Wir sind vornehmer
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Wir sind vornehmer. — Treue, Großmut, die Scham des guten Rufs: diese Drei in Einer Gesinnung verbunden — das nennen wir adelig, vornehm, edel, und damit übertreffen wir die Griechen. Wir wollen es ja nicht preisgeben, aus dem Gefühle, dass die alten Gegenstände dieser Tugenden in der Achtung gesunken sind (und mit Recht), sondern behutsam diesem unserem köstlichen Erbtriebe neue Gegenstände unterschieben. — Um zu begreifen, dass die Gesinnung der vornehmsten Griechen inmitten unserer immer noch ritterlichen und feudalistischen Vornehmheit als gering und kaum anständig empfunden werden müsste, erinnere man sich jenes Trostspruches, den Odysseus in schmählichen Lagen im Munde führt: „Ertrag’ es nur, mein liebes Herz! du hast schon Hundemäßigeres ertragen!“ Und dazu nehme man als Nutzanwendung des mythischen Vorbildes die Geschichte von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte von sich abschüttelte: „Schlag’ mich nur! Nun aber höre mich auch!“ (Dies tat Themistokles, jener vielgewandte Odysseus des klassischen Zeitalters, der recht der Mann dazu war, in diesem schmählichen Augenblick jenen Trost- und Notvers an sein „liebes Herz“ hinunterzuschicken.) Es lag den Griechen ferne, Leben und Tod einer Beschimpfung halber so leicht zu nehmen, wie wir es tun, unter dem Eindruck vererbter ritterlicher Abenteuerlichkeit und Opferlust; oder Gelegenheiten aufzusuchen, wo man Beides auf ein ehrenvolles Spiel setzen könne, wie wir bei Duellen; oder die Erhaltