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Geschichte

I.

Mit einem Strome ist oft die Geschichte eines Menschen verglichen worden; nie schöner als von Goethe in »Mahomets Gesang«:

Und so trägt er seine Brüder,
Seine Schätze, seine Kinder
Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz.

Und im »Gesang der Geister über den Wassern«:

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

Und auch mit der allmächtigen Zeit ist der Strom verglichen worden. Hat man es schon bemerkt, daß – schulmeisterlich gesprochen – das tertium comparationis in beiden Fällen ein ganz andres ist?

Vergleicht einer den Strom mit der Zeit, so sitzt er am Ufer, sieht die Wasser in ewigem Einerlei vorüberfließen, macht keinen Unterschied zwischen den Wassertropfen, empfindet selbst das Schwellen und Abschwellen im Flußbette nur wie einen Stimmungswechsel, bei dem ja auch die Zeit zu schwellen und abzuschwellen scheint.

Vergleicht einer den Strom mit einem Menschenleben, so versetzt er sich mitten ins Wasser, an den Ursprung, und fließt mit dem Wasser hinab über Klippen und Kiesel, durch Sand und Blumen, vorbei an Wäldern und Städten dem Ozean zu.

Wer nun den Strom mit der Geschichte der Menschheit vergleichen wollte, mit der Geschichte, der müßte beide Standpunkte zugleich einnehmen können. Am Gegenwartsufer sitzend die ganze erfüllte Zeit betrachten; die mit allen Ereignissen der Vergangenheit erfüllte Zeit. Und da würde sich herausstellen, daß der Strom ein schlechtes Bild der Geschichte ist, weil er selbst all in seiner Größe nur ein winziger Bruchteil der Geschichte ist; eine Geschichte hat, eine geologische, ja – was wissen wir? – vielleicht eine elementare Urgeschichte aus der Vorzeit, da Wasser wurde. Will ich Geschichte erfahren und sitze betrachtend am Gegenwartsufer, so fließt alles unterschiedslos an mir vorüber und ich erlebe nicht Geschichte, nur die Zeit. Schwimme ich aber mit meinem Wassermilieu von der Quelle bis zum Ozean, so erlebe ich nur mich; erlebe mich von der Geburt bis zum Tode, erfahre aber nichts von der Zeit, nichts von dem Gewässer vor und hinter mir. Wollte ich Geschichte erfahren, so müßte ich zugleich am Gegenwartsufer sitzen und allgegenwärtig, in jedem Tropfen zugleich, den Strom hinunterfahren bis in den Ozean, wieder hinaufschweben zu den Wolken und wieder hinunterprasseln auf die Marmorfelsen, allgegenwärtig und ewig. Das wäre etwa das Ideal: die Geschichte als eine Wissenschaft.

II.

Die Sprache ist das Gedächtnis der Menschen oder ihre Vernunft, das Gedächtnis kleinerer oder größerer Menschengruppen, das Gedächtnis für alles, was Aufmerksamkeit oder Interesse erregt hat. Geschichte ist so ungefähr der Teil des Gedächtnisses, der sich auf Dinge bezieht, die geschehen sind. Die Auswahl wird wieder vom Interesse getroffen, ein Werturteil also entscheidet über die Merkwürdigkeit. Am Ende wird auch in der Geschichte nicht alles erzählt, was je geschehen ist; nur was bald diesem, bald jenem würdig scheint, durch das Gedächtnis der Vergangenheit entrissen, gemerkt zu werden. Merkwürdigkeiten ist aber nur eine alte Lehnübersetzung von memorabilia (die feinere Übersetzung Denkwürdigkeiten faßt denken als sich erinnern), und Memorabilien übersetzt ebenso getreu den griechischen Büchertitel ἀπομνημονευματα.

Die deutsche Sprache hat allein unter den modernen Kultursprachen ein eigenes puristisches Wort für diese Seite des Menschengedächtnisses geschaffen. Cicero definiert: historia est res gesta, sed ab aetatis nostrae memoria remota. Über 1000 Jahre lang waren res gestae oder kurz gesta beliebte Büchertitel für Sammlungen solcher Geschichten, für Geschichtenbücher. Dieses res gesta wurde schon früh im Mittelalter (bei Notker) mit diu gaskiht wiedergegeben. Ein Vokabular von 1482 erklärt noch: »geschicht oder geschehen ding, historia, res gesta«. Noch unterschied man zwischen den Geschichten, d. i. den berichteten Ereignissen, und dem Berichte, der Historie nicht. Seb. Franck sagt einmal geradezu (1538): die historie der geschicht der Apostel. Die Geschichten waren also immer in der Mehrzahl; und Johannes Müller, der archäistischen Stil liebte, nannte, wie Macchiavelli seine Istorie fiorentine (um ein bekanntes Beispiel aus vielen hervorzuheben), noch 1786 sein berühmtes Geschichtswerk »Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft«. Auch gab es damals noch den Titel: professor historiarum. Damals hatte sich aber Form- und Bedeutungswandel schon vollzogen. Der Singular hatte häufig (man vergleiche das D. W.) die Form das Geschicht angenommen, der Plural hieß die Geschichte, und nun vertauschte die innere Sprachform oder der Sprachgebrauch den Plural des Neutrums mit dem Singular des Femininums, besonders wenn die Geschichten zusammengehörten, wenn die Geschichten die Denkwürdigkeiten einer Stadt, eines Volkes oder gar des Menschengeschlechtes erzählten. Erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts kam das auf, und die erste Buchung, die mir bekannt ist (1634), hat noch sehr charakteristisch die Wortfolge »die historische Geschichte« (»Das Wort Geschichte und seine Zusammensetzungen« von Paul E. Geiger). Im 18. Jahrhundert werden bei uns die Worte Historie und Geschichte immer mehr gleichbedeutend, und heute ist Historie von Geschichte fast völlig verdrängt, während die Adjektive historisch, unhistorisch immer noch eine gelehrte Nuance vor geschichtlich voraushaben und das geschichtsgelehrte Mitglied der philosophischen Fakultät, das oder der es nicht zum Geschichtsschreiber gebracht hat, sich getrost einen Historiker nennen darf. Ich habe die Wortgeschichte (auch Wortgeschichte ist schon eine Disziplin geworden) des deutschen Wortes Geschichte hervorgehoben, weil sie besser als die internationale Bezeichnung lehrt: Geschichte sei mehr ein Büchertitel als eine Wissenschaft. Es ist nicht alles Wissenschaft, was eine Disziplin ist.

Die Überschätzung der Geschichte als Wissenschaft hat eine kurze Geschichte von ungefähr 100 Jahren hinter sich. Am Ende des 18. Jahrhunderts setzte mit Kant die Sehnsucht ein nach einer künftigen Universalgeschichte oder Weltgeschichte der Menschheit; Schiller popularisierte den Gedanken mit seiner glänzenden Rhetorik, und flinke Federn hielten sich bald für berufen, den Zukunftstraum auszuführen und Weltgeschichten zu schreiben. Ewiger Friede und Kosmopolitismus oder Weltbürgertum war das Ideal dieser Weltgeschichtschreibung.

Schiller war so viel kleiner als Kant und doch zugleich um vieles freier. Bei Kant geht der Riß, der durch sein ganzes Denken geht, auch durch die Geschichtsauffassung. Man sollte es doch aufgeben, den Riß überkleistern zu wollen. Der größte Architekt des Denkens, der je gelebt hat, und dennoch anhänglich, nein, treu seinem Kinderglauben. Daß solche Gegensätze in einer imponierenden Persönlichkeit möglich seien, hätte man vor Kant leugnen dürfen; die Möglichkeit zu leugnen, nachdem diese Persönlichkeit gelebt und gebaut hat, ist doch gar zu töricht.

Was Leibniz geplant hatte, diplomatisch und gefällig, die Vereinigung von Rationalismus und ein bißchen Glauben, das war in Kant unerhörter Ernst geworden. Kants starke Tat war kritische Reinigung des Rationalismus. Aber niemals verzichtete er, der alle Teile seines Systems für gleichwertig hielt, auf den Begriff des Sollens. Normen stellte er auf auf allen Gebieten. Und vielleicht unterstreiche ich und übertreibe ich damit, was Kant nicht gern scharf unterschieden hätte, wenn ich hier die Notiz über seine Lebensarbeit (aus dem Briefe an Stäudlin von 1793) wiedergebe: »mein ... Plan ... ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1. was kann ich wissen (Metaphysik), 2. was soll ich tun (Moral), 3. was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die 4. folgen soll: was ist der Mensch (Anthropologie).« Geschichte war für Kant ganz logisch ein Anhängsel der Anthropologie. Der einzelne Mensch interessierte ihn psychologisch; erst die Gattung Mensch konnte eine Geschichte haben, weil sie eine »Bestimmung« hatte. Eng scheint mir diese Betrachtungsweise mit der Frage nach Kants Stellung zu Optimismus und Pessimismus zusammenzuhängen. Über den einzelnen Menschen urteilt er hart, oft grimmig genug; aber der Mensch als Gattung muß gut sein, weil er sonst seine Bestimmung nicht erfüllen könnte. Kant ringt mit seinem Gott um die Menschheit; aber sein metaphysisches Bedürfnis ist bedeutend stärker als sein historisches. Am liebsten möchte er sein System allein vollenden, alles allein machen, seinen Nachfolgern nichts zu tun übrig lassen. Aber er hat keine Zeit mehr, eine neue historische Methode zu ersinnen, und ohne Methode kann Kant nicht bauen, darum nur gelegentliche Beschäftigung mit den Problemen der Geschichte, darum ein Riß, der nicht einmal aus dem großen Topfe von Kuno Fischer zu überkleistern war. Kant sieht mit seiner ganzen Klarheit und Schärfe das Individuelle, Zufällige, Irrationale in allen einzelnen geschichtlichen Tatsachen, dennoch hat die Geschichte als Ganzes für ihn einen sittlichen Endzweck, er sieht eine Idee in der Geschichte, und wie vor ihm schon freier Voltaire und Lessing, bemüht er sich dann und wann, die einzelnen Tatsachen in der Geschichte über den Kamm des sittlichen Endzwecks zu scheren, über den Kamm der Idee. Nur war er und blieb er immer Kant genug, um die Möglichkeit einer Einsicht in diese Geheimnisse zu leugnen; da war die kausale Notwendigkeit alles Geschehens, da war der sittliche Endzweck; wir müssen uns damit begnügen, die Geschichte so zu betrachten, als ob sie der Verwirklichung des ethischen Vernunftzweckes diene. (Vgl. Art. Bestimmung.)

Man sollte freilich niemals vergessen, aus welcher Zeit Kants Gedanken über irgendeinen Gegenstand stammen. Sein Ringen mit Gott um die Menschen als Ganzes fällt schon in die Greisenjahre, deren furchtbaren natürlichen Einfluß auf seine Geisteskraft niemand deutlicher gesehen hat als Kant selbst. Er tröstet den leidenden Garve; sein (Kants) Los sei doch noch schmerzhafter; »nemlich für Geistesarbeiten bei sonst ziemlichem körperlichen Wohlsein wie gelähmt zu sein: den völligen Abschluß meiner Rechnung in Sachen, welche das Ganze der Philosophie betreffen, vor sich liegen und noch immer nicht vollendet zu sehen, ... ein tantalischer Schmerz«. (21. IX. 1798; vgl. dazu E. Tröltsch: »Das Historische in Kants Religionsphilosophie.«) Was der Mensch kann und soll, das hatte Kant nach eigener Meinung gleich gut ausgeführt; was der Mensch drüben hoffen darf, was er ist und war, das war noch nicht erledigt, wohl auch durch äußere Umstände zurückgedrängt. Und der alte Schüler Wolfs, der im Grunde seines Lehrers Meinung teilte (»da die historischen Schriften bloß erzählen, was geschehen ist, so braucht es nicht viel Verstand und Nachdenken, dieselben zu lesen«), verfaßte nun doch im Hinblick auf die liebe Menschheit als Ganzes seine »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«.

Schillers Paraphrase dieser Kantischen Schrift ist um ihres rhetorischen Schwungs willen gewiß lobenswert. Eigentlich aber ist es eine entsetzliche Zumutung, daß wir dieses abgequälte »Instrument zu besserer Versorgung« offiziös behandeln und ernst nehmen sollen. Nur im ersten Teil der Rede über Universalgeschichte, allgemeine Geschichte, allgemeine Weltgeschichte (auch in den Namen möchte Schiller Kant gerne übertrumpfen) kommt Schillers liebenswerte Persönlichkeit heraus. »Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet.« Den Brotgelehrten beunruhige jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft; er sondere seine Wissenschaft von allen übrigen ab; aber nur der abstrahierende Verstand habe die Wissenschaften voneinander geschieden. Schiller fühlte sich der philosophische Kopf; der Brotgelehrte hätte er nicht sein können, auch wenn er gewollt hätte. Ich habe den jungen Professor der Geschichte im Verdacht, damals nicht einmal Cäsar und Tacitus, die er anführt, genau gelesen zu haben. Die Rede sinkt fast zu einem glänzenden Primaneraufsatz hinunter, wenn sie auf ihr eigentliches Thema übergeht, von Kant ganz abhängig, gar einen Unterschied macht zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte. Der menschliche Verstand bringe einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. Und auch der »höchste Geist« fehlt nicht, dem der menschliche Verstand in seiner schönsten Wirkung begegnet, um das Problem der Weltordnung aufzulösen. Schließlich darf auch Kants Traum vom ewigen Frieden bei Schiller nicht fehlen: »Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.«

Unmittelbar darauf – Schiller hielt seine berühmte Antrittsvorlesung am 26. Mai 1789 – folgten Geschichten von ganz besonderer Merkwürdigkeit: die große Revolution und die res gestae Napoleons, neue gesta Dei per Francos. Fast 25 Jahre lang wurden die Einheiten und die Elemente der europäischen Geschichte, die Staaten, durcheinandergeworfen und umgebaut wie die Steine eines Kinderbaukastens. Die ungeheuere Willenskraft Napoleons zwang Fürsten und Völker nieder. Der Traum einer kosmopolitischen Welt war fast Wirklichkeit geworden, ganz anders als ihn Kant geträumt hatte. Ewiger Krieg statt des ewigen Friedens, Unfreiheit, von Worten politischer Freiheit begleitet. Eine Reaktion im psychologischen Sinne war die Folge; und als diese Reaktion unter dem Namen der Freiheitskriege Napoleon niedergeworfen hatte, vereinigten sich die geretteten Fürsten wortbrecherisch und dumm zu der großen politischen Reaktion, die heute noch oben das Ideal ist. Klügere Staatsmänner umgaben diese Reaktion wieder mit Worten oder Begriffen, die den Besten aus dem Volke in der Zeit nationaler Erniedrigung lieb geworden waren. Um Legitimismus war es den Fürsten zu tun, um ruhigen geschichtlichen Gang, gegenüber dem ganz unhistorischen, also revolutionären Napoleon, den geistigen Führern des Volks, besonders in Deutschland. Die Nationalitätsidee, die Napoleon mit toller Historik da und dort wie ein Reiterregiment für seine Zwecke geschaffen und ins Feld gestellt hatte, war in Spanien und Deutschland gegen ihn mächtig geworden. Die wirkliche Vergangenheit des eigenen Volkes, die geschichtliche Vergangenheit seiner Sprache, seines Rechts, seiner Sitten, seiner Religion und Kultur sollte bewußt werden, nicht mehr dilettantisch studiert werden, sondern streng wissenschaftlich. Nichts mutwillig ändern, das war der andächtige Gedanke eines Savigny und seines größten Schülers Jakob Grimm. Nur erst arbeiten, forschen, das eigene Volk historisch verstehen und lieben lernen. Sprachgeschichte, Rechtsgeschichte setzten 1816 erobernd ein, Sittengeschichte und Religionsgeschichte folgten, und die wortbrüchigen Fürsten wußten die stille Gelehrtenarbeit der herrlichen Männer zu nützen. Unmerklich verschob sich das Ziel. Was der geistigen Befreiung der Völker dienen sollte, wurde zur Ausrede für kleinliche Knebelungspolitik. Überhaupt nichts ändern, das war die fürstliche Losung. Und aus dem Versenken in die lebendige Geschichte des Volkes wurde überall, in Wissenschaft und in der Poesie der jüngeren Romantik, ein Umkehren zu den Bildern des Mittelalters, zu den schönen Bildern nur, die neuere Geschichtsforschung den häßlichen Bildern aus der Aufklärungszeit gegenübergestellt hatte. Sprache, Recht, Glaube, Sitte, Kultur (alles, alles doch wieder Sprache, deren historische Betrachtung auch voranging) waren ja doch andere geworden. Jahrzehnte vergingen, bevor ein Mann wie Jakob Grimm klar erkannte, wie seine und seiner Genossen Andacht zur Geschichte von politischen Geschäftsleuten wucherisch ausgenützt worden war.

So hatte es mit dem Historismus angefangen, in Deutschland. In Frankreich und in Italien kennt man das Wort nicht. In Deutschland aber wurde der Historismus zum System erhoben, beinahe zur offiziellen Religion, durch die Herrschaft, die Hegel (seit 1818 in Berlin) 20 Jahre und länger, noch über seinen Tod hinaus, über die Weltanschauung der deutschen Universitäten ausübte. Die preußische Regierung stützte sein Ansehen und wußte warum. Sie hatte kaum etwas dagegen, wenn man seinen alten Freund, Lehrer und Vorläufer Schelling mit Johannes, Hegel selbst mit Christus verglich. Wir wissen heute, daß Schopenhauers Schimpfmeisterstücke gegen Hegel, die das Urteil der jetzigen Generation beeinflußt haben, starker Korrektur bedürfen: Schopenhauer schimpfte nicht nur aus Gründen der Einsicht, und Hegel war ein überaus geistreicher Kopf von unerhörter Abstraktionskraft. Aber Hegels sprichwörtlich gewordene Lehre (Philosophie des Rechts 1821): »was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« hat dem politischen Historismus eine unverschämte Form gegeben. Die Aufklärung hatte Vernunft erst in das Wirkliche hineinbringen wollen; Kant gar hatte die Vernunft als die bloß menschliche Anschauungsweise erkannt, durch die wir uns das unnahbar Wirkliche eben nur vorstellen; Hegel verstand unter dem Wirklichen mit dem Historismus seiner Zeit das Gewordene, und alles Gewordene erklärte er ex cathedra für vernünftig geworden. Ein ruchloser Optimismus und ein schlechtes Gewissen stecken dahinter. Denn sein Ausgangspunkt, daß nämlich Sein und Denken identisch wären, kann einen Sinn nur haben, wenn man das Denken (die Vernunft in allem Wirklichen) vergottet. So, mit doppelter Front gegen die Aufklärung und gegen Kant, haben Hegel und die Hegelianer mit doppelt eiserner Stirn die Zeit aus dem jämmerlichen Sein heraus auf eine transzendente Welt vertröstet, nicht wie das Mittelalter auf ein greifbares, wohlschmeckendes Jenseits, sondern auf ein öde begriffliches, unvorstellbares Denken, jenseits des mit ihm identischen Seins.

Ich weiß wohl, daß die luftleeren Abstraktionen Hegels Worthülsen boten, in die auch rebellische Gedanken hineingesteckt werden konnten, daß es die linksstehenden Jung-Hegelianer waren, die später, an Hegels Denkvirtuosität geübt, Atheisten (oft vorsichtige) und radikale Anarchisten wurden. Dadurch wird aber die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß Hegel durch seine Philosophie der Geschichte, durch seine Lehre von der Selbstbewegung der Begriffe, durch seine wie mechanisch arbeitende Dialektik den Historismus auf alle Begriffe anwenden gelehrt hatte, mit denen deutsche Professoren sich beschäftigen durften, auf die Begriffe der Geisteswissenschaften, und daß die Staatsmänner diese Tendenz benützten, um die letzten praktischen Ziele der Aufklärung bekämpfen zu können. Man sagt sonst: das Bessere sei der Feind des Guten; in Hegels Historismus und heimlichem Optimismus (alles Wirkliche ist vernünftig) wurde das Gegenteil gelehrt: wenn alles gut ist, wie es geworden ist, können und sollen wir kein Besseres anstreben, keinen Fortschritt.

III.

Auf ganz andern Wegen und Gedankengängen kam nun aber von England (1859) eine Ausdehnung des Historismus, an die in Deutschland kein Professor der Philosophie gedacht hatte. Nur etwa Goethe. Die englischen Philosophen, deren Bedeutung für abendländische Geistesbefreiung immer noch nicht genug gewürdigt ist, und gar nicht überschätzt werden kann, waren keine Professoren, waren übrigens auch keine Philosophen im Sinne des deutschen Fachausdrucks. Bacon, Hobbes, Locke und Hume waren Gentlemen, gelegentlich Geschichtsschreiber und Staatsmänner. Bewußt oder unbewußt Erben des alten englischen Nominalismus. Zum Begriffspalten nur geneigt, wo es ihnen um das Zerstören klotziger Begriffe zu tun war. Keine Systematiker, gute Schriftsteller, gewohnt, Geschichte zu machen, oder doch machen zu helfen und darum geneigt, den neuen Historismus auf das wichtigste Objekt des menschlichen Denkens anzuwenden: auf den Menschen selbst. So kurz das Datum des Ereignisses hinter uns liegt, wir können uns heute kaum mehr lebhaft genug vorstellen, wie plötzlich und umstürzlerisch die stille, eigensinnige, vorsichtig-tapfere, scheinbar unwiderlegliche Gedankenarbeit Darwins bei den oberen Zehntausend des geistigen Europa einschlug. Zum erstenmale, seitdem Menschen dachten, schien der Begriff des Werdens, der Historismus, auf die Objekte der lebenden Natur angewandt. Zum erstenmale nach der induktiven Methode Bacons; die phantastischen Vorläufer der Lehre im Orient und in Griechenland, auch die jüngsten Vorläufer in Deutschland und Frankreich waren ohne Wirkung geblieben, weil sie mit dem Gedanken nur gespielt hatten. Darwin hatte, genial und fleißig, den Bau allein angefangen und vollendet. Für die Ewigkeit, wie man glaubte. Eine tiefe Rührung überwältigte die zerstreute Gemeinde der freien Menschen von Europa. Die Arten waren nicht geschaffen, waren geworden. Der Begriffsklotz Art war zerspalten. Ohne schlechtes Gewissen konnte man endlich Atheist sein; denn die Zweckmäßigkeit der Natur war jetzt ohne die zweckvolle Absicht eines Schöpfers erklärt. Es waren keine schlimmen Menschen, die glaubten, den endlichen Sieg des Menschengeistes erlebt zu haben. Wieder einmal. Ich sehe noch den lieben Lehrer der Naturgeschichte vor mir, der uns Prager Gymnasiasten die Lehre von der Veränderlichkeit der Arten am Beispiele der Haustauben vortrug (1866) und der dabei einmal bis zum Schluchzen ergriffen wurde. Wir verstanden nichts davon; es war schon viel, daß wir nicht lachten. Auch war er wenige Wochen später entlassen.

Die Welt hatte also endlich das neue Schlagwort, nach dem sie seit der Reaktion der Freiheitskriege gestrebt hatte. Und seltsam: gerade der Begriff, der dem ersten Streben zugrunde lag, entwickelte sich jetzt aus der Anwendung des Historismus auf die organische Natur, auf den Menschen. Auch der Mensch mit allen seinen Gefühlen und Gedanken, mit seinen Gemütsbewegungen und ihrem Ausdruck, ist nicht geschaffen, ist geworden. Evolution, nicht Revolution. Evolution war das neue Wort. Entwicklung. Mit fast deutscher Gründlichkeit und Systematik wurde das Wort von Herbert Spencer erfaßt, ja unsicher schon vor 1859, auf alles Menschliche angewandt: auf Biologie, Psychologie und Soziologie. Dem neuen Zeichen konnte der Sieg nicht fehlen.

Ich habe an dieser Stelle nicht darüber zu berichten, was gegen den Darwinismus von klugen und freien Menschen seitdem vorgebracht worden ist, nicht zu prüfen, was grundsätzlich gegen die neue und kühne Fragestellung eingewendet werden kann. Ursache und Wirkung treten an die Stelle eines Gottes, aber Ursache und Wirkung sind vielleicht nicht weniger anthropomorphisch als der Gott. Die zweckvolle Absicht eines Schöpfers war aus der Welt geschafft, aber nicht der Zweckbegriff aus den Menschengehirnen. Zielstrebigkeit sagt man jetzt und niemand lacht. Das Wort Entwicklung oder Evolution wird vergehen, wie andere Schlagworte gekommen und gegangen sind. Darwin darf darum nicht verkleinert werden. Er hat die Menschen eine Vorstellung fassen lassen, die befreiend aufatmen ließ und nachwirken wird, auch wenn sich der Ausgangspunkt als falsch erweisen sollte. Auch wenn einmal wieder als falsch erkannt würde der alte Satz: natura non facit saltus. Nicht wie Darwin die Teleologie vernichtet hat, wird bleiben; aber daß er ohne Teleologie die Natur begreifen wollte, der Erste, das kann nicht vergessen werden. Daß die Organismen geworden sind, das wird nachwirken; wie sie geworden sind, das hat auch Darwin kaum für zwei Menschenalter überzeugend gewußt. Genug, wir können die Vorstellung fassen und aushalten: der Mensch und die andern Organismen sind, als ob sie geworden wären.

IV.

Dem ersten Drittel des Jahrhunderts gehörte der Sieg des Historismus in den Geisteswissenschaften, dem zweiten Drittel der Sieg des Historismus in der Naturwissenschaft; im letzten Drittel vereinigten sich diese beiden Historismen zu einem Überfall über alles, was den Menschen lieb geworden war, Moral und soziale Tradition, und wir stecken alle noch mitten inne in dieser Selbstbewegung der Begriffe und fangen zu merken an, daß sie uns genarrt haben. Ein so starker politischer Revolutionär wie Carl Marx schien berufen, die ungezählten Arbeiterbataillone gegen die Staatenordnung zu führen; aber sein Historismus, den er materialistische Geschichtsauffassung nannte, ließ sogar ihn lehren: Evolution, nicht Revolution, nur das Gewordene besteht, die neue Gemeinschaft farà da se. Und die Sozialdemokratie arbeitet sich ab im Parlamentarismus und Meliorismus; sie entwickelt sich, sieht zu, wartet ab, ist historisch und läßt aus ihrer Mitte den unhistorischen Anarchismus entstehen. Der alte Gegensatz, der so lange in der Geologie spielte, ob nämlich die Erdkruste mit ihren Gebirgen sich geruhig durch Wassergewalt oder wild durch Feuergewalt gebildet hätte, wurde auf die sozialen Gebilde übertragen. Das letzte Wort hätte heute der Plutonismus, wenn er nicht selbst wieder historisch kränkelte.

Der Historismus, der sich ganz natürlich an den Geisteswissenschaften entwickelt hatte, war also binnen weniger Jahrzehnte auf Naturwissenschaft und auf Soziologie übergesprungen. Nur ein Schritt war noch zu tun, damit der Historismus seinen sozialen Kreislauf vollende: Anwendung des Historismus auf die ewigen Wahrheiten der Moral, auf den kategorischen Imperativ. Noch Schopenhauer hatte in seinem glänzenden Nachweise, daß Geschichte nicht nur tief unter Philosophie und Kunst stehe, sondern überhaupt als Lehre vom Individuellen gar nicht Wissenschaft sei, noch Schopenhauer hatte gegen den Wert der Geschichte (Welt a. W. u. V. II. 506) besonders den Einwand gemacht, daß »die Konstruktionsgeschichten (er meint Hegel), von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle Vervollkommnung hinauslaufen; weil diese in der Tat die allein mögliche ist, da das Moralische im wesentlichen unverändert bleibt.« Sein System spielte ihm diesen Streich; im Moralischen steckte ja der tiefste Sinn des Willens, und der Wille war unveränderlich. Die Schüler Schopenhauers jedoch, nicht mehr gebunden an sein System, setzten die Zertrümmerung theologischer Vorstellungen im Geiste Schopenhauers fort. War für ihn die geschmähte Geschichte am Ende doch die Vernunft oder das Bewußtsein des Menschengeschlechts, so konnte oder mußte auch das moralische Bewußtsein ein Stoff der Geschichte werden. Es wird schwer auszumachen sein, wer diesen verwegenen Gedanken zuerst gefaßt und ausgesprochen hat, wer zuerst den Historismus, die Lehre vom Werden, auf die ewigen Wahrheiten der Moral übertragen hat. Vor Nietzsche hat Paul Rée unbarmherzig und trocken die Entstehung des Gewissens gelehrt; dann Nietzsche mit der ganzen Glut seiner Seele in dem Buche, das wieder einmal die schärfste Ausprägung des Gedankens im Titel trug: »Genealogie der Moral«. Aber schon der junge Nietzsche der unzeitgemäßen Betrachtungen hatte von dem leidenschaftlichen Tatmenschen lange vor der Umwertung aller Werte gesagt: »alle Wertschätzungen sind verändert und entwertet.« Nietzsche stand noch unselbständig unter dem Einflusse Schopenhauers, als er das zweite unzeitgemäße Stück schrieb. Von Schopenhauer nahm er die wissenschaftliche, die philosophische Verachtung der Geschichte herüber. Schopenhauer starb eben, bevor der Historismus auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und der Soziologie die Zeit zu beherrschen begann. Die Nichtanwendbarkeit des Historismus auf die Moral stand für Schopenhauer fest. Seine Ablehnung der Geschichte ist noch fast ruhig, etwas Zorn und Leidenschaft mischt nur sein Verhältnis zu Hegel bei. Für Nietzsche war das alles verändert. Er war der hungrige Frager, der alle neuesten Antworten gierig hinunterschlang: es mußte doch etwas Wahres sein an dem naturwissenschaftlichen Historismus, an dem soziologischen Historismus und gar an dem letzten, dem moralischen Historismus, der damals noch chaotisch in Nietzsche wühlte. Aber Nietzsche kannte die Befriedigung des Systematikers nicht. Ekel ohne Sättigung, das war immer der Ausgang. Ausspeien, was er hinuntergeschlungen hatte, das war die Erleichterung. Und so schrieb der junge Nietzsche, in dem der Historismus des 19. Jahrhunderts als moralischer Historismus seinen Höhepunkt erreichte, die Schrift, die den Historismus totschlagen sollte. Und für uns Studenten von damals totschlug: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.«

Diese Schrift, die erste Nietzsches, die ich kennen lernte, und die mir vielleicht darum heute noch als seine beste erscheint, hat mit ihrer Stimmung noch stärker gewirkt als mit ihrer Darlegung. Auch ist das Vorwort heftiger als die Abhandlung selbst. Die Abhandlung ist größtenteils abwägend geschrieben, gar sehr noch in offenbarer Nachahmung Schopenhauerscher Sprache; noch fehlt die spätere Sucht, jedesmal das Äußerste zu sagen und sich am Worte bis zum Gegenworte zu berauschen. Nur im Vorwort meldet sich schon der künftige Nietzsche: »Ich glaube, daß wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, daß wir daran leiden.« Und vorher: »Ich habe mich bestrebt, eine Empfindung zu schildern, die mich oft genug gequält hat; ich räche mich an ihr, indem ich sie der Öffentlichkeit preisgebe.« Dann aber kommt oft genug der Professor der Philologie zum Worte. Das Übermaß an Historie, nur das Übermaß schadet dem Lebendigen, sei es nun ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur. »Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte.« Dem Lebendigen gehöre die Historie in dreifacher Beziehung, als monumentalische, als antiquarische und als kritische Historie.

Bei dem letzten Ausdruck hat es Nietzsche versehen, da er im Texte nicht kritische Geschichtsschreibung, sondern Aburteilung der Geschichte verlangt: »Jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden.« Direkt von Schopenhauer hat Nietzsche den Gedanken, daß alles Historische individuell ist, daß, was einmal möglich war, »nie wieder bei dem Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls herauskommen könne« (S. 24). Was sich die merken mögen, die Nietzsches letzte Gedankenflucht, die eine Wiederkehr des Gleichen fassen und lehren wollte, durchaus zum Höhepunkte von Nietzsches Wirken machen wollen.

Schopenhauer hat aus seinem Aperçu den logischen Schluß gezogen, daß Geschichte überhaupt keine Wissenschaft sei. Nietzsche, der den Fluch des Historismus viel leidenschaftlicher empfand, kam dennoch zu einer so scharfen Schlußfolgerung nicht; er sah nur deutlicher als irgend jemand seit hundert Jahren, und mit den Blicken des Hasses, einen Gegensatz zwischen Leben und Historie, zwischen Tatmenschen und Philologen, zwischen einem Bismarck und einem jungen Himmelsstürmer, der in Basel die Jungens philologisch abrichten mußte. Nur aus dem gelehrten Betriebe sehnt er sich heraus, wie Faust, und nur so persönlich möchte er der Geschichte den Charakter der Wissenschaftlichkeit absprechen. »Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen« (S. 18). Man achte auf die Verklausulierung: »in dieser Unterordnung«, »reine Wissenschaft«, »wie die Mathematik«; Schopenhauer hatte klipp und klar gelehrt, daß Kenntnis von individuellen Vorgängen niemals zu Begriffen, niemals zu einer Wissenschaft führen könne.

V.

Wenn es nun so etwas wie eine Logik der Geschichte, eine Philosophie oder auch nur eine Geschichte der Geschichte gäbe, so wäre der Historismus oder die Überschätzung der Geschichte am Ende des 19. Jahrhunderts, ungefähr im 100. Jahre seines Alters fertig und begraben gewesen. Aber so ist die Wirklichkeit nicht. Wie von unsern Tieren und Pflanzen ihrer Geburt nach die einen den jüngsten Erdepochen angehören mögen, die andern den ältesten, wie Elefanten und Schachtelhalme noch existieren, trotzdem sie durch die Entwicklung überholt sind, so leben auch Begriffe weiter, die seit mehr denn einem Menschenalter totgesagt worden sind. Eine Vergleichung philosophischer Wörterbücher oder gar der philosophischen Sprache wird ganz augenscheinlich ergeben, wie lange scheinlebendige Begriffe noch als Gespenster umherwandeln können. Die Schule von Leibniz arbeitete mit den Worten des überwundenen Descartes, Kant arbeitete mit den Worten der überwundenen Leibniz-Wolfschen Schule; und heute arbeiten die Überwinder Kants, die in ihrer geschlossenen Reihe (Lange, Helmholtz, Mach usw.) schon neben ihn zu stellen sind, mit Kantischen Worten; da darf man sich nicht wundern, wenn der kleine Begriff Geschichte so kurz nach seinem Absterben noch für lebendig gehalten wird.

Noch eine Menschlichkeit kommt dazu. Der Historismus hat in den 100 Jahren seiner Herrschaft so unabsehbare Kleinarbeit gefördert und immerhin einige künstlerisch schaffende Männer zu so ansehnlichen historischen Werken veranlaßt, daß im gelehrten Klein- und Großbetrieb die Geschichte eine sehr respektable Disziplin geworden ist. Wer darf noch wagen, der Geschichte den Charakter einer Wissenschaft abzusprechen, wenn in Deutschland allein 100 ordentliche Professoren diesen Zweig menschlichen Wissens pflegen? Wer die Geschichte gering achten in einer Zeit, da der deutsche Kaiser eben die historische Weltanschauung aufs äußerste treibt, die genau vor 100 Jahren, etwa in den Reden Fichtes, zu Berlin die wirkliche Forderung der Zeit war? So sehr vergessen ist Schopenhauers unwiderlegliche Ablehnung der Geschichte, so unwirksam ist selbst in diesen Tagen des Nietzsche-Einflusses Nietzsches Haß gegen die Geschichte, daß die führenden Philosophen – auch die dümmsten Zeiten haben führende Philosophen – ganz naiv der Geschichte ihren Platz in dem System der Wissenschaften angewiesen haben. Es hat jede Zeit, auch die dümmste, ihr eigenes System der Wissenschaften. Wer ein feines Lachen liebt, der lese in Wundts System der Philosophie das Kapitel »Gliederung der Einzelwissenschaften«. Jeder Sammler, der sich fest auf einen ordentlichen Lehrstuhl niedersetzen darf, wird zum Vertreter einer Wissenschaft. Wahrhaftig, wenn der Zufall der Universitätsgeschichte es gefügt hätte, daß der Reitlehrer der Studenten eine ordentliche Professur innehätte, ein Systematiker wie Wundt würde die Reitkunst für eine Wissenschaft erklären. Ich glaube nicht zu übertreiben, denn Wundt bringt es sogar fertig, die Theologie, »da sie« (abgesehen von ihrer historischen Seite) »über die allgemeine religiöse und ethische Bedeutung der besonderen Glaubensanschauung, der sie dient, Rechenschaft geben will,« zur Philosophie in nahe Beziehung zu bringen. Wundt mag sich nichts Schlimmes dabei denken; denn die Bedeutung der Geschichte ist ihm ein Axiom. »Die Frage, ob der Geschichte der Menschheit überhaupt eine allgemeine Bedeutung zukomme oder nicht, scheint durch die bloße Existenz einer Wissenschaft der Geschichte schon beantwortet zu sein« (635). Er glaubt an eine der Geschichte immanente Entwicklung (642); denn »das Leben ist die wirksamste Schule der Sittlichkeit, ... der Erwerb der geschichtlichen Kultur ist das allerwesentlichste Mittel der gesamten geistigen Entwicklung des Einzelnen, insbesondere also seiner sittlichen, religiösen und ästhetischen Vervollkommnung, indem er ihm überall reichere Mittel des Erkennens und des Handelns zur Verfügung stellt« (643). So Wundt, von eines Verlegers Gnaden ein Klassiker der Philosophie.

Aber etwas feiner haben Sigwart und Windelband das gleiche Garn gesponnen: die Geschichte mit ihrem unabsehbaren Betrieb, mit ihren »Hilfswissenschaften« soll und muß, logisch und psychologisch, sich als Wissenschaft behaupten. Ich möchte demgegenüber nur noch, und strenger als bisher, zu zeigen suchen, daß die Tatsachen der Geschichte sich nicht zu Gesetzen zusammenfassen lassen, daß übrigens die Tatsachen der Geschichte nicht gewiß sind, immer nur einen Grad der Wahrscheinlichkeit für sich haben, daß also schon aus diesen beiden Gründen allein Geschichte nicht das ist, was wir sonst Wissenschaft nennen. Und weil mir lebhaft zum Bewußtsein gekommen ist, daß ich dabei allzusehr unter dem Banne eines Aberglaubens stehe, den Begriff Wissenschaft für einen Augenblick zu feierlich genommen habe, muß ich mich jetzt mit dem internationalen Worte Historie auseinandersetzen, nachdem ich vorher die Wortgeschichte von Geschichte gab. Der älteste, wie der neueste Sprachgebrauch ist mir günstig; nur gerade die 100 Jahre des ablaufenden Historismus überschätzen den Begriff. Im Griechischen bedeutet ἱστορια (von ἱστωρ kundig, Zeuge) das Betrachten, die Nachforschung, jede Kunde, auch die Kunde von Geschehenem; in dem gleichen Sinne erscheint historia zunächst lateinisch, erst langsam wird historia (fast immer in der Mehrzahl) der technische Ausdruck für die Erzählung irgend welcher Begebenheiten; Fabeln, Stadtklatsch und wichtige Begebenheiten sind Historien, werden volkstümlich heute noch mit dem gleichen Worte benannt wie die wissenschaftliche Geschichte oder Historie. 2000 Jahre lang fällt auch die große Geschichte, die Völker- und Universalgeschichte, nicht unter den technischen Begriff scientia, science, Wissenschaft, wie er sich besonders seit der Scholastik auszubilden begann; wenn Thomas die Wissenschaft nennt recta ratio scibilium, so schließt er eigentlich die individuellen, irrationalen Geschichten aus. Bacon unterscheidet sehr genau die historia, poesis und philosophia nach den drei Geistesfakultäten: memoria, phantasia und ratio; philosophia allein umfaßt die Wissenschaften. Fast noch schärfer trennt Hobbes die Geschichte als die Erkenntnis von Tatsachen und die eigentliche Wissenschaft als die Erkenntnis von Folgerungen: altera cognitio (im Gegensatz zur Geschichte) est consequentiarum vocaturque scientia. Alle Denker aller Zeiten verlangen von einer Wissenschaft irgendeinen systematischen Zusammenhang. Kant lehrt (man achte auf das seltsame soll): »eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft.« (Met. Anfangsg. der Naturw., Vorr.)

Einer der neuesten Systematiker aller Wissenschaften ist schon bescheidener und hilft uns vielleicht weiter; Spencer sieht die Unmöglichkeit des wissenschaftlichen Ideals und definiert science als partially-unified knowledge (First principles § 37).

Und nun darf ich auf einen Sprachgebrauch hinweisen, der in allen Kultursprachen fast der gleiche ist und der ganz unbewußt zwischen Geschichte und Wissenschaft unterscheidet. Wir nennen die alte Übersicht über die vorhandenen Gruppen von natürlichen Dingen Naturgeschichte; Pflanzen und Tiere, die man beschrieben hat und auch wohl künstlich geordnet, gehören der Naturgeschichte an; eine Übersicht über die Gestirne nennt man Naturgeschichte des Himmels. Zu Naturwissenschaften werden Kenntnisse auf allen diesen Gebieten erst durch einigen Einblick in die sogenannten Gesetze des Werdens; dann erst spricht man von Astronomie, Physiologie, Biologie usw. Wir wissen ja niemals soviel von den Dingen, wie die Wissenschaften glauben, aber alle Wissenschaften sind Sehnsuchten, Ideale, menschliche Annäherungen an Erklärung eines Wissensgebietes. Was wir Wissenschaft nennen, ist immer die gemeinsame, meinetwegen illusionäre Arbeit auf dem Wege zu einem solchen Erkenntnisideal. Geschichtliches Wissen jedoch kann, wenn der Forscher Besinnung und Kritik hat, diese Illusion niemals haben. Auch das Ideal der Geschichte wäre noch nicht Wissenschaft. Ideale Befriedigung aller Neugier würde der Wißbegier, der naturwissenschaftlichen, nichts bieten. Man wollte sich denn in das asylum ignorantiae hineinträumen, in die Allwissenheit Gottes, wo es dann keinen Unterschied mehr gäbe zwischen Natur und Geist, zwischen Wissenschaft und Geschichte, aber auch keinen mehr zwischen Wissen und Nichtwissen! Denn allwissend könnte nur sein, in törichter Menschensprache gesagt, wer zugleich Gott wäre und zugleich Natur. Der also alles wäre, gar nichts wüßte. Und wenn ich schon phantasiere, so will ich nur gestehen, daß ich mir einen noch umfassenderen Geist als den allwissenden alten Juden-Gott fast vorstellen kann: einen überzeitlichen Geist, vor dem Sein und Werden nur eins ist, weil er überall immer ist, nicht nur immer war; für den also sein Erleben oder Erwissen zugleich Welt und Geschichte ist. Kehren wir aber nach einem solchen Fluge zu der Erde zurück und zu ihren Professoren, so ist Geschichte doch keine richtige Wissenschaft.

Der Hauptgrund Schopenhauers gegen die wissenschaftliche Qualität der Historie, daß nämlich ihr Inhalt, die europäischen Katzbalgereien, immer individuell bleibe, nicht zu einem Begriff erhoben werden könne, dieser Hauptgrund ist wichtig genug, wäre mir aber noch nicht der letzte. Mein letzter Grund für die wissenschaftliche Wertlosigkeit der Geschichte ist der Satz, den ich schon in mancherlei Umformung ausgesprochen habe, den ich für das wichtigste Ergebnis der Sprachkritik halte und den ich noch niemals, auch nur zu meiner eigenen Befriedigung, ganz seiner Wichtigkeit gemäß in Worten ausdrücken konnte: daß die arme Menschheit immer wieder Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit miteinander verwechsle. Notwendigkeit findet sich immer und überall, aber wir sind es, die sie in die Welt hineinlegen; Gesetzmäßigkeit suchen wir in der Welt, wollen sie aus der Natur herausholen. Wissenschaft ist uns jede Gruppe von Annäherungen an Gesetzlichkeit, die hundert Generationen der besten Forscher aus der Natur herausgeholt haben. Was geschieht, was Menschen tun, sei es wertvoll oder wertlos, ist notwendig, leitet aber nicht zu Gesetzen. Daß Napoleon sich übernahm und auch noch nach Rußland marschierte, daß ich in dieser Stunde eine Zigarre mehr rauchte als sonst, sind zwei wirklich geschehene Tatsachen, beide notwendig, beide – was man für die größten und für die lächerlich kleinsten Tatsachen der Geschichte mit Recht fordert – nicht ohne Folgen. Ich werde gut daran tun, weiter nur von dem einen der beiden Beispiele zu reden. Humoristische Psychologen mögen sich das zweite Beispiel mit vorstellen.

Gerade an der Geschichte Napoleons sind eine große Zahl sogenannter historischer Gesetze nachgewiesen worden. Nach einem solchen Gesetze wurde er Kaiser: auf die Revolution folgt Despotismus. Gesetzmäßig schlug er Preußen nieder: die Überhebung der preußischen Offiziere führte zur Nachlässigkeit. Gesetzmäßig strebte er nach dem Unmöglichen: ein Eroberer kann sich nur durch weitere Eroberungen halten usw. usw. Und auch die Gesetzmäßigkeiten der Natur fehlen im Bilde nicht: der Winter in Rußland ist kalt usw. Zieht man nun von allen diesen historischen Gesetzen ab, was theologisches (Napoleon und der Papst), was moralisches und was Geschwätz an sich ist, so kommt die alte Verwechslung von Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit zum Vorschein. Notwendig, also zufällig ist die heroische Laufbahn Napoleons so sicher, wie das Niederfallen dieses Regentröpfchens in diesem Augenblicke auf dieses Blatt meiner Glycine notwendig ist, also zufällig. Aus dem Ereignis des Regentropfens läßt sich allerlei Gesetzliches herausholen: für die Fallgesetze der Mechanik, für die Wärmelehre, für die Biologie der Pflanzen, minimal aber wissenschaftlich; aus dem Ereignisse Napoleon, der doch auch mir interessanter ist als mein Regentropfen oder meine Zigarre, läßt sich durchaus nichts Gesetzliches für irgendeine Wissenschaft herausholen.

Dabei ist es einerlei, ob man in der Geschichte der Menschheit Ideen verkörpert sieht oder die materialistische Geschichtsauffassung teilt. Ob man auf die great-men-Theorie schwört oder auf die Milieutheorie. Auch für den Einwand des individuellen Geschehens, für den Einwand Schopenhauers, ist es einerlei, weil auch die Wirkungen der Helden wie die Wirkungen der Umwelt sich genau niemals wiederholen können. Daß aber für die Lehre, das Weltgeschehen sei nicht gesetzlich, sondern notwendig, also zufällig, die Frage nach der Geistigkeit oder Stofflichkeit der Ursachen gleichgültig sei, darauf möchte ich doch mit einem Worte hinweisen. Aus Ideen und Psychologie erklären die einen die ganze Geschichte, aus materiellen Bedürfnissen und Nationalökonomie die andern; und die besten Künstler unter den Geschichtsschreibern brauen sich ein Gemisch von Psychologie und Nationalökonomie zusammen, d. h. sie wenden auf die Erklärung der Geschichte den sog. gesunden Menschenverstand an. Man nennt dies auch pragmatische Geschichtsschreibung. Nun sind Psychologie und Nationalökonomie immerhin auf dem Wege nach wissenschaftlichen Zielen. Anspruchslose Leute dürfen sogar von psychologischen, von nationalökonomischen Gesetzen reden. Weil nun die Notwendigkeiten des geschichtlichen Geschehens ihren Ursachen nach unter die Gebiete der Psychologie und der Nationalökonomie fallen, d. h. bald zu den Ereignissen des Menscheninnern gehören, bald zu der Statistik, darum täuschen die unausrottbaren Philosophen der Geschichte sich und andern vor, die Gesetzmäßigkeiten, die von Spezialisten der Psychologie und der Nationalökonomie behauptet werden, wären auch in der Geschichte zu finden. Schon da wird mit dem Begriffe Gesetzmäßigkeit Unfug getrieben; was sich im Innenleben der handelnden Helden der Geschichte ewig wiederholt, das sind natürlich psychologische Vorgänge, die unter die paar psychologischen Gesetze fallen, welche bei der Selbstbeobachtung der Menschen herausgekommen sind; daraufhin spricht man getrost von Gesetzen in der Geschichte, von historischen Gesetzen, und konstruiert ein Weltbild, dem keine Wirklichkeit entspricht, das schlecht über die Vergangenheit und gar nicht über die Zukunft belehrt. Was doch historische Gesetze gut leisten müßten.

Solche Erkenntnis brach sich klar oder unklar Bahn, als das Jahrhundert des Historismus abzulaufen begann. Da war auch die Zeit gekommen, daß diejenigen Kollegen aus den philosophischen Fakultäten, die sich insbesondere Philosophen nennen, den Historikern beisprangen und bewiesen: die Geschichte ist und bleibt eine Wissenschaft. Seit 20 Jahren ist das oft geschehen. Ein feinerer Kopf, Windelband, fühlte zuerst das Bedürfnis, schärfer zwischen Normen und Naturgesetzen, zwischen Geschichte und Naturwissenschaft zu unterscheiden. Er legte den Finger auf Mängel der alten Logik, die eigentlich nur klassifikatorisch war, die für die Gesetzeswissenschaften (Mechanik usw.) umgestaltet werden mußte und für die Ereigniswissenschaften gänzlich versagte. Ich glaube freilich, daß aus Windelbands Darlegungen die Unwissenschaftlichkeit der Geschichte erst recht hervorgeht und daß seine neuen Bezeichnungen (idiographisch und nomothetisch) kein Glück haben werden. Nicht minder anregend waren Simmels »Probleme der Geschichtsphilosophie«, die die Wirklichkeitswissenschaft der Geschichte noch energischer den Gesetzeswissenschaften gegenüberstellte.

Ich muß noch ein Buch erwähnen, das die Gedanken Windelbands mit viel Wasser verlängert und verbreitert hat, H. Rickerts »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung«; eins von den Büchern des Philosophiebetriebes, von denen dreizehn auf ein Dutzend gehen. Es muß erwähnt werden, nicht weil es bei dem geltenden Höflichkeitsaustausch der Professoren oft »berücksichtigt« worden ist, sondern weil seine Problemstellung dilettantisch ist, erkenntnistheoretisch im Stande der Unschuld, und weil die gefoppten Leser von einem berufenen Professor nach grundfalschen Darlegungen mit einem schlecht posierten triumphierenden Heureka entlassen werden: »das in der Einleitung dieser Schrift gestellte Problem der Wissenschaftslehre ist jetzt gelöst« (704).

Das Problem wird schon im Titel des Buches verschleiert. Daß die logische Begriffsbildung der Naturwissenschaften nicht einwandfrei sei, das wußte man längst, ganz bestimmt seit Sigwart. Rickert will etwas ganz anderes behaupten und beweisen: daß es eine ganz andere Art von Begriffen gebe als die naturwissenschaftlichen, die historischen Begriffe, und daß diese angeblichen historischen Begriffe nach einer ganz andern Methode zustande kommen, die von guten Historikern praktisch geübt, von Rickert aber erst dem Arsenal der Methoden theoretisch hinzugefügt worden sei. Wenn ich nur unter den 20 000 Worten oder Begriffen einer Kultursprache ein einziges Wort entdecken könnte, einen einzigen Begriff, der auf die Bezeichnung historischer Begriff Anspruch machen könnte. Das, woraus Rickert sein Problem gemacht hat, gibt es gar nicht. Es gibt eine besondere Übung für die Benützung historischer Quellen, eine philologische Kritik, die den gelehrten Scharfsinn in besonderer Art spezialisiert hat. Aber Rickert weiß denn doch und sagt es auch, daß diese Tätigkeit mit seinem Problem nichts zu schaffen habe. In Auffassung und Darstellung der Geschichte, in der Geschichtsschreibung also sollen die historischen Begriffe allein zu finden sein. Geschichtsschreibung ist aber Erzählung wie jede andere Erzählung; Herodotos und Livius, Gibbon und Taine, Ranke und Mommsen unterscheiden sich von einem großen dichtenden Erzähler nur durch die Stoffbildung, durch die Wahrheit der Geschichten (wenn nicht auch dieser Unterschied ein relativer wäre), nicht durch das gemeinsame Ausdrucksmittel der Sprache, nicht durch die Begriffe. Es wäre denn, daß der Historiker Ideen und Gesetze gäbe anstatt Tatsachen, Unwahrheit anstatt Wahrheit, so daß er nicht mehr ein guter Erzähler, sondern ein schlechter Dichter zu heißen verdiente.

Ein paar Beispiele sollen mir helfen, über den Widersinn der Bezeichnung historische Begriffe aufzuklären. In der unabsehbaren Masse der organischen und unorganischen Naturdinge haben sich die Menschen so viel ordentlicher und zweckmäßiger zurechtgefunden als die Tiere, weil sie seit Menschengedenken (seitdem es Sprache gibt nämlich) ähnliche Dinge unter Worten oder Begriffen zusammengefaßt haben. Und so immer höher hinauf wieder die ähnlichen Begriffe, bis in unsern Naturwissenschaften eine recht bequeme, meinetwegen bewunderungswürdige Übersicht möglich wurde. Die Aufmerksamkeit der Menschen ist immer vom Interesse gelenkt und die Sprache ist immer materialistisch. Da war es denn nicht gleichgültig, ob die naturwissenschaftliche Begriffsbildung am Interesse haften blieb oder nicht, interesselos, d. h. wissenschaftlich wurde oder nicht. Es gab etwas wie Botanik auch damals schon, als man unter den Kräutern absonderlich die Gruppen der offizinellen Kräuter und der Küchenkräuter heraushob; aber die Botanik ist doch etwas wissenschaftlicher geworden, seitdem man die Pflanzen ohne das Interesse an der Heilkraft und an ihrem Wohlgeschmack nach Familien ordnet. Ebenso ist die Mineralogie wissenschaftlicher geworden, seitdem sie nicht mehr allein dem Interesse des Bergmanns dient; die Astronomie, seitdem ihr Nutzen für die Kalendermacher nur noch nebenbei abfällt und Astrologie nicht mehr geglaubt wird. Ob die Einteilungsgründe der naturwissenschaftlichen Gruppen übrigens natürlich oder künstlich sind, das gehört auf ein anderes Feld. Die Sehnsucht und damit die Annäherung an ein natürliches System macht unser Naturwissen nach unserm Sprachgebrauch zu Wissenschaft.

Durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, die auch die natürliche Begriffsbildung der Sprache ist, ist die unabsehbare Masse der Naturdinge übersehbar geworden. Das springt noch deutlicher in die Augen, seitdem die Einführung des Mikroskops und dann die Einführung des Infinitesimalen in die Theorie die Zahl der Dinge für Naturgeschichte und Physik fast grotesk gesteigert hat. Denn die Zahl der Elemente oder Arten oder Begriffe ist nur ganz unverhältnismäßig wenig gewachsen. Es gibt eben in der Natur Milliarden von Dingen, die die Wissenschaft mit Recht als identisch ansieht, die die Sprache mit Recht unter einem Worte oder Begriffe zusammenfaßt.

Auch die historische Forschung ist im 19. Jahrhundert mikroskopisch geworden. Man hat nicht nur viele Archive ausgeschüttet und unendliche Sammelwerke von Inschriften in bekannten und unbekannten Sprachen angelegt, man hat gesammelt und sammelt weiter, was irgend über oder unter der Erde einmal war und vielleicht einmal für irgendein noch nicht vorhandenes historisches Thema benützt werden könnte. Aber diese unabsehbare Masse historischer Beobachtungen ist nicht begrifflich klassifizierbar, ist nicht zu ordnen, weil es da kaum einmal Ähnlichkeiten gibt, niemals Identitäten. Das Notizenmaterial für die Schlacht von Sedan ist ungeheuer groß, weil jeder Befehlszettel jedes Offiziers aufbewahrt worden ist; aber auch das Notizenmaterial der Schlacht von Marathon ist sehr groß geworden, wenn man alle philologischen Untersuchungen über die paar Zeilen der Quellen von Herodotos bis Suidas hinzunimmt, dann die unendliche Fülle der Ausgrabungen bis herunter zu der mikroskopischen Untersuchung der Aschenlage des Grabhügels auf dem Schlachtfelde. Und dieses ganze Material setzt den Geschichtsschreiber doch nur instand, den Verlauf der Schlacht von Marathon, den Verlauf der Schlacht von Sedan wahrheitsgetreuer zu erzählen, in zehn Zeilen oder in einem Bande von 1000 Druckseiten. Zu einem wissenschaftlichen Schlusse berechtigen diese Erzählungen nicht, die immer wieder nur einen einzigen Fall berichten. Eine einzige mikroskopische Untersuchung einer Fliege von einer bestimmten Art läßt darauf schließen, alle richtig beobachteten Tatsachen bei tausend andern Fliegen der gleichen Art wieder zu finden; die genaueste Betrachtung von tausend Schlachten läßt den Ausgang keiner einzigen vorhersagen. Noch einmal: »Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt«; der nachwirkende Enthusiasmus der Schlacht von Marathon ist wieder eine sog. historische Tatsache, die nicht anders wird dadurch, daß die neuen Forschungen die Aufschneidereien der Athener enthüllt und die Völkerschlacht zu einem kleinen Arrièregardengefecht zurechtgerückt haben. Fliege ist ein naturwissenschaftlicher Begriff, der methodisch verbessert werden konnte; Schlacht ist ein nachlässiger Begriff der Gemeinsprache, der durch keine Methode verbessert werden kann. Es gibt keine historischen Begriffe.

Aus dem unabsehbaren Nebeneinander der Naturdinge vollzieht zuerst grob die Gemeinsprache und dann immer feiner die Wissenschaft die Auswahl der ordnenden Begriffe, die eine Übersicht ermöglichen. Die Auswahl der Einteilungsgründe, wohlgemerkt; so interesselos, uneigennützig, wie die Sprache und nachher die Wissenschaft gelernt hat, Farben und Töne zu ordnen und das Fallen eines Steines mit dem Lauf der Gestirne uneigennützig unter einen Begriff zu bringen. Auch die bessere Geschichtsschreibung trifft eine Auswahl: sie bewertet die Schlachten Napoleons höher als seine Weibergeschichten. Aber die Werturteile der Geschichte können gar nicht interesselos sein, sie sind wesentlich vom Interesse gerichtet, selbst dann, wenn der Geschichtsschreiber einzig und allein der Kausalkette bis zur Gegenwart nachgehen wollte. Das Interesse an der jeweiligen Gegenwart, besser: ein gegenwärtiges Interesse trifft die Auswahl aus der Vergangenheit. In unsern Schulen wird die Geschichte Roms, Griechenlands und Israels ausführlich behandelt; in Japan kümmert man sich wenig um Rom, Hellas und Israel. Anders trifft ein Franzose die Auswahl, anders ein Deutscher. Die alte Forderung, der pragmatische Historiker solle keinen Glauben und kein Vaterland haben, ist unerfüllbar. Auf die Folgen für die Wahrheit der Geschichtsschreibung will ich noch zurückkommen.

Durch die Beziehung auf die jeweilige Gegenwart ist die beste Geschichtsschreibung immer journalistisch im höchsten Sinne. Tacitus, Macchiavelli, aber auch Gervinus und Mommsen wollten auf ihre Zeitgenossen wirken. Mit tendenziösen Darstellungen. Mit bewußten oder unbewußten Fälschungen, die man ja auch Satiren nennen kann. Seit Gustav Freytag bis auf den heutigen Tag ist der Cäsarenwahnsinn Neros ein beliebtes Thema solcher Satire. Ob Nero so war, wie er dargestellt wird, bleibe unentschieden. Was aber kann die Geschichte mit dem Begriffe Cäsarenwahnsinn anfangen? Wahnsinn ist ein allgemeiner, ungenauer Begriff der Gemeinsprache, ein nur wenig gesäuberter Begriff der Naturwissenschaft, die in diesem Falle physiologische Psychologie heißt. Einen historischen Begriff Cäsarenwahnsinn gibt es nicht, man müßte denn darunter die Predigerbanalität verstehen, daß übergroße Macht zu Ausschreitungen verführt.

Nun könnte man mir entgegenhalten, daß die Neuzeit eine ganze Reihe von Wissenschaften aufgebaut hat, die zugleich naturwissenschaftlich und historisch sind. Wir haben oder glauben zu haben außer der bloß gelehrten Geschichte der einzelnen Naturwissenschaften auch etwas viel Größeres: eine Geschichte der Naturdinge. Wir reden seit Kant von einer natürlichen Entstehung unseres Planetensystems, der Naturgeschichte des Himmels, wir könnten seit Mendelejeff von einer Geschichte der Elemente reden, und die Geschichte des Erdkörpers ist uns ein so vertrauter Begriff geworden, daß man das bißchen Weltgeschichte recht gut als Nachtrag zu einer Geologie auffassen könnte. Könnte man nun von diesen Geschichten der Naturdinge als von historischen Begriffen reden? Nein.

Diese Geschichten werden immer weniger Wissenschaft und immer mehr Historie, je mehr Leben oder gar Psychologie in ihren Objekten steckt. Am ehesten könnte man und ganz verwegen von einer Geschichte der Naturdinge bei den sog. chemischen Elementen sprechen, wenn diese – wie man jetzt anzunehmen beginnt – aus einem Urelement hervorgegangen wären. Diese Entwicklung bleibt aber eine Hypothese, bis ein Versuch im Laboratorium den Nachweis erbracht hat; dann aber kann die Verwandlung der Elemente wiederholt werden, gehört der Naturwissenschaft an, und die erstmalige Verwandlung der Urelemente in andere Elemente ist nur noch ein Spezialfall eines Naturgesetzes.

Die Entstehung unseres Planetensystems wäre wiederum – die Richtigkeit des Kant-Laplaceschen Systems vorausgesetzt – nur von unserem Sonnensystemstandpunkte aus Geschichte, ein Spezialfall; für den Kosmos, wenn wirklich am Himmel ähnliche Systeme im Sinne der Laplaceschen Theorie entstehen und vergehen, wären ungezählte Wiederholungen vorhanden; die verifizierte Hypothese wäre ein Naturgesetz. Nur unser Einzelfall wäre Geschichte, wie ihr eigenes Leben auch für die Fliege ihre Geschichte ist.

Dasselbe gilt für die Geologie. Wüßten wir auch alles Erforschbare über die Entstehung der festen Erdkruste, wäre eine ähnliche feste Kruste auf den andern Planeten eine verifizierte Hypothese und würde der gegenwärtige Aggregatzustand der Sonne und der Fixsterne einem uralten Zustande der Planeten sicher entsprechen, so hätten wir gesetzliche Wiederholungen, von denen unsere Geologie nur ein Spezialfall der Astrogonie wäre. Die Geschichte all dieser Naturdinge wäre also etwas ganz anderes, wäre nach dem Sprachgebrauch weit mehr Wissenschaft als die Menschengeschichte, die sog. Weltgeschichte auf der Erdkruste, weil doch keine ernsthafte Hypothese von menschenähnlichen Wesen auf irgendeinem Himmelskörper zu sprechen berechtigt. Die Weltgeschichte also ist auch von diesem Gesichtspunkte aus eine ganz einzige und individuelle Erscheinung, ist kein Spezialfall wiederholter Regelmäßigkeiten, läßt sich mit nichts auf der Welt vergleichen. Man sieht also: die neu erschlossene Geschichte der Naturdinge nähert sich immer mehr einer naturwissenschaftlichen, gesetzfindenden Behandlung, je toter, unlebendiger, seelenloser die Naturdinge für unsere menschliche Auffassung sind; versagt sich der wissenschaftlichen Behandlung um so mehr, je psychologischer die Vorgänge für uns sind. Könnten wir Entstehung der Elemente, Astrogonie und Geologie in kleinen Laboratoriumsversuchen wiederholen, dann würde diesen Historien der Naturdinge doch wieder etwas von ihrem Geschichtscharakter genommen, weil die Zeitfolge, die in der Menschengeschichte das einzige Band ist, gleichgültig wird für wiederholte Versuche. Seitdem Sauerstoff in der Retorte hergestellt worden ist, kann Sauerstoff immer hergestellt werden. Der psychologische Wille eines Schlachtenlenkers ist weder bei ihm selbst wiederholbar, noch bei andern Schlachtenlenkern.

VI.

Unter allen Teilaufgaben der Geschichte geht uns hier am meisten diejenige an, die sich selbst Geschichte der Philosophie nennt. Sie steht in großem Ansehen und sie existiert sogar. Aber die Unmöglichkeit zu historischem Wissen zu gelangen steigert sich in dieser Disziplin zu einer Groteske, nur daß die Forscher, die gerade jetzt wieder gepriesen werden und Preise verteilen, das Organ für Auffassung der Groteske in ihren eigenen Bemühungen verloren haben. Die Entwicklung des menschlichen Geistes in seinen höchsten Äußerungen will man darstellen, die Entwicklung von Worten will man in Worten abbilden. Wenn man aber mit dem Werkzeug der Sprache schon nicht an die Erkenntnis der Wirklichkeit herankann, so kann man mit diesem elenden Werkzeug noch viel weniger heran an die Entwicklung des Werkzeuges selbst. Und das allein wäre doch eine Geschichte der Philosophie.

Zwei Umstände verhindern philosophisch ernsthafte Arbeit auf diesem Gebiet. Wie denn auch die stärksten philosophischen Köpfe für die Geschichte des Geistes oder des Denkens niemals viel übrig gehabt haben; Platon, Spinoza, Kant als Historiker der Philosophie tief unter Kuno Fischer zu stehen kämen. Wie auch Cäsar und Napoleon Weltgeschichte gemacht, aber nicht geschrieben haben, höchstens die Geschichte ihres eigenen Lebenswerks gefälscht haben, um durch solche Fälschung weiter Geschichte zu machen.

Die beiden Umstände, die eine ernsthafte Philosophiegeschichte nicht zulassen, beziehen sich auf den festen Standpunkt des Darstellers und auf die Undarstellbarkeit des Darzustellenden. Wie wenn ein Photograph die Luftbewegung auf die Platte bringen wollte, besäße aber kein Stativ für seinen Apparat und keine für die Luft empfindliche Platte.

Der Standpunkt des Beobachters verschiebt das Bild der historischen Gedankenwelten nicht nur für den Beobachter. So ein alter Philosoph ist nicht an sich unveränderlich wie etwa ein tierischer Organismus, der im ganzen und großen immer der gleiche bleibt und an dem die Forscher mehr und mehr sehen und beschreiben; so ein alter Philosoph verändert sich in der Geschichte, meinetwegen in der Geschichte der Philosophie. Weil die Weltanschauung des Mannes in den Worten seiner Individualsprache niedergelegt war und weil alle diese Worte bis zu diesem Philosophen die Wortgeschichte der Gemeinsprache mitgemacht haben, nach seiner Geistestat jedoch, durch seine Geistestat eine neue postume Wortgeschichte beginnen, weil jeder Bahnbrecher die Bahn einer neuen Geschichte gebrochen hat, weil jeder Geschichtsschreiber diese Bahn vorwärts gar nicht und rückwärts nur von dem Punkte übersehen kann, auf den ihn der banale Zufall seiner Geburt gestellt hat: darum sieht und hört jeder Geschichtsschreiber den alten Philosophen so, wie die Zeitgenossen des Geschichtsschreibers just sehen und hören gelernt haben. Das Stativ ist auf keinen ewigen Horizont gestellt, es gibt keine Wasserwage für eine normale horizontale Ebene und darum hängt es vom Zeitgeiste ab, ob so ein Gipfel hoch oder niedrig erscheint. Die Geschichtsschreiber, die heute andere Gipfel auszeichnen als die des 16. Jahrhunderts, sind ebenso gute Leute wie die des 16. Jahrhunderts waren. Sie können die Geschichte der Philosophie nicht bezwingen, weil sie von der innern postumen Geschichte der einzelnen Gedankenwelten bezwungen werden. Gezwungen z. B. in Spinoza und Kant höchste Gipfel zu sehen, auf Demokritos, der noch vor 50 Jahren ein Gipfel war, hinabzusehen.

Dabei habe ich noch gar nicht in Betracht gezogen, daß der Geschichtsschreiber, wenn er nicht ein ganz kleiner Alexandriner ist, seinen Beobachterstandpunkt doch anfangs nur vorläufig wählt und während seiner kleinen Lebensarbeit notwendigerweise ändert; daß ein besonders tüchtiger Geschichtsschreiber der Philosophie doch wieder durch richtige oder falsche Aufnahmen Neuwertungen einführt, die zu Gemeinplätzen machen, was er für sich in jahrelangen Kämpfen erstritten hat. Und es macht für die historische Betrachtung wieder sehr viel aus, ob das Urteil über irgend eine alte Gedankenwelt für kühn oder für selbstverständlich gilt. Die Geltungsgeschichte der platonischen Ideen würde genügen, um diese Unfreiheit in der Philosophiegeschichte vielfach zu belegen. Aber in unserer raschlebigen Zeit brauchen wir nicht den Zeitraum von 2000 Jahren. Zwanzig Jahre nach dem Ende seines Schaffens ist Nietzsche in der postumen Geschichte seiner Gedanken schon so weit gekommen, daß die Professoren anfangen, »das Bourgeoise« seiner Paradoxen nachzuweisen. Nicht einmal seine Schriftstellerqualitäten konnten ihn davor schützen, daß der Zeitgeist oder die Mode ihn für die Geschichte zurechtmacht. Denn auch die Dichter haben in der sogenannten Literaturgeschichte ihr postumes Eigenleben. Fast zwei Jahrtausende war Virgil ein Gipfel und einige Jahrhunderte lang ein Zauberer dazu; jetzt treibt er als Vergilius ein kümmerliches Dasein auf dem Ausgedinge der Lateinschule.

Eine Vorstellung oder Ahnung von dieser Beweglichkeit des Standpunktes der Philosophiegeschichte hat der große Konstrukteur des philosophischen Historismus schon gehabt, Hegel; weil ihm aber die Philosophie der objektive Geist ist, »dessen denkende Natur es ist, das, was er ist, zu seinem Bewußtsein zu bringen«, so sieht er in der Geschichte der Philosophie ein Ganzes auf verschiedenen Ausbildungsstufen und kommt zu einem für ihn selbst sehr schmeichelhaften Schlusse (Encyklopädie d. philosoph. Wissensch. II. Ausg. § 13): »die der Zeit nach letzte Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Philosophien und muß daher die Prinzipien aller enthalten; sie ist darum, wenn sie anders Philosophie ist, die entfaltetste, reichste und konkreteste.« Mit andern Worten: Hegel war für Hegel der Gipfel und die Entwicklung hätte von Rechts wegen mit ihm ein Ende haben sollen.

Drolliger ist es, wenn ein Schulmeister wie Kuno Fischer (in der Einleitung zu der Geschichte der neueren Philosophie) den Kothurn eines Hegel anschnallt und auf dialektischem Wege den Beweis führt, daß nun Kuno Fischers Siegesallee der neueren Philosophie (in 9 Bänden) der wahre Gipfel ist. Philosophie ist Selbsterkenntnis des Menschengeistes, des objektiven. Immer sind es Wendepunkte, wenn Selbsterkenntnis zur neuen Grundlage gemacht wird. Solche Wendepunkte sind selten. »Sie erscheinen (die Wendepunkte?) immer nur, wenn die Zeiten erfüllt sind.« Eigentlich dürfte es gar keine Geschichte der Philosophie geben; denn Wahrheit ist nur eine und hat darum keine Geschichte; aber der kritische Geschichtsschreiber der Philosophie empfängt seinen Standpunkt eben von der Geschichte, der Menschengeist, der Gegenstand der Philosophiegeschichte (auch dieses Wort stammt von Hegel) ist lebendig, historisch, also fällt Geschichte der Philosophie und Bewußtwerden der Geschichte des Menschengeistes zusammen. »Wenn das Objekt der unendliche Geist ist, so ist die Wahrheit selbst eine lebensvolle Geschichte.« So kommt auch Fischer zu dem wiederum für ihn schmeichelhaften Schlusse, daß Philosophie nichts anderes sein kann als Geschichte der Philosophie, daß also Kuno Fischer der Gipfel. Nicht nur etwa Erkenntnistheorie, sondern auch Lebensweisheit fällt unter diesen Begriff. »Wir befreien uns von unsern Leidenschaften, sobald wir sie denken; sie hören auf unser Zustand zu sein, sobald sie unser Gegenstand werden ... die Akte der Selbsterkenntnis sind in unserm Leben, was die Monologe in einem Drama, die Handlung zieht sich aus dem bewegten Schauplatz der Außenwelt in das innerste Gemüt zurück.« Man könnte einwenden, daß nur der Wendepunkt-Philosoph der Dichter solcher Monologe ist, der Philosophiehistoriker aber, der den fremden Text hersagt, nur etwa ein Schauspieler.

Das große und das kleine Beispiel von Hegel und von Kuno Fischer zeigen, wie die Beweglichkeit des Standpunktes schließlich dazu führen kann und im Grunde immer geführt hat, den eigenen Standpunkt für den äußersten Gipfel zu halten. Wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht. Hegel und Kuno Fischer standen ja nicht allein auf diesem Wahn; Hegel hat die deutsche Welt, Kuno Fischer Hunderte von Studenten und Professoren zu Gläubigen gemacht.

Der zweite Umstand, der eine Geschichte der Philosophie verhindert, Wissenschaft zu werden, ist wie gesagt, die Unmöglichkeit, den Gegenstand dieser Geschichte in dauernden Worten festzuhalten. Wir verstehen kaum die Sprache unserer Zeit, selten einer die Sprache des andern, niemals die Sprache eines Toten. Wir verzeichnen die Schlachten der Weltgeschichte und die Bücher der Helden der Philosophiegeschichte. Die Psychologie der Eroberer kennen wir nicht, die Psychologie der Geisteshelden noch weniger, gerade darum noch weniger, weil nur Worte von ihnen übrig geblieben sind. Ceciderunt in profundum. Wir haben uns auf der Gondel eines Fesselballons hoch in die Lüfte gehoben; ein starkes Seil verbindet uns allein mit der Erde, mit der Vergangenheit. Wollen wir wirklich das Seil Faser für Faser aufdröseln, um unsere Verbindung mit der Erde, um unsere Vergangenheit besser zu verstehen? Eine Arbeit für Seiler. Vor dem Aufdröseln der letzten Faser wäre unser Ballon losgerissen.

VII.

Mitten inne zwischen den Historien der Naturdinge, die wir tot oder unorganisch nennen, und der psychologischen Menschengeschichte stünde die Entwicklung der Organismen auf der Erdkruste, die auch zeitlich ein Zwischenglied zwischen Geologie und Menschengeschichte wäre. Wäre diese Entwicklungslehre mehr als eine anregende Kampfhypothese gegen den Bibelglauben, wäre sie verifiziert, so stünde sie der Geschichte der toten Naturdinge wissenschaftlich etwas näher als die Menschengeschichte, weil sie frei ist von Psychologie. Ganz frei sein sollte.

Auch mit der Hypothese des Panpsychismus, der die Elemente und die Gestirne, die Gesteine und die Organismen mit menschenähnlichen Seelen begaben möchte (wird auf Menschenähnlichkeit Verzicht geleistet, so verliert die Metapher jeden Sinn), ist für die große Geschichte der Naturdinge nichts anzufangen. Möchte man dann die treibende Kraft der Entwicklung Pantheismus oder Panpsychismus nennen, einerlei, es wäre doch nur eine philosophische Terminologie für unsere Unwissenheit und die Geschichte der Naturdinge würde um so mehr zufällig, je mehr wir uns bemühten, sie der Menschengeschichte ähnlich, sie innerlich zu fassen.

Daß aber Weltgeschichte ein Werk des Zufalls sei, daß keine gewollten Zwecke irgend einer weltbaumeisterlichen Intelligenz in ihr zu entdecken seien, das gerade bestritten und bestreiten die ganz edlen Menschen, die das Schöne und das Gute auch dann noch in der Vergangenheit suchen, wenn sie es in ihrer Gegenwart nicht gefunden haben. Sie wollen nicht glauben, daß die Geschichtsschreibung längst erstrebt hat, was die literarische Bewegung vor etwa 20 Jahren als neues Dogma verkündete: von jeher war Geschichte eine künstlerische Erzählung von äußerstem Naturalismus. Und die besten Romane des Naturalismus (Zolas Débâcle, Stendhals Chartreuse de Parme) sind Geschichte. Die ganz edeln Menschen, die immer auf einige Worte des Glaubens schwören, sind übrigens modern und lassen der Ästhetik ihr Recht. Die Ästhetik mag auf ihrem Gebiete den Begriff des Sollens abschaffen. Aber beileibe die Ethik nicht anstecken. Die edeln Menschen wollen nicht begreifen, daß beide Begriffsgruppen aus ähnlichen Werturteilen bestehen, daß Ethik so etwas wie innere Ästhetik ist, daß in den Wirkungen der Musik z. B. ethische und ästhetische Erregungen schwerlich rein zu trennen sein dürften. Die Weltgeschichte soll ethisch sein oder sie soll den Namen einer Wissenschaft nicht verdienen. Der Mensch als Objekt der Poesie braucht nicht zu sollen; aber der handelnde Mensch, der doch immer gewissenlos ist, muß sollen, die Menschheit als Ganzes muß erst recht sollen. Die Geschichte soll.

Diese hübsche Vorstellung, dieser Katechismus aller guten Menschen ist kaum jemals so geradlinig aufgestellt worden, zum Umwerfen geradlinig, wie in einer Rektoratsrede von Lazarus vom Jahre 1863. Sie ist im dritten Bande der Zeitschrift für Völkerpsychologie, von 1865, abgedruckt. Der liberale Professor polemisiert noch gegen Bismarck und weiß noch nichts von Darwin; er macht noch rituelle Verbeugungen vor Rom und Hellas, eine besonders tiefe vor dem Gotte Israels.

Klug, beredt und geistreich spricht Lazarus »über die Ideen in der Geschichte«. In der Zeit des historischen Höhepunktes ist er, der Schüler Wilh. v. Humboldts, besonnen und scharfsichtig genug, alles zu wissen und zu sagen, was sich gegen die wissenschaftliche Qualität der Geschichte einwenden läßt. Erforschung und Darstellung der Geschichte sei alt; der Versuch, sie als Wissenschaft zu behandeln, sei neu (389). Geschichtsschreibung könne die unendliche Fülle der Chroniken kürzen, könne aber nichts verallgemeinern. Die Wahrheit der Ereignisse werde nach ihrer Vereinbarkeit mit den uns bekannten Naturgesetzen beurteilt (393). Aber diese Negation genügt ihm nicht. Die Auffassung der Geschichte und ihre Darstellung als die Folge der mechanisch wirkenden Kausalität sei nur eine niedrige Form der Erkenntnis, beides dem Werte und der Wahrheit nach; sie könne unser höchstes Interesse nicht reizen, noch weniger befriedigen (399). Und Lazarus tut, was die armen Menschen immer tun, wenn sie ihr höchstes Interesse reizen oder gar befriedigen wollen: er legt Ideen hinein. Ideen werden nun nicht bloß Zwecke, sondern Prinzipien der Geschichtsschreibung, weil sie auch die Prinzipien, die Quellen des Geschichtslebens sind. Lazarus verwahrt sich umsonst dagegen, ein Hegelianer zu sein. Die Ideen haben es ihm angetan. Er sieht, daß das Wirkliche nicht vernünftig ist, daß keine Harmonie besteht zwischen den vernünftigen Ideen und der wirklichen Geschichte; und er quält sich ab, den Gegensatz dialektisch zu überwinden. Die Ideen müssen wirklich sein, absolut, weil sie dem Unedeln gegenüberstehen. »Nicht die Wirkung der Ideen ist absolut, sondern nur ihr Wert, nicht ihre Leistungen sind unbedingt, sondern nur ihre Forderungen« (422). Dieser Gregers Werle hält seine idealen Forderungen nicht den einzelnen armen Menschen vor, aber um so dringender der ganzen Menschheit. Er glaubt an das Abstractum Menschheit, die gar keine juristische Person ist und die Forderung nicht einzulösen braucht. »Daß die Ideen wirklich die Geschichte beherrschen, kann man so wenig bestreiten, daß man vielmehr sagen möchte, sie seien fast gar die Geschichte selbst, alles andere nur Mittel und Erfolg« (433). Ideen müßten freilich erst verwirklicht werden, daneben seien sie aber auch wirklich; »unser Denken ist eben so eine unvollkommene Auffassung (Nachbildung) der Ideen, wie die wirkliche Welt eine unvollkommene Gestaltung derselben ist« (440). Die Ideen bringen es fertig, zugleich subjektiv und objektiv zu sein; sie haben objektive Wahrheit »auch vor und außer dem menschlichen Geiste an und für sich gedacht.« Auf die entscheidende Frage, wie und wo diese reinen objektiven Ideen etwa existieren, antwortet er so wie alle Fachgelehrten, seitdem es Fachwissenschaften gibt, die letzten Fragen nach den obersten Begriffen ihres eigenen Fachs beantworten, beantworten müssen; man wird, wie auf einem schlechten Polizeibureau von Zimmer zu Zimmer, von Hörsaal zu Hörsaal geschickt: »der Ort, wo diese Frage einen Sinn gewinnen und Antwort heischen kann, ist die Metaphysik ... wir dürfen selbstverständlich diesen Weg hier nicht betreten« (477). Lazarus, dem Mitbegründer der neuen Disziplin der Völkerpsychologie, genügt es, die Ideen den einzelnen Menschen abgenommen und sie der Gesamtheit aufgebürdet zu haben; »nur als Glieder und Träger des Gesamtgeistes sind sie Träger und Förderer der Ideen« (482).

Lazarus ist der Sprecher, der Prediger des Gesamtgeistes. Die sittlichen Ideen in ihrer historischen Entfaltung sind ihm eine empirische Tatsache. »Sodann aber ist, so sicher und unleugbar wie jedes andere empirische Faktum, dies eine empirische Tatsache, daß das mit den Ideen verbundene Sollen, die kategorische Verpflichtung auf den Inhalt, die innere Notwendigkeit der Anerkennung, die unabbeugliche und unausweichliche Kraft der Überzeugung im Bereiche des Sittlichen ebenso stark, so unbedingt, so zuversichtlich ist, wie in jeder sinnlichen Wahrnehmung, in jeder mathematischen Anschauung« (478). So lehrte Lazarus just die ewige Wahrheit des kategorischen Imperativs, als der Historismus in seiner Selbstzersetzung schon die ewigen Wahrheiten der Arten und der Zwecke gebrochen hatte, als der Historismus sich anschickte, die ewigen Wahrheiten der ethischen Begriffe zu brechen. Und ich habe soviel von Lazarus angeführt, weil er faßlicher und besser als mancher Neuere das metaphysische Bedürfnis der ganz edeln Menschen ausgesprochen hat, weil mit gleichem dialektischen Wortaberglauben seit der angeblichen großen Revolution der Ethik und der Geschichtsauffassung, die Lazarus noch entsetzt miterlebte, just das alte Dogma gesprochen und gepredigt wird. Auch mit den neuesten Ideen wird ein Sollen verbunden. Schön wird häßlich, häßlich schön, aber wir sollen immer mit. Gut wird zu böse, böse wird zu gut; wir sollen mit. Der Brecher des Sollbegriffs ist noch nicht erschienen, kann nicht erscheinen, solange die Sprache nicht über ihren eigenen Schatten gesprungen ist.

VIII.

So glaube ich logisch und sogar historisch erwiesen zu haben, daß die Daten der Menschengeschichte sich zu keiner Wissenschaft ordnen lassen, weil ihr Erscheinen immer nur einmalig ist und ihre Motive immer psychologisch sind. Nur der Hinweis darauf bleibt mir noch übrig, daß die Daten selbst viel weniger gesichert sind als der gutgläubige Leser eines Geschichtsschreibers sich suggerieren läßt. Wollte man den Begriff der Wahrscheinlichkeit, der doch in der Blütezeit der mathematischen Wahrscheinlichkeitslehre auf den Abstimmungswert der Majorität und auf den Wahrheitswert gerichtlicher Urteile angewandt worden ist, gar auf die Gewißheit geschichtlicher Tatsachen anwenden, das Ergebnis würde erschrecken. Selbst die trockenen Tatsachen, die zusammen nach Sprachgebrauch noch nicht Geschichte geben, sondern nur Chronik, sind um so weniger gesichert, je weiter wir in die Vergangenheit zurück und je weiter wir ins Detail gehen. Die meisten Schlachten sind so ausgefallen, wie in der Chronik steht, aber wir wissen von Waterloo doch viel genauere Details als von Pavia oder von Arbela. Wir kennen die letzten Stunden Kaiser Wilhelms und Napoleons, als ob wir unter der Dienerschaft dabei gewesen wären, wir wissen von der Ermordung Cäsars, deren Wahrscheinlichkeit doch wohl gleich 1 ist, erstaunlich viel, wir wissen trotz aller Berichte wenig über die Todeskrankheit Alexanders des Großen. Wir wissen fast zuviel Lebensdaten von Goethe, wir wissen fast nichts von Shakespeare, von Homeros nicht einmal, ob er gelebt hat.

Nicht einmal brutale Tatsachen, die unsere Großeltern aufs heftigste erregten, lassen sich verifizieren. Ist das Söhnchen von Ludwig XVI., das offiziös als Ludwig XVII. gezählt wird, im Temple gestorben oder nicht? War der Uhrmacher Naundorff, der 1845 in Holland unter dem Titel des Dauphin begraben wurde, der Erbe Ludwigs XVI. oder nicht? Wenn aber der Tod im Temple erfolgte: war das Kind, das am 8. Juni 1795 starb und obduziert wurde, der richtige Dauphin? oder ist der richtige Dauphin schon am 19. Januar 1794 ermordet und durch ein totgeweihtes, skrofulöses Proletarierkind ersetzt worden? Hundertjährige Kleinarbeit der Historiker hat die Fragen nicht entschieden.

Wenn die Revolution von 1789 in ihren Ereignissen (und nun gar in ihrer Psychologie) nicht wahrhaftiglich erzählt werden kann, was sollen wir von der Wahrheit über die Revolution halten, die Reformation heißt? »Die Ursachen der Reformation«. Jedes kleinste Schülerbuch zählt die Ursachen auf. Unter ihnen die Aussaugung Deutschlands durch die Geldgier des päpstlichen Hofes. Aber nicht einmal über die Vorfrage ist man einig: ob deutsches Geld um 1500 in stärkeren Strömen nach Rom geflossen sei als früher; katholische und protestantische Historiker kommen zu entgegengesetzten Ergebnissen, mit gleicher Wahrscheinlichkeit. Fragt man gar nach dem Entscheidenden: was in der Seele des einfachen Mannes vorging, der sich der lutherischen Bewegung anschloß, – fragt man, ob der einfache Mann in dem neuen Kirchenbegriff, in der Abkehr von den guten Werken ein Novum sah oder ein Festhalten an alter Wahrheit, so gibt es keine Antwort.

Und weiter zurück. Ist Jesus am Kreuze gestorben? oder haben seine Getreuen ihn noch lebendig bergen können? Beide Behauptungen werden mit gleicher Wahrscheinlichkeit bewiesen. Über das Seelenleben aber der ersten, welche in Jesus den Christus sahen, wissen wir nichts. Und toll gewordene Modeschreiber werfen dazu die Frage auf, ob Jesus ein Arier gewesen sei oder nicht. Als ob diese Frage überhaupt einen wissenschaftlichen Sinn hätte. Als ob sie einen andern Sinn haben könnte als den: nachdem wir das Seelenleben Jesu Christi so genau kennen, als ob wir mit ihm einen Scheffel Salz gegessen hätten, beschließen wir aus innern Gründen, ihn einen Arier zu nennen.

Der neueste Methodiker der Geschichtswissenschaft, Bernheim, hat in seinem großen Lehrbuch und dann in der kleinen »Einleitung in die Geschichtswissenschaft« Wesen und Arbeitsmittel dieser Disziplin im Geiste unserer Zeit gut und anregend behandelt. Er hat natürlich gründliche Kritik der Quellen gefordert und gibt schlagende Beispiele zu den Fehlern einer unkritischen Zeit. Aus jener Zeit solle das geflügelte Wort stammen: l'histoire n'est qu'une fable convenue, das doch wohl auf Voltaire zurückgehen wird. Aber die aufräumende und einschneidende Kritik habe keinen Zweifel an der Erreichbarkeit sicherer historischer Kenntnisse überhaupt mit sich gebracht. Bernheim fährt fort (Einleitung S. 76): »Die alte grundsätzliche Skepsis gegen die Gewißheit aller menschlichen Erkenntnis im allgemeinen ist unserer Wissenschaft kaum nahegetreten, weil der Gegenstand der Geschichte (die Betätigungen der Menschen) zu überzeugend dem entspricht, was wir täglich in unserm eigenen Geistesleben als wirklich erfahren, um dem Zweifel Raum zu lassen, ob es nicht Wirklichkeit, sondern nur Sinnenschein sei, was die Geschichte unserer Erkenntnis darbiete.« Du ahnungsloser Engel du! Dabei kennt Bernheim sehr gut William Sterns radikale Untersuchungen zur »Psychologie der Aussage«, kennt die Gebrechlichkeit der menschlichen Erinnerung und zitiert selbst die Anekdote von Sir Walther Raleigh, »der das Manuskript zum 2. Bande seiner Weltgeschichte ins Feuer geworfen haben soll, weil ihm ein Straßenauflauf, den er vom Fenster aus mit angesehen hatte, gleich darauf von einem andern Augenzeugen wesentlich anders berichtet wurde, als er selbst beobachtet hatte«.

Von den gar vielen ernsten Männern, deren Skepsis allerdings auch der Geschichtswissenschaft nahezutreten wagte, will ich nur noch einen nennen.

Lessing, der doch alten Autoren mehr als dem Evangelium zu glauben geneigt war, kam durch seine Beschäftigung mit der Kirchengeschichte dazu, »die Schranken der Menschheit und das Gewerbe des Geschichtschreibers« näher anzusehen. Aus Vopiscus zitiert er (»Duplik«): Neminem scriptorum, quantum ad historiam pertinet, non aliquid esse mentitum. »Welcher Geschichtschreiber wäre jemals über die erste Seite seines Werkes gekommen, wenn er die Beläge aller ... kleinen Bestimmungen jedesmal hätte bei der Hand haben müssen ... So straff den Zügel in der Hand, kann man wohl eine Chronik zusammenklauben, aber wahrlich keine Geschichte schreiben.«

Vielleicht darf ich einen krassen Fall von gebrechlicher Erinnerung und gefälschter Aussage aus eigenem Erleben beifügen. In einem Mordprozeß als Zeuge vorgeladen, passierte es mir, daß ich den des Mordes verdächtigen Mann, und zwar wenige Minuten nach der Vorführung, mit einem zweiten Strolche verwechselte, der dem ersten weder im Gesicht, noch in Gestalt, noch in Sprache, noch in Kleidung irgendwie ähnlich war, einfach unter der Suggestion der beiden gleich konfiszierten Gesichter.

Die Gläubigkeit Bernheims wird verständlicher, wenn man seine Definition (S. 33) aufmerksam liest: »Die Geschichtswissenschaft ist die Wissenschaft, welche die Tatsache der Entwicklung der Menschen in ihren Betätigungen als soziale Wesen in psycho-physischem Kausalzusammenhang erforscht und darstellt.« Es stecken mancherlei Dogmen in dieser Definition: das Dogma von der Entwicklung, das vom sozialen Wesen und das vom psycho-physischen Kausalzusammenhang. Diese Dogmen werden, wie es die Arbeitsteilung verlangt, aus andern Disziplinen geholt und hinterher als bekannt vorausgesetzt. Und nicht leicht wird man es mir zugeben, daß zwei dieser Dogmen einander sogar gröblich widersprechen, daß der psychische Zusammenhang allein (auf das Modewort psycho-physisch wird Bernheim nach einigen Jahren kein Gewicht mehr legen) zur Erklärung der Ereignisse gar nicht genügt, wenn es in der Geschichte der Menschheit eine Entwicklung gibt, d. h. einen transzendenten oder immanenten Plan, eine Zielstrebigkeit, oder wie immer man die eindeutige Richtung, die Tendenz der Entwicklung ausdrücken mag.

Abgesehen davon, ist der psycho-physische oder psychologische Kausalzusammenhang just das Ideal, dem sich weder die christlich-theokratische, noch die pragmatische, noch die positivistische, noch die materialistische Geschichte jemals auch nur annähern konnte. So wie wir uns nämlich von den res gestae, der Chronik, der Psychologie der Geschichte zuwenden, die allein unsere Wißbegier reizen und befriedigen kann, wird die Wahrscheinlichkeit auch der neueren Ereignisse so gering wie die der ältesten Daten. Über Gesundheits- und Geisteszustand Napoleons während der Schlacht von Waterloo wird gestritten; über den Gemütszustand des Königs Wilhelm vor den beiden letzten Kriegserklärungen sollte gestritten werden. Menschenkenntnis und Wahrscheinlichkeitsrechnung sind armselig, wenn sie nicht beide die Kompliziertheit der Motive in Betracht ziehen. Vielfache Motive aber, die zugleich (sowohl als auch) die Entschlüsse herbeiführen, lassen den Wahrscheinlichkeitswert der Wahrheit kleiner und kleiner werden für die psychologische Ursache, die der Geschichtsschreiber aus künstlerischen Gründen hervorgehoben hat. Und für die Gebiete der Völkerpsychologie, besonders für deren älteste Geschichte, wo doch unendlich viele und sehr schlecht bezeugte Faktoren zusammenwirkten, wird der Wahrscheinlichkeitswert der Wahrheit unendlich klein. Ich empfehle einem müßigen Mathematiker die Berechnung der unendlich kleinen Wahrscheinlichkeitsgröße für die Wahrheit der Behauptungen, die von den scharfsinnigsten Forschern über die Urgeschichte der Menschheit, über die Ursprache oder gar (ohne den psychologischen Faktor) über die Entstehung des Kosmos aufgestellt worden sind. Die Wahrscheinlichkeit der psychologischen Literaturgeschichte und überhaupt der intimen Philologie, der wichtigsten Hilfswissenschaft der Geschichte, ist nicht unendlich klein, aber doch klein genug. Man mache die Rechnung auch für die äußere Philologie. Wenn jede Konjektur so gut wäre, daß Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit sich die Wage hielten, so wäre dennoch bei der großen Zahl der Konjekturen, die zusammen erst zu einer geistreichen neuen Behauptung führen, die Wahrscheinlichkeit dieser neuen Behauptung sehr klein. Ars conjectandi nannte sich die Wahrscheinlichkeitslehre zuerst und hoffte, die Wahrheit auf den Vermutungskalkül zu stellen. Aber bei den Belustigungen des Verstandes und Witzes der Philologen scheint jede Konjektur lobenswert, probabel, wenn sie sich nur im fernsten Bereiche der Möglichkeit bewegt. Aus allen diesen Gründen scheinen mir die Daten der Geschichte nicht wahrscheinlich genug, nicht probabel genug, um aus ihnen eine glaubhafte pragmatische Darstellung gestalten zu können; auch spätere und gründlichere Zeiten, auf welche Schiller und Kant hofften (gründlicher als der Historismus kann keine Zeit sein), werden daran nichts ändern.

Mit alledem soll ja nicht gesagt werden, daß Geschichte nicht ebenso schön, wertvoll, erhebend, was man will, sein könne wie die eigentlichen Wissenschaften. Noch einmal: »das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt«. Nur sollte man nicht vergessen, daß die enthusiastischen Wirkungen der Geschichte selbst wieder ihre Geschichte haben, daß immer wieder weggeworfen worden ist, was durch Jahrhunderte ein Kleinod war. Auch Religionen können schön, wertvoll, erhebend und dennoch falsch gewesen sein, Lebenslügen oder Lebensträume der Völker.

Eins aber ist gewiß: da wir uns mit unserm Menschenverstande die Menschengeschichte wie alles nur kausal, nur als stetige Verkettung vorstellen können, so ist alle Gegenwart, in die wir hineingestellt sind mitsamt unserm Ich, eine Folge der Geschichte, eine zeitliche und eine ursächliche Folge. Die Hoffnung der besten Begründer des Historismus war: die genaue Kenntnis der Geschichte wieder zu einer neuen Triebkraft des gegenwärtigen Lebens zu machen. Zweimal sollte wirken, was einmal irgendwo gewesen war. Zweimal mit seiner ganzen Energie: einmal die wirkliche Vergangenheit, einmal unser armes Wissen von der Vergangenheit. Fast könnte man versucht sein, die Geschichte darum zur Metaphysik zu rechnen, weil auch die die Menschheit zum Doppeltsehen anleiten möchte. Der alte Dualismus zwischen Leib und Seele. Es ist etwas außer der neuen materialistischen Schulweisheit. Es ist etwas außer den Daten der Chronik. Aber wir wissen von der Geschichte so viel wie von der Seele. Und der Kulturmensch ließe sich wohl einmal als ein Tier definieren, das seine Geschichte wissen möchte.

IX.

Einen Grund, der uns die erfundenen, konzentrierten Schlagworte der Geschichte lieb gewinnen und besser merken läßt als alle Tatsachen, hat Hertslet in seinem »Treppenwitz der Weltgeschichte« sehr gut aufgespürt; es ist unsere Freude an der Tendenz und unsere Lust an theatralischen Darstellungen. Er zitiert Bacon, der schon vor den instantiae ostensivae gewarnt hatte, weil sie dem Verständnisse zu sehr entgegenkämen. Ich will aus Hertslet's Buche einige Beispiele für Fälschungen und auffallende Unsicherheiten der Geschichtsschreiber zusammenstellen.1

Nicht nur die römischen Könige, auch die alte Semiramis haben vielleicht niemals existiert; auch Homeros vielleicht nie gelebt. Über Pythagoras, Buddha und Jesus wird gestritten; der erste hat dem berühmten Lehrsatze seinen Namen gegeben, ihn aber schwerlich selbst entdeckt. Alexander ist nie in Jerusalem gewesen und hat Alexandria nicht gegründet. Cäsars letzte Worte »Et tu Brute« sind schlecht bezeugt. Die Mär vom blinden, bettelnden Belisar ist spät und schlecht erfunden. Die Geschichte von den 11 000 Jungfrauen beruht auf einer falschen Lesung: XI M. V. hieß XI Martyres Virgines, und nicht XI Milia Virginum. Die Päpstin Johanna ist eine Erfindung. Niemand weiß, wer das Pulver erfunden hat. Der Schädel Schillers, trotzdem er unter der Oberleitung von Goethe gesucht und gefunden wurde, ist wahrscheinlich nicht echt. Die Briefe von Abälard und Heloise sind Fälschungen. Salomon de Caus ist niemals in einem Irrenhause gewesen usw. usw.

Die Neigung der materialistischen Geschichtschreibung, die Geschichte und Statistik verquicken möchte, geht dahin, »die Menschheit anonym zu machen«, wie Frau von Staël gesagt hat. Die hergebrachte Geschichtschreibung macht es wie das Volk: sie klammert sich an Namen und an Worte; verwandelt auch wohl Worte in Namen. Wie einst »Kyrie eleison« von vielen für einen neuen Heiligen gehalten wurde (auch ein S. Expeditus ist neuerdings als das Geschöpf eines bloßen Wortes entlarvt worden), so soll noch 1792 Mr. Veto für einen schlechten Kerl gehalten worden sein. »Namenlosigkeit ist dem Volke verhaßt.« Die Großeltern von Jesus, die heiligen 3 Könige, die beiden Schächer neben seinem Kreuze, alle erhielten Namen. Und die Umbildung von Namen durch Volksetymologie ist zu häufig, um erst bewiesen werden zu müssen. Es gab ein Wort χριστοφορος, aus dem Worte wurde die Legende vom h. Christoph. Wie aus Namen, so wurden aus Wappen Geschichten erfunden; wahrscheinlich ist die Anekdote vom braven Schweppermann und den zwei Eiern eine Wappen- oder Denkmalsage; wie die Erzählungen vom Grafen von Gleichen und der Gräfin Orlamünde. Das Volk begnügt sich aber nicht mit Namen; es will die Requisiten der Anekdoten handgreiflich besitzen, in der heiligen wie in der Profangeschichte; es verehrt nicht nur die Dornenkrone und die Lanze der Passion, es staunt nicht nur die Stiefel Wallensteins an, es freut sich sogar an dem Baume, von dessen Krone der Apfel auf Newtons Schädel fiel, um ihm den Gedanken der Gravitation zu geben.

Hertslet hat auch die Aussprüche großer Historiker über ihre eigene Kunst gesammelt. Thukydides sagt selbst über die Echtheit der von ihm aufgezeichneten Reden (I. 22): »Es wird in meinem Buche so geredet, wie mir die Einzelnen den Umständen gemäß am passendsten zu sprechen schienen, indem ich mich dabei so eng wie möglich an den Hauptgedanken der wirklich gehaltenen Reden anschloß.« Und Livius (VIII. 40) weiß: »Verfälscht wurde die Geschichte meiner Meinung nach durch die Lobreden auf Verstorbene und durch die unrichtigen Unterschriften der Ahnenbilder, insofern sich jede Familie den Ruhm hoher Taten und Ämter durch Unwahrheiten zueignete, denen niemand nachspüren kann.«

Das ist alles seit Livius ganz anders geworden! Wir haben photographische Aufnahmen aller Haupt- und Staatsaktionen, auf denen Kaiser und Minister wie hypnotisiert in die Kamera hineinstarren; nur daß die illustrierten Zeitungen für den Türkenkrieg Zeichnungen von 1870 benützen, daß für authentische Darstellungen von Christenmetzeleien alte Photographien benutzt wurden, die die Abstrafung einer Räuberbande abgenommen hatten. Wir haben Stenogramme der Reden von Ministern und Abgeordneten; nur daß die Stenogramme vor dem Abdruck »korrigiert«, retuschiert werden dürfen. Und über öffentlich gehaltene Reden Wilhelms II. ist Tags darauf gestritten worden – als ob es historische Fragen wären, aus alter Zeit.

Ein kleines Beispiel für die Fälschung der Geschichte durch den allerunwirklichsten unter den Begriffen, durch die Zahl, mag eine alte und eine neue chronologische Einteilung der Weltgeschichte geben. In allen alten Welthistorien finden wir das Schema der 4 Weltmonarchien, das auf Kommentare zu den Traumdeutungen des Buches Daniel zurückgeht, insbesondere auf den Kommentar des hl. Hieronymus. Da man also die letzte dieser Weltmonarchien, die römische, als noch vorhanden ansah, da bis zum jüngsten Tage, den man mehr oder weniger bald erwartete, eine neue Weltmonarchie nicht in Aussicht stand, so war für die Zeitgenossen Karls d. Gr. noch und viel weiter das fränkische Reich eine Fortsetzung des römischen; die Krönung durch den römischen Papst und 700 Jahre später die Rezeption des römischen Rechts war mit eine Folge dieses wüsten chronologischen Prinzips.

Und dieses Prinzip blieb trotz des schlechten Gewissens der Historiker in Kraft, bis die Renaissance das Dogma von der Klassizität der Antike aufstellte, an die Antike in Literatur und Kunst anknüpfte und noch mehr anzuknüpfen glaubte, und nun die unklassische, barbarische Zeit vom Siege des Christentums und seiner Erhebung zur Staatsreligion bis eben zum rinascimento des Heidentums verächtlich media aetas oder medium aevum nannte, wofür seit dem Ende des 17. Jahrh. etwa die deutsche Lehnübersetzung Mittelalter aufkam, die Zwischenzeit. Das Wort hat für uns den verächtlichen Sinn verloren; aber die chronologische Einheit genügte, um diese reichen 1000 Jahre in Bausch und Bogen bald zu beschimpfen, bald zu verherrlichen. Als ob das Wort die Einheit geschaffen hätte.

X.

Die Geschichte hat keine Gesetze der Geschichte zum Ergebnis; doch auch um die einfachen Tatsachen, deren Erzählung ihre Aufgabe ist, ist es schlecht bestellt. Die Geschichte der Ereignisse ist die Geschichte von menschlichen Handlungen, die entweder durch die Macht des einzelnen handelnden Menschen oder durch die Masse der gemeinsam handelnden Menschen wichtig erscheinen. Verzichten wir nun darauf, in der Darstellung solcher Veränderungen sog. Gesetze zu entdecken, ähnlich wie z. B. bei chemischen Veränderungen, so bleibt als reine Beschreibung der Tatsachen ungefähr das übrig, was in den Geschichtstabellen von Schülern auswendig gelernt wird. Schlacht von Waterloo 1815, Gefangennahme Napoleons III. und seiner Armee am 2. September 1870. Die menschlichen Handlungen werden aber von unzähligen Ursachen bestimmt, den letzten Entschluß in der einzelnen handelnden Person nennt man gar den Willen. Eine pragmatische Geschichte müßte den wirklichen Ursachen der historischen Tatsachen nachspüren, eine vollständige Geschichte müßte auch jedesmal den Willen der handelnden Personen, müßte wenigstens den Willen der Führer kennen. Wir haben gelernt, daß dieses letzte Ideal niemals zu erreichen ist, weil es einen Willen in der Wirklichkeitswelt nicht gibt, weil der einzelne Willensakt selbst nur ein sprachlicher Ausdruck ist für die Resultierende bewußt oder unbewußt wirkender Ursachen. Aber auch ohne diese natürliche Logik können wir einsehen, daß – wie Scipio Sighele das von einem beschränktern Standpunkte ausgedrückt hat – man der Geschichte nicht glauben darf.

Sogar die äußern Tatsachen sind nicht immer glaubhaft verbürgt. Sighele führt aus der neuesten Zeit zwei frappante Beispiele an. Die Aussagen aller Mitbeteiligten werden nicht Sicherheit darüber verschaffen, ob z. B. Crispi an einem Gefecht unter Garibaldi teilgenommen habe oder nicht, ob der berühmte Reiterangriff bei Sedan von diesem oder jenem General kommandiert worden sei. Während im Gerichtssaale oder gar in der Logik eine große Zahl von Zeugen den Wahrheitsbeweis ermöglichen soll, gibt die Geschichte Beispiele in Menge, wo Hunderte oder Tausende von Zeugen falsch gesehen oder berichtet haben. Es bleibt dabei, daß die Geschichte eine fable convenue ist.

Wären aber auch die Tatsachen sichergestellt, so würde man von der Geschichtsschreibung doch wenigstens noch eine Beschreibung, eine pragmatische Geschichte fordern dürfen, eine Mitteilung der materiellen Ursachen, wie ich die Ursachen der Massenbewegungen ungenau im Gegensatze zu den Willensakten der Führer nennen möchte. Ungenau, weil doch auch die Massenbewegungen zuletzt auf Willensakte einzelner Personen zurückgehen. Diese materiellen Ursachen sind in der Kriegsgeschichte wie in der Kulturgeschichte so unendlich komplizierter Natur, daß die Geschichtsschreibung, trotzdem sie die Statistik zu Hilfe genommen hat, an ihnen zuschanden wird. Kein Offizier und kein Geschichtsschreiber kann sagen, warum in einem gegebenen Augenblicke einer Schlacht das eine Bataillon tapfer vorrückte und das andere davonlief. Und doch setzt sich aus solchen unerklärten Tatsachen die Weltgeschichte zusammen. Niemand kann erklären, aus wie vielen Ursachen heraus gerade Jesus, Buddha und Mahomed die Welt umgestalteten, während es andern Religionsstiftern mißlang.

Bis zu dem Willen von Jesus, Mahomed und Buddha gar vorzudringen, bis zu ihren bewußten Absichten, ist der Geschichte versagt. Doch der bewußte Wille ist selbst bei den geschichtlichen Persönlichkeiten der Gegenwart kaum jemals zu ergründen. Es ist eine der interessantesten Fragen, die uns noch heute alle beschäftigt, ob es Kaiser Wilhelm war oder Bismarck, der die Einigung Deutschlands wollte. Wir wissen, daß Bismarck die weitaus genialere Persönlichkeit war, und neigen darum dazu, ihm das Hauptverdienst zuzuschreiben um eine Sache, die wir lieben. Wir müssen aber bedenken, daß der Kaiser während der Vorbereitungen und noch lange nachher gute Gründe hatte, die Verantwortung seinem Minister zuzuschieben. Es wäre also möglich, auch wenn entgegengesetzte Äußerungen des Kaisers Wilhelm vorlägen, daß der Wille zu einer Vergrößerung von Preußen ursprünglich bei ihm war.

Die Wichtigkeit der geschichtlichen Ereignisse, ihre ungeheure Sichtbarkeit, ihr unvergleichliches Größenverhältnis zu den mikroskopischen Erscheinungen der Natur darf uns also nicht darüber täuschen, daß wir – vom Standpunkt der Erkenntnistheorie – die Erscheinungen der Geschichte noch weniger kennen als etwa die Erscheinung eines einzelnen Blattes an einem Baume. Von den materiellen Ursachen, welche dieses einzelne Blatt gerade so und nicht anders werden und welken ließen, wissen wir nicht mehr und nicht weniger als von den materiellen Ursachen des Erblühens und des Niedergangs eines Volkes. Die letzten Ursachen aber in der Geschichte eines Blattes können wir wenigstens auf sog. Gesetze zurückführen, die letzten Ursachen eines Blattes Geschichte sind uns mit dreifachem Siegel verschlossen: oft sind uns die Tatsachen unbekannt, meistenteils die materiellen Gründe, immer der Wille der handelnden Menschen.

Ranke, der unerreichte Lehrer unserer Historikerschule, hatte eine feste Gewohnheit, beinahe eine fixe Idee, durch welche seine eindringende Darstellung der Vorgänge, die Anspruch machen historisch zu heißen, den Schein einer Wissenschaft erhielt. Er fragt bei Epochen, bei Ereignissen, bei Regierungen von Königen und bei der Herrschaft von Ministern jedesmal stereotyp nach dem, was an dieser Epoche, diesem Ereignis usw. das Wichtigste war. Das Wichtigste wofür? Für die Mitwelt? Für die Nachwelt? Für den herrschenden Mann? Oder für das Volk? Für das Bewußtsein des herrschenden Mannes? Oder für Leopold v. Ranke? Man könnte auch die Geschichte einer Wolkenbildung, die man von einem festen Punkte aus betrachtet, während obere und untere Winde mit Wolke und Nebelfetzen spielen und die Bilder sich noch dazu perspektivisch verschieben, so darstellen, daß man die wichtigste Wolkenform heraushebt: der Löwe ist wichtiger als der Frosch. Und wenn einzelne Wolkenformen beliebt werden, um das Wetter des künftigen Tages vorauszusagen, so könnte ein Skeptiker immer noch fragen: ob diese Wolkenform, ihre Eignung zur Voraussage angenommen, für die Wolken irgendwie wichtiger sei als eine andere. Aber auch Meteorologie nennt sich eine Wissenschaft.


  1. Das Buch von Hertslet ist zwar mehr amüsant als gründlich, enthält aber dennoch eine Fülle von Historienkorrekturen. Der Verfasser hat durch sein sehr brauchbares Schopenhauer-Register bewiesen, wie ein Kaufmann auch der wissenschaftlichen Arbeit dienen kann. Seine Kritik der Geschichte ist im Standpunkt besser als in der Ausführung. Der Titel paßt nicht auf den zehnten Teil. Treppenwitz – eine Lehnübersetzung von esprit d'escalier – würde richtig angewandt doch nur auf historische Aussprüche, welche den berühmten Männern erst post festum eingefallen sind, deren sie sich aber nachträglich gerühmt haben; übertragen könnte das Schlagwort etwa noch auf bekannte Sätze bezogen werden, die von andern, von spätern erfunden worden sind. Weitere »Irrtümer, Entstellungen und Erfindungen« (so lautet der Untertitel) haben mit Treppenwitz nichts mehr zu schaffen. Schlimmer ist es, wenn der eifrige Hertslet nicht mehr die Geschichtsschreibung, sondern die Ereignisse selbst kritisiert: die Schlacht bei Marengo einen völlig unverdienten Erfolg Bonapartes nennt (7. Aufl. 382); wenn er Karls XII. Schlacht bei Narwa mit der Bemerkung abtut: »Auch blieb den Schweden in ihrer Stellung keine Wahl, als zu siegen oder unterzugehn«; wenn er die letzte Toilette Maria Stuarts bei Schiller korrigiert; wenn er gar die Charaktere der Scribeschen Stücke verzeichnet findet. Was hat das alles mit dem Werte der Geschichte zu tun? Aber der Bewunderer Schopenhauers, der gleich ihm zuerst Kaufmann gewesen war, hat dessen Verachtung der Geschichtsschreibung tief in sich aufgenommen, und diese Tendenz versöhnt mit einem oft sinnlosen Sammeleifer.