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Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit

629.

Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit. — Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschließt, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten — diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen — das kann zu einer um so größeren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die Schätzung der Leidenschaften groß und haben es immer getan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Racheausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls: halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. — Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fingirten Wesen, wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen ließ — ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrtümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem höheren Selbst Schaden stiften? — Nein, es gibt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir müssen Verräter werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrates zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nötig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Überzeugung notwendig sind oder ob sie nicht von einer irrtümlichen Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Überzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vorteils oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heißt: man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vorteilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugnis über die intellektuelle Bedeutung aller Überzeugungen. Prüfen wir einmal, wie Überzeugungen entstehen, und sehen wir zu, ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben, dass auch der Wechsel von Überzeugungen unter allen Umständen nach falschem Maße bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten.