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[Jenseits des Zeitalters der Reformation]

633.

Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist, dass wir einer höhern Kultur angehören. Wer jetzt noch, in der Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wutausbrüchen bekämpft und niederwirft, verrät deutlich, dass er seine Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äußersten Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen teilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe, und um jeden Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren müsse. Jetzt aber gibt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewalttätig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Kultur, mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der Tat: das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältnis zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.