'autant qu'il y a cette différence entre la forme et la figure, que la forme est la disposition extérieure des corps qui sont animés; et la figure la disposition extérieure des corps qui sont inanimés: et puisque le chapeau est un corps inanimé, il faut dire la figure d'un chapeau, et non pas la forme. Oui, ignorant que vous êtes, c'est comme il faut parler, et ce sont les termes exprès d'Aristote dans le chapitre de la qualité. Den nennt der Pedant le philosophe des philosophes. Doch am Ende der Szene ruft Sganarelle-Molière (der Dichter spielte die Rolle selbst) die Worte, die ich wohl schon einmal zitiert habe: on me l'avait bien dit, que son maître Aristote n'était rien qu'un bavard. Wie frei der philosophische outsider Molière da von der Zeitsprache war, erhellt deutlich, wenn man solche sprachkritische Gassenbübereien gegen die kühnsten philosophischen Schriften der Zeit hält; Gassendi, der Wiedererwecker des materialistischen Atomismus (er lehrte ihn vorsichtig, indem er ihn zu bekämpfen schien), kann von den scholastischen Distinktionen (Animadversiones I, 209) nicht loskommen, schlägt sich mit den formae substantiales herum, trotzdem er schon die gute Bemerkung macht, daß Aristoteles seine Beispiele von Kunstprodukten hergenommen habe.

II.

Auf die entscheidende Kritik der Engländer will ich sofort zurückkommen, wenn ich die Scholastik bei Kant und Schopenhauer erst erledigt habe. Denn in der Philosophie verläuft der Weg der Geschichte gern in Spirallinien, und das erschwert eine chronologische Darstellung. Ich weiß nicht, ist es letzte religiöse Tiefe oder unbewußte Unterwürfigkeit bei uns Deutschen: immer, bei Luther, bei Leibniz, bei Kant werden die kühnsten Anregungen des Auslandes ergriffen, energisch weitergeführt, aber endlich nach der Seite einer Metaphysik umgebogen, die von Theologie nur schwer zu unterscheiden ist.

Locke und Hume hatten an dem Formbegriff der Scholastik eine vernichtende Kritik geübt; unserem Kant war es vorbehalten, diese Kritik zu der Forderung einer ganz neuen Philosophie auszugestalten, zu der Forderung der Erkenntnistheorie. Der englischen Negation: die Substanz kennen wir nicht und die Form ist ein sinnloses Wort – wollte er die deutsche Position gegenüberstellen: die Substanz, die wir nicht kennen und die doch existiert, ist das Ding-an-sich; dessen Erscheinung, die wir allein kennen, geht in unser Sinnenleben ein durch die Formen, die apriorisch sind. Solche Formen sind Raum, Zeit und auch Kausalität; und auch die sittliche Welt hat apriorische Formen des Willens. Aber alle strengen Kantianer haben betont, daß diese Formen kein leeres Fachwerk im Gemüte seien (Krug), nicht ein paar unendliche leere Gefäße (Cohen). Mir ist bange: die Formen der Sinnlichkeit und des Willens, die nicht bloße Abstraktionen sein sollen, stammen in Form und Inhalt am Ende doch von den scholastischen formae substantiales ab. Kant selbst hat in seiner Vernunftkritik (1781, S. 266) die Verbindung mit der Scholastik hergestellt. Schulze-Aenesidemus hatte so unrecht nicht, da er (S. 387) diese Erkenntnistheorie Formalismus nannte; nur muß man bei dem Worte nicht an den Formalismus unserer Behörden denken, sondern an die Lehre der Formalisten: daß zwischen den Universalien und den Einzeldingen keine andere Unterscheidung bestehe als die distinctio formalis.

Schopenhauer, der Schüler von Kant und G. E. Schulze, glaubte gewiß den christlichen Geist der Scholastik und ihre wortabergläubische Sprache abgelegt zu haben. Er sieht sehr klar die Identität des Formbegriffs und des Veränderungsbegriffs. »Der allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität ist dieser: jede Veränderung hat ihre Ursache in einer andern, ihr unmittelbar vorhergängigen (Dinge sind Zustände der Materie) ... nur auf Zustände bezieht sich die Veränderung und die Kausalität. Diese Zustände sind es, welche man unter Form, im weiteren Sinne, versteht: und nur die Formen wechseln; die Materie beharrt.« (W. a. W. u. V. II. 49.) Aber diese Zustände verwandeln sich doch unversehens in die alten formae substantiales. Mit arger Etymologie läßt Schopenhauer die Materie Alles aus ihrem Schoße gebären, »weshalb ihr Name aus mater rerum entstanden scheint« (327); und die Form wird gar zum Vater der Dinge gemacht. »Wir können Form ohne Materie vorstellen; aber nicht umgekehrt: weil die Materie, von der Form entblößt, der Wille selbst wäre, dieser aber nur durch Eingehen in die Anschauungsweise unseres Intellekts, und daher nur mittels Annahme der Form, objektiv wird« (350). Alles ganz schön und scheinbar modern, kantisch. Aber die Formen hören doch eigentlich auf, bloß Zustände der Dinge zu sein, wenn sie Objektivationen des Willens sind (wie bei Kant: apriorische Erscheinungsformen des Ding-an-sich); und Schopenhauer wird wirklich scholastisch, wenn er die Formen aus der Materie hervorbrechen läßt: die Formen, Gestalten oder Spezies haben einen zeitlichen Ursprung; aus der Materie »müssen sie einst hervorgebrochen sein; eben weil solche die bloße Sichtbarkeit des Willens ist, welcher das Wesen an sich aller Erscheinungen ausmacht. Indem er zur Erscheinung wird, d. h. dem Intellekt sich objektiv darstellt, nimmt die Materie, als seine Sichtbarkeit, mittels der Funktionen des Intellekts, die Form an. Daher sagen die Scholastiker: materia appetit formam« (352). Schopenhauer bietet selbst ein Beispiel, wie unheilvoll Scholastik noch heute der Naturwissenschaft werden kann. Das Hervorbrechen der Formen oder Spezies, die einzig wahre generatio aequivoca, sei immer noch tätig, neben der Vererbung der Formen durch Fortzeugung. Die Frage sei zwar allein durch Erfahrung zu entscheiden; aber Schopenhauer erklärt die generatio aequivoca »der neuesten Einwendungen dagegen ungeachtet«, für höchst wahrscheinlich, »auf sehr niedrigen Stufen«. »Oder will man lieber, daß auch die Eier der Epizoen stets hoffnungsvoll in der Luft schweben? (Schrecklich zu denken!)« Wir haben uns an diese schreckliche Vorstellung gewöhnen gelernt.

Ich habe nur die beiden stärksten deutschen Philosophen zum Beweise der Nachwirkung von Scholastik in Deutschland anführen wollen. Es widersteht mir, scholastische Äußerungen kleinerer Geister zu sammeln. Nur einige Sätze des Novalis möchte ich noch als abschreckendes Beispiel hersetzen. Sie sind sämtlich den »Fragmenten« entnommen und im III. Bande der Ausgabe von Minor zu finden. »Die reinste Form ist also der Stoff der Form. Der reinste Stoff ist die Form des Stoffes (dies ist nur witzig ausgedrückt) ...« (138). »Der Geist überhaupt ist der reine und empirische Geist. Der reine Geist hat doppelten Stoff und Form« (140). »In Beziehung auf die Materie ist der Geist Form, in Beziehung auf den Geist ist die Materie Stoff, oder vielmehr, beide sind sich Form und Stoff, es kommt nur an, auf welches von beiden man reflektiert, welches man zum Subjekt oder Prädikat macht« (141). »Das Prädikat des Prädikats ist das mittelbare Prädikat, so ist die Form der Form: Stoff; der Stoff des Stoffes: Form« (142). Meine Ablehnung solcher Stellen geht nicht gegen Novalis, eher gegen den herrschenden Alexandrinismus, der sich in Ausgaben von Papierschnitzeln nicht genug tun kann. Der von Novalis selbst herausgegebene »Blütenstaub« hatte schon die Rosinen aus dem Mischmasch herausgelesen; und bot trotzdem so unfertige Gedanken, daß Novalis urteilen durfte: »Als Fragment erscheint das Unvollkommene noch am erträglichsten.« Auf das Meiste, was später hinzugekommen ist, paßt des Novalis anderes Wort über die durchstrichenen Stellen seiner Studienhefte, denen alle diese Fragmente entnommen sind: »Manches ist ganz falsch, manches unbedeutend, manches schielend.«

Doch zurück zu den Engländern, die das scholastische Wortgebäude eingerissen haben, sowie einst ein Engländer dem Wortrealismus des Mittelalters zuerst den notwendig gewordenen Nominalismus entgegenstellte.

Mit vollem Bewußtsein und mit einfacher Kraft hatte schon Locke die Scholastik bekämpft, in dem sprachkritischen dritten Buche seines Essay concerning human understanding, besonders in dem sechsten Kapitel »Über die Namen von Substanzen«. Da stellt er (§ 2) den Begriff des Wortwesens (nominal essence) auf. »So ist z. B. das Wortwesen des Goldes die zusammengesetzte Vorstellung, welche dieses Wort bezeichnet, und es könnte z. B. ein gelber Körper von einer bestimmten Schwere sein, der hämmerbar, schmelzbar und fest wäre. Dagegen ist das wirkliche Wesen des Goldes die Konstitution seiner nicht mehr wahrnehmbaren Teile, von denen diese und alle anderen Eigenschaften des Goldes abhängen.« Das wirkliche Wesen der Dinge ist unerkennbar, das Wortwesen fällt mit den Artbegriffen zusammen. Wir haben die Welt nach den Wortwesen klassifiziert, nicht nach dem wirklichen Wesen, das wir ja nicht kennen. »Unsere Geistesfähigkeiten bringen uns in der Kenntnis und Unterscheidung der Substanzen nur bis zur Zusammenfassung der an ihnen wahrgenommenen Vorstellungen; und wenn wir dabei auch die möglichste Sorgfalt und Genauigkeit anwenden, so bleiben wir doch von der wahren inneren Konstitution, aus der diese Eigenschaften fließen, weiter entfernt, als die Vorstellung des Bauers vor der berühmten Uhr im Straßburger Münster von dem Erfassen ihres inneren Mechanismus entfernt ist, da er doch nur die äußere Gestalt und die Bewegungen sieht« (§ 9). Das verächtlichste Geschöpf, Pflanze oder Tier, bringe den überlegensten Verstand in Verwirrung; die Gewohnheit nehme uns allmählig die Verwunderung, heile aber nicht unsere Unwissenheit.

Ebenso wenig können die Artbegriffe durch die substantiellen Formen bestimmt werden, weil man doch diese noch weniger kennt als das wirkliche Wesen der Dinge. »Man hat gelehrt, daß die verschiedenen Substanzarten ihre bestimmten innerlichen substantiellen Formen haben, und daß in diesen Formen die Unterscheidung der Substanzen nach den rechten Gattungen und Arten stecke; die das gelernt hatten, wurden noch mehr irregeführt, denn sie suchten vergeblich nach diesen völlig unfaßbaren substantiellen Formen, von denen wir kaum, und ganz im allgemeinen, etwas wie eine dunkle und konfuse Vorstellung haben« (§ 10). In diesem Zusammenhange findet Locke das sprachkritische Leitwort (§ 19): so hard is it to show the various meaning and imperfection of words, when we have nothing else but words to do it by.

Um diese Befreiung von dem scholastischen Formbegriff ganz würdigen zu können, vergleiche man mit dieser freien Ausdrucksweise die Abhängigkeit, in der noch kurz vorher Bacon der hergebrachten Terminologie gegenüber stand. (Nov. Organon, II, 2-4.) Der Begründer des Empirismus nennt die Naturgesetze, deren Erforschung er als die wichtigste Aufgabe hinstellt, Formen; er nennt sie so, »weil dies Wort Geltung erlangt hat und gebräuchlich geworden ist ... wer die Formen kennt, der erfaßt die Einheit der Natur in den allerverschiedensten Stoffen ... deshalb folgt aus der Entdeckung der Formen die richtige Vorstellung und die unbeschränkte Macht ... die Form eines Wesens ist so beschaffen, daß auf ihre Setzung unfehlbar das gegebene Wesen folgt (forma naturae alicuius talis est, ut ea posita natura data infallibiliter sequatur).« So schwer war es, sich aus der scholastischen Worthypnose herauszureißen.

Wir werden unsere eigene Hilflosigkeit, unser eigenes Schwanken im Gebrauche einer ewig veraltenden Terminologie (Atom, Energie, Kraft usw.) geduldiger hinnehmen, wenn wir die gleiche Macht der Hypnose oder Suggestion in allen Perioden wirksam finden. Da waren unter den Zeitgenossen und Nachfolgern Bacons die beiden großen Physiker Gilbert und Boyle; Gilbert, der Leibarzt der Elisabeth, der, um 1600, den Erdmagnetismus entdeckt und beschrieben hat; Boyle, der um 1660 schon die Regelmäßigkeiten entdeckte, die man das Mariottesche Gesetz nennt. Und diese beiden bedeutenden Männer schlugen sich Zeit ihres Lebens mit dem Formbegriff herum, den sie in der Philosophie vorgefunden hatten; für Gilbert war das magnetische Feld, das er schon kannte, wegen der Fernwirkung, eine forma prima radicalis et astralis; Boyle mühte sich endlos, den Begriff der forma naturalis von der organischen Welt auf die unorganische hinüberzudeuten. Und beide Männer machten ihre Entdeckungen der scholastischen Sprache zum Trotz. Wie wir die Natur zu beherrschen weiter und weiter lernen, trotzdem wir unter der Hypnose der neuscholastischen Begriffe unserer Zeit stehen.

Das Losringen vom scholastischen Formbegriff ist besonders gut bei Boyle zu beobachten, weil dieser berühmte Physiker und Experimentator sich mit metaphysischen Begriffen herumschlug und (1688) eine Schrift herausgab: De origine formarum et qualitatum. Es ist längst nachgewiesen worden, daß nicht nur Boyles Korpuskulartheorie, sondern auch seine Bewegungslehre und seine ganze Weltanschauung von Gassendis Atomistik abhängig war. Auch die durch Lockes Psychologie so wichtig gewordene Unterscheidung der Qualitäten in primäre und sekundäre findet sich schon bei Gassendi wie bei Boyle. Boyle besonders weiß schon, daß die sekundären Qualitäten erst durch die menschlichen Sinnesorgane zustandekommen. »Die Ansicht, als ob sie objektive Realität besäßen, verdankt ihre Entstehung der Gewohnheit des Menschen, alles, selbst Privationen wie Blindheit und Tod, zu verdinglichen.« Boyle kämpft gegen die scholastischen Versuche, die Accidenzen zu Substanzen umzudeuten; besonders widerwärtig erscheint ihm in diesem Zusammenhange die Lehre von den substantiellen Formen, die ja nach der Angabe einsichtsvoller Peripatetiker kaum zu begreifen war. Die Scholastiker hatten gelehrt, daß die Materie die Form aus ihrer Potenz educiere und dann in sich aufnehme. Wenn z. B. erwärmtes Wasser wieder erkalte, so sei die Kälte so eine educierte Form, das kalte Wasser eine andere Substanz als das warme. Auf diesem Gebiete der Physik hat Boyle die Scholastik völlig überwunden und nachgewiesen, daß die Wissenschaft von dem Gerede über substantielle Formen gar keinen Vorteil habe. Aber Boyle versagt ebenso wie die Scholastiker bei der Erklärung der organischen Formen, wie denn die Atomistik eigentlich nie einen ernsthaften Versuch gemacht hat, den Bau der Organismen zu erklären. Da waren doch die formae subsistentes und die formae informantes wenigstens feine scholastische Distinktionen. Auch die Aufstellung von untergeordneten Formen, d. h. der Formen einzelner Organe und Körperteile, war eine solche gute Distinktion; die Korpuskulartheorie Boyles war ihr gegenüber ganz hilflos; er kann den Formbegriff nicht ganz aufgeben, versteht unter ihm aber bald die drei verschiedenen Seelen der Scholastiker, bald die Lagerung der Atome, aber ohne Organisches und Unorganisches zu unterscheiden.

Die Halbheit von Boyle wird verständlich, wenn man sich erinnert, daß er, der ein Atomistiker sein wollte, den Gottesbegriff nicht aufgeben konnte oder wollte. Und er wußte doch wohl, daß die scholastische Lehre von den substantiellen Formen hauptsächlich durch die Rücksicht auf die Kirchenlehre, auf den Vorgang bei der Eucharistie, beeinflußt war. Wenn Brot und Wein in Fleisch und Blut verwandelt wurde, so mußten substantielle Formen mithelfen, um es faßbar zu machen, daß aus Accidentien Substanzen wurden. Ohne Wunder konnte es dabei nicht abgehen; und Boyle scheint sich gegen das katholische Dogma zu wenden, wenn er die Erschaffung der Formen nicht dem lieben Gotte zuweist, der damit doch allzuviel zu tun hätte. Die Lieblingsbilder Boyles können uns zeigen, daß dieser Atomistiker trotz seiner bedeutenden Leistungen im Grunde nicht über das Weltbild des Aristoteles hinausgekommen war, das immer einen deus ex machina in Bereitschaft hatte und darum dem christlichen Mittelalter so unentbehrlich geworden war. Hinter allen diesen Bildern steckt ein ordnender Verstand. Wie die Buchstaben nach ihrer Anordnung einen verschiedenen Sinn geben, z. B. N A etwas anderes besagt als A N, so wirken auch die Atome verschieden nach ihrer Anordnung. Eine Uhr wird fertig, wenn die Teile zusammengestellt werden und Bewegung hinzukommt; zertrümmert man die Uhr mit einem Steine, so wird nicht Substanz zerstört, sondern nur Form. (Aristoteles hatte für Substanz und Form ebenso oft das Bild vom Marmorblock und der Statue hergenommen.)

Halbheit kann man dem großen Skeptiker nicht vorwerfen, der Locke fortsetzte. Hume, den der ängstliche Mendelssohn mit noch besserem Rechte als seinen Kant den Alleszermalmer hätte nennen dürfen, zerschmetterte denn auch den Formbegriff mitsamt vielen anderen Überbleibseln griechischer Metaphysik. In dem 3. Abschnitt des 4. Teils seines Traktats über die menschliche Natur, welcher Abschnitt überschrieben ist »Von der alten Philosophie«. Zu allerlei nützlichen Entdeckungen könne man gelangen, wenn man die Wahnvorstellungen der alten Philosophie wie Träume behandle und an deren Lehren von den Substanzen, den substantiellen Formen, den Accidentien, den verborgenen Qualitäten, Kritik übe. Hume weiß schon, daß die Vorstellung eines Körpers nichts ist als eine collection, formed by the mind; er weiß auch schon, daß diese vom Menschenverstand geschaffene Einheit Subjektträger der allein wahrnehmbaren Veränderung ist. »Die Einbildung ist geneigt, etwas Unbekanntes und Unsichtbares zu erdichten, von dem sie annimmt, daß es in allen Veränderungen sich gleich bleibe; dieses unfaßbare Etwas nennt sie Substanz oder originale, erste Materie.« Dieses Produkt der Einbildung hat es leicht, in allen Körpern die gleiche Substanz zu sein; da die Körper aber offenbar verschieden sind, so muß irgend eine Ursache der Verschiedenheit da sein: die substantiellen Formen. Ich glaube Hume nichts unterzulegen, wenn ich aus seinen Worten ein Lachen heraushöre: die Phantasie legt zuerst in alle die verschiedenen Dinge der Wirklichkeit eine gemeinsame Substanz hinein, und dann muß dieselbe Phantasie sich wieder mit Hilfe der substantiellen Formen anstrengen, die Wirklichkeit aus der gemeinsamen Substanz herauszuziehen. Hume hat die Kühnheit, diese Art, Substanzen, substantielle Formen und ferner Accidentien zu erfinden und zu sehen, eine Gewohnheit zu nennen, »wie die Gewohnheit, die dem Gedanken der ursächlichen Verknüpfung zugrunde liegt.« Unfaßbare Chimären nennt er diese Begriffe und dazu die qualitates occultae. (Von einem ens Chimärae hatte Spinoza gesprochen.) Nur die Scholastiker und Peripatetiker forschen nach dem Inhalt solcher Begriffe, in einem geistigen Zustande, »von dem uns die Dichter in ihren Beschreibungen der Bestrafung des Sisyphus und Tantalus nur einen schwachen Begriff gegeben haben.« Die gute Natur ist nicht erbarmungslos gegen diese Philosophen; sie hat ihnen, wie den andern Geschöpfen, ein Trostmittel gegeben, das große Trostmittel der Erfindung von Wörtern. »Es geschieht häufig, daß wir nach öfterem Gebrauch sinnvoller und verständlicher Wörter sie verwenden, ohne die zugehörige Vorstellung damit zu verbinden ... Es geschieht aber auch, und zwar ganz naturgemäß, daß wir nach dem häufigen Gebrauche von Worten, die gänzlich nichtssagend und unverständlich sind, wähnen, es verhalte sich bei ihnen ebenso wie bei jenen sinnvollen Worten, daß wir ihnen demnach gleichfalls einen verborgenen Sinn zuschreiben, den wir durch Nachdenken meinen entdecken zu können.« Ein anderes Beispiel ist der horror vacui. Der menschliche Geist hat die Neigung, äußern Gegenständen menschliche Gefühlserregungen beizulegen. »Diese Neigung wird freilich durch ein wenig Nachdenken unterdrückt; sie besteht aber noch bei Kindern, bei Dichtern und bei den alten Philosophen.«

III.

Hume hat also das alte Gespenst der substantiellen Formen gebannt. Wir brauchen diese Wortleiche in dem Organismus unserer Sprache nicht weiter mitzutragen; wir können sie begraben. Haben wir es darum wirklich so herrlich weit gebracht, wie es aus Rektoratsreden uns heute entgegenklingt? Verstehen wir den Begriff Form, der unserer gemeinen und wissenschaftlichen Sprache nach wie vor angehört, so viel besser als die Scholastiker, die wir verlachen, ihn verstanden haben? Ich will nur kurz zu zeigen versuchen, daß auch unsere Sprache diesen Begriff weder los werden noch meistern kann.

Zwar die Gemeinsprache verbindet mit dem Begriff eine ganz plane Vorstellung. Ich habe schon bemerkt, daß im Deutschen das alte Fremdwort jetzt fast volkstümlicher geworden ist als die schriftdeutsche Übersetzung Gestalt, die kaum 400 Jahre alt ist.3

Beide Worte gehen auf die räumlichen Beziehungen der Dinge, doch (nach meinem Sprachgefühl) so, daß nicht die dreidimensionale Ausdehnung, sondern vielmehr das zweidimensionale Bild gemeint ist, durch welches unser Malerauge (das Auge ist immer ein Maler) die Körper wahrnimmt. So daß die wortgeschichtliche Verbindung mit ε ἰδος, ε ἰδωλον wieder hergestellt ist. Aber in der wissenschaftlichen Sprache muß diese plane Vorstellung sich manche metaphorische Änderung gefallen lassen. Wir sprechen von Formen in der Geometrie, in der Ästhetik und in der organischen Naturwissenschaft; und in allen drei Disziplinen reicht die räumliche Vorstellung der Gemeinsprache nicht aus.

Die geometrischen Formen scheinen, ob nun ein-, zwei- oder dreidimensional, dem gemeinsprachlichen Begriffe am nächsten zu kommen. Eine Gerade, ein Quadrat, ein Würfel werden auf den Raum bezogen. Aber die einfachsten wie die schwierigsten geometrischen Formen führen mit sich Folgerungen ihrer Form, Korrelate ihres Seinsgrundes, die sich weit erheben über die Gestalt, die das malende Auge an ihnen wahrnimmt. Die Entdeckungen, die man immer wieder an diesen Formen gemacht hat, diese untrüglichsten aller Naturgesetze, diese reizenden und oft verblüffenden Formgesetze, konnten bei ihren Entdeckern, von Pythagoras bis auf die Gegenwart, einen Freudenrausch erzeugen, der dem Rausch über ästhetische Formen, der dem Rausch über die teleologischen Formen der Tier- und Pflanzenwelt nichts nachgibt. Nun sind allein die Beweise für diese Naturgesetze der geometrischen Formen Menschenwerk, subjektiv, Verstandesarbeit; die Gesetze selbst sind objektiv, haben vor dem Auftreten des Menschen in der Gestaltung der Himmelskörper und ihrer Bahnen, in der Kristallbildung usw. gewirkt. Die Gesetze stecken in den Formen, die Formen haben es in sich. Und so müßten wir, wenn die Mode nicht veraltet wäre, die geometrischen Formen, weil in ihnen Gesetze stecken, formae substantiales nennen. Und die Sprache versagt, wenn wir, ernsthaft und unscholastisch, an den räumlichen Erscheinungen der Geometrie Form und Inhalt trennen wollen.

Die ästhetische Form entfernt sich schon etwas weiter von dem Formbegriff der Gemeinsprache. Zwar ist in dem bildenden Künstler die Form dem nahe verwandt, was das malende Auge des einfachsten Menschen an den Dingen als Form erblickt; und wenn man in der Musik von Form redet, so ist das eine geläufige Metapher, wie denn alle Zeitbegriffe sich nur durch Raumbegriffe ausdrücken lassen. Neu, und über den Reiz der geometrischen Gesetze hinausgehend, ist es, daß die Formen, von denen wir als Ästhetiker reden, uns schön erscheinen können. Und die Ästhetik soll die Lehre sein von den schönen Formen. Ich habe es als Student (bei Volkmann, der ein Schüler Herbarts war) nicht anders gelernt: die Ästhetik, und die Ethik dazu, ist eine formale Wissenschaft und beruht auf Werturteilen, die (was ich nicht verstanden habe) nur der Form gelten. Eine Ästhetik von oben, der Fechner mit geistreichem Spotte eine Ästhetik von unten gegenübergestellt wissen wollte. Auf die Spitze getrieben, sagt diese Lehre: die Form allein ist schön, jede Form ist schön (formosus = schön; ungestalt, was nicht gestaltet ist, keine Gestalt hat = unschön). Was formlos ist, das gehört nicht in die Ästhetik, noch nicht; denn formlos ist ja nur ein relativer Begriff, wie der Marmorblock, als Würfel z. B. oder als Parallelepipedon, nur in Beziehung auf die herauszuhauende Statue formlos heißt.

Herauszuhauen. Man hört doch das Zukünftige, die gestellte Aufgabe aus der Wortbildung heraus? Und unzählige Male haben Bildhauer, Heraushauer im formlosen Block die geformte Statue zu erblicken geglaubt, die darin steckte; viele plastische Werke lassen sich aus dem vermeintlich Formlosen, d. h. aus der Zufallsform des rohen Blocks erklären, lange vor Rodin; auch Erzbilder müssen ihre Gestalt gewinnen nach den Gesetzen, also nach den Formen des flüssigen und des erstarrten Erzes.

Aber es gibt eine Kunstform, in der Form und Inhalt noch enger aneinander geknüpft sind: die Poesie oder Wortkunst. An der scheint mir die formale Ästhetik noch gründlicher zu versagen, als an den bildenden Künsten und an der Musik. Die Formalisten auf diesem Gebiete, die sich neuerdings Ästheten nennen, verzichten auf Inhalt und haben es fast so weit gebracht wie die Dichterlinge des 17. Jahrhunderts, die Verse in Eiform oder ähnlich drucken ließen. Goethe, der doch etwas von der Sache verstand und der viel über das Verhältnis von Inhalt und Form gedacht hat, sagt (Spr. i. Prosa 119): »Es werden jetzt Produktionen möglich, die null sind, ohne schlecht zu sein; null, weil sie keinen Gehalt haben; nicht schlecht, weil eine allgemeine Form guter Muster den Verfassern vorschwebt.« Und (723): »Die Form will so gut verdaut sein als der Stoff; ja, sie verdaut sich viel schwerer.« Und (»Über den sog. Dilettantismus«): »Man kann ganze Bücher lesen, die schön stilisiert sind und gar nichts enthalten.«

Die formale Ästhetik und der Ästhetizismus haben es so weit gebracht, daß allen Ernstes die Frage aufgeworfen werden konnte, ob das Porträt, dieses Urphänomen der bildenden Kunst, ähnlich sein müsse oder nicht. Ein genialischer Maler, dessen neueste Porträtleistung ich unähnlich gefunden hatte, antwortete mir gereizt: »Woher wissen Sie denn, daß Rembrandts Bildnisse ähnlich waren?« Der junge Mann ahnte sicherlich nicht, daß er da formale Ästhetik trieb, die Form vom Gehalt oder Inhalt löste, und sich mit der leeren Form begnügen wollte. Denn der Ausdruck, der Gesichtsausdruck, setzt sich ja für das malende Auge des Botokuden wie des Künstlers aus Formen zusammen, und es ist sinnlos, etwas ein Porträt zu nennen, das den Gehalt ohne die Form geben will. Die Form des Gesichtsausdrucks hat den Charakter, die Persönlichkeit in sich. Oder umgekehrt. Die Form des Gedichts, des Dramas, der Sonate hat den geistigen, stofflichen, seelischen (wie man will) Inhalt ihres Kunstwerks in sich. Oder umgekehrt. Die Sprache versagt, wenn wir an den Werken der schönen Künste Form und Inhalt trennen wollen. Und wieder müßten wir, wenn die innere Sprachform oder der Sprachgebrauch nicht gewechselt hätte, die ästhetische Form, weil sie das Kunstwerk beherrscht, eine forma substantialis nennen.

Nur daß das ästhetische Gesetz nicht ewig ist, wie das geometrische, nur daß der Begriff der Schönheit dem unterworfen ist, was man in diesem Zusammenhang nicht gern Mode nennt. Der Begriff der Schönheit wie der der Sitte. Gute Formen hat, wer das gegenwärtige Benehmen der guten Gesellschaft kennt und übt; schöne Formen sind die Verhältnisse, die jetzt gefallen.

Nicht anders steht es um die Anwendung des Formbegriffs in der Naturwissenschaft von den Organismen, wobei freilich durch das Fremdwort Morphologie die Gleichheit des gemeinsprachlichen Ausgangspunktes verschleiert wird. In systematischen Büchern werden freilich Morphologie und Biologie hübsch auseinandergehalten; die ganze Arbeit der letzten Jahrzehnte behandelt aber die Frage, ob Morphologie auf Genealogie zurückzuführen sei. Formähnlichkeit auf Blutsverwandtschaft. (Haeckel sagt natürlich Formverwandtschaft, was erstens ein Unsinn ist und zweitens die Antwort vorwegnimmt.) Für den Standpunkt der Sprachkritik ist selbstverständlich die Opposition der Kirche gegen Darwin sinnlos. Damit soll der Darwinismus aber noch nicht für ein Dogma erklärt werden. Er war nur ein großzügiger Versuch, ein mißglückter Versuch, den anthropomorphischen Zweckbegriff aus der Erklärung der Organismen zu entfernen. Die Aufgabe ist gestellt, gelöst ist sie nicht. Wir können nicht umhin, die Einheiten, die wir Organismen nennen, nach wie vor zweckmäßig zu finden in ihrem Bau. Wir wissen, wovon die Metapher Bau hergenommen ist; wir wissen eigentlich nicht, wovon die Metapher Zweck hergenommen ist. Homologe Bildungen, wie die Vorderfüße der Säugetiere und die Flügel der Vögel, analoge Bildungen, wie die Flügel der Vögel und der Schmetterlinge, sind beide zweckmäßig gebaut; Vererbung will die Homologie erklären, Anpassung die Analogie. Immer aber nimmt das organische Wesen eine zweckmäßige Form an, und die Form macht die Art. Genau so haben es die Scholastiker ausgedrückt, als ihre forma substantialis noch die Art schuf. Und wieder versagt die Sprache, wenn wir an den Organismen Form und Wesen trennen wollen.

Man mache sich doch klar, daß die unablässigen Bemühungen der Forschung, die alten und künstlichen Klassifikationen der organischen Welt durch neue und natürliche Klassifikationen zu ersetzen, über eine Ordnung der Formen niemals hinausgelangen können. »Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit der provisorische Charakter jeder klassifikatorischen Begriffsbildung.« (Sigwart, Logik² II. 232.) Die Gemeinsprache hat die ersten rohen Klassifikationen geschaffen; es ist ein weiter Weg von der gemeinsprachlichen Bezeichnung der bekanntesten Pflanzen und Tiere bis zu dem System, das heute Pflanzen- oder Tierformen ordnet; aber auf diesem weiten Wege ist man ja niemals über Beschreibung und Vergleichung von Formen hinausgelangt. »Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist.« Wir verlassen uns darauf, daß den biologischen Formen Gesetze zugrunde liegen, sehr viel strengere Gesetze als der Ästhetik, minder strenge als der Geometrie; aber alle Arbeit der letzten Jahrhunderte, alle Hilfsarbeit der Chemie und des Mikroskops, konnte doch nur gehen auf Formen, auf makroskopische und mikroskopische Formen, auf Organe, auf Gewebe, auf kaum mehr sichtbare Eiweißkörperchen, niemals auf das, was den ganzen Organismus ausmacht. Niemals auf die organischen Einheiten.

Und da habe ich das Wort gebraucht (Einheit), das das Rätsel der Beziehung zwischen Stoff und Form mir lösen müßte, wenn ich so glücklich wäre, an die Hilfe von Worten zu glauben. Eine kleine Befreiung von dem alten Gegensatze steckt aber doch vielleicht in dem Einheitsbegriff.

Wir nennen ja Stoff, was an sich ohne eigene Einheit ist, was nur an fremden Einheiten gemessen werden kann. (Ich weiß, daß ich da Einheit in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht habe; die Sprache will es so.) Form nennen wir, was eine eigene Einheit hat, in sich selbst oder in der Auffassung des Beobachters, objektiv oder subjektiv. Wo wir an unorganischen oder organischen Dingen (die Idee geht also über die organische Welt hinaus) Formen wahrzunehmen glauben, von Formen sprechen oder Formen empfinden, da empfinden oder sehen wir Einheiten; und die Einheiten der organischen Welt sind nicht menschliche Erfindungen, sind wirklich Einheiten. Einheit des Organismus sagt gar nichts anderes als: Einheit der Form. Und Einheit ist es auch allein, was uns in der Geometrie und in der Ästhetik von Formen reden läßt; in der Geometrie heißt diese Einheit Gesetz, in der Ästhetik heißt sie Harmonie.

Noch einen Schritt weiter möchte ich zu gehen wagen, weil ich doch weiß, daß das lösende Wort Einheit selbst ein neues Rätsel ist. Aber ich kenne ja die Ursache jeder Einheit, der Ureinheit im menschlichen Ich und der Einheit in den Organismen. Die Ursache, die gemeinsame, ist das Gedächtnis. Ich habe gelehrt: das Ichgefühl ist eine Selbsttäuschung; das Ichgefühl oder die Einheit des Selbstbewußtseins wird erzeugt durch das individuelle Gedächtnis, das Sinneseindruck nach Sinneseindruck auf einen Faden reiht, bis der Faden abreißt, und ich wüßte nur nicht zu sagen, ob der Faden etwas anderes sei als die Tätigkeit selbst des Aufreihens, als das innere Leben selbst, das seine Erlebnisse doch nur einmal hat und nicht noch ein zweitesmal, – als die Einheit des Ichs. Dieses einigende Gedächtnis ordnet die erlebten Eindrücke in der Zeit und schafft so außer der Einheit des Selbstbewußtseins auch die Einheiten oder Formen des innern Lebens, die psychischen Formen.

Und wir wissen, daß es wieder das Gedächtnis ist, das ererbte Gedächtnis der Art, das mit wunderbarer Gleichmäßigkeit die Einheiten oder Formen schafft, die wir Organismen nennen. Da ordnet das Gedächtnis im Raume, äußerlich. Ich bin nur bange, weil die Zeit und der Raum ohne auffallenden Widerspruch selbst wieder die Formen des innern und des äußern Sinnes genannt worden sind. Was kann das sein, was diese Formen geschaffen hat, wenn sie wirklich Formen genannt werden dürfen? Und ich bin bange, weil ich nicht sagen kann, was für eine Art Ursache, was für eine Kraft, kurz, was überhaupt dieses allmächtige Gedächtnis eigentlich ist. Und weil die Sprache außer von der Einheit des Selbstbewußtseins und von den organischen Einheiten sehr häufig, ja die Gemeinsprache fast ausschließlich, von numerischen Einheiten redet, von dem Prinzip alles Zählens, von einer Einheit also, die nicht objektiv ist, die von den Menschen in die Wirklichkeitswelt hineingelegt ist, aber willkürlich, zufällig. (Vgl. Art. Einheit.) Wo man dann einem Atom, dem Weltall, einem Steinhaufen, einem Baume, einem Walde, einem Rudel Tiere, einer Herde, einem Volke, einem Staate usw. den Einheitsbegriff beilegt. Historisch könnte man diese Einheiten nennen, die des Steinhaufens, die der Herde und die des Staates. Es will mir aber scheinen, als ob der Mensch auch diese historischen Einheiten nur begreife, indem er ihnen metaphorisch den Charakter innerer oder äußerer Formen verleiht. Woher es kommen mag, daß man hinter diesen historischen oder zufälligen Formen oder Einheiten Gesetze gesucht und natürlich auch gefunden hat: »ein Steinhaufen ist unten breiter als oben«; »auf die Revolution folgt Militärdespotie«.

Die Sprache muß, wenn sie von den Dingen der Wirklichkeitswelt sprechen will, diese Dinge, auch die innern Erlebnisse und die zufälligen, unorganischen Anhäufungen, ordnen, begrifflich ordnen, nach Analogie der organischen Formen oder Einheiten, die vom Artgedächtnis zweckmäßig geschaffen worden sind. Die Sprache könnte sich ohne natürliche oder künstliche Formen in der Welt nicht orientieren. Und Orientierung ist der einzige Zweck der Sprache, ungefähre Orientierung. Die Sprache hat den Formbegriff sogar auf sich selbst angewendet und nennt die orientierenden Analogien Sprachformen. Wer die Weisheit oder die Bescheidenheit der Sprache zu bewundern geneigt wäre, der könnte übrigens daran erinnern, daß die Sprache außer von Sprachformen auch von einer Sprache der Formen redet, von einer stummen Sprache der organischen Formen, die uns nach dem Glauben frommer Menschen die Geheimnisse der Natur verrät. Es ist nicht wahr. Und spräche die Natur, spräche sie nicht unsere Sprache.

Spräche die Natur, so würde sie am Ende sich selbst, wie wir es mit ihr tun, in Stoff und Form zerspalten. Wir aber sind jetzt doch weit genug gekommen, am Ende dieser Untersuchung, die Unfaßbarkeit des uralten Begriffspaars Stoff und Form einzusehen. All unser Denken oder Sprechen kann an die Wirklichkeit nur heran, indem wir sie nach Begriffen oder Einheiten oder Formen ordnen. Wie sollen wir nun an den Stoff heran, den ungeformten, wenn Formen das alleinige Mittel der Sprache sind? Wirklich, es geht nicht. Alle Versuche, sich in der Welt zu orientieren, lassen sich in zwei Gruppen zerlegen: man ordnet die Welt entweder in Formen oder in Atome. Die Atome allein entsprechen dem Stoff, und die Atomenhypothese wird darum mit Recht die materialistische Weltanschauung genannt. Das Atom ist aber (vgl. Art. Atom) unvorstellbar, ein Scheinbegriff, wenn nicht ein Formbegriff mitverstanden wird. »O vis superba formae«, so endet Johannes Secundus sein achtes Basium; und Goethe hat den verliebten Ausruf als »ein schönes Wort« in seine Sprüche eingetragen.


  1. Das Wort formal hat, in Abhängigkeit vom Wechsel der Anschauungen in letzten philosophischen Fragen, seinen Sinn ins Gegenteil verkehrt. Noch Walch erklärt (1740), das Wort zeige diejenige Beschaffenheit einer Sache an, sofern sie die Sache ist, die sie sein soll; es bedeute das eigentliche Wesen eines Dinges; das Formale eines Hundes ist, daß er bellt. Von etlichen Brettern könne man sagen, hier wäre ein Tisch materialiter, aber noch nicht formaliter; noch nicht das Wesen, das zu einem Tisch erfordert wird. Einen andern Gegensatz bildete damals virtualiter; z. B.: der Fürst kann nicht überall formaliter zugegen sein, in seiner Wirklichkeit oder Wesenheit, sondern nur virtualiter, durch seine Bedienten.
  2. Der Terminus το τι ἠν εἰναι hat den Geschichtschreibern der Philosophie viel Kopfzerbrechen gekostet. Mit der Pennälerübersetzung »das Was-war-sein« ist nichts anzufangen. Der Ausdruck ist zur Not zu verstehen, dem Sinne nach, aber weder zu übersetzen noch grammatikalisch in eine andere Sprache umzudeuten. Wenn Überweg-Heinze (I.⁹ 251) das τι ἠν für einen possessiven Dativ erklärt, so verstehe ich das weder mit deutschem noch mit griechischem Sprachgefühl. Cohen erinnert (Logik, S. 27) mit Recht an die Sokratische Frageform und nimmt an, daß was war an Stelle von was ist tritt, weil der Grund des Seins jenseits der Gegenwart gelegt werde; das ist eine Deutung, aber keine grammatische Erklärung. Wenn ich mich in die Sprache des Aristoteles einzufühlen suche, glaube ich dem Terminus doch etwas näher zu kommen. Mit Hilfe des (Goethe nennt es so, Sprüche in Prosa 563) pathetischen Judendeutsch, an dessen Rabulisterei die Philosophensprache der Griechen oft genug erinnert. Man denke an das mauschelnde: »er ist gekommen zu gehen«. Nach diesem Muster könnte man το τι ἠν εἰναι ziemlich genau wiedergeben mit: was da ist gewesen zu sein. Wobei philologisch streng daran zu erinnern wäre, daß die griechische Sprache so ein pleonastisches εἰναι gar wohl besitzt, z. B. το ἐπ' ἐμοι εἰναι, soviel an mir liegt. Ich will damit die alte Legende, Aristoteles sei ein Jude gewesen, wahrlich nicht verteidigen.
  3. Das Adjektiv gestalt ist sehr alt im Sinne von bestellt, bestimmt; der Substantiv Gestalt im Sinne von Art, Beschaffenheit ist ebenso alt; neuer schon die Übertragung auf jede äußere Erscheinung eines Dings, selbst auf die Farbe, ferner auf den äußeren Schein, wo das Wort im Sinne von Bild als Übersetzung von imago auftritt. Der jetzige Gebrauch, der alle Bedeutungen von Form durch Gestalt wiedergeben kann, wird erst seit der Lutherzeit allgemein.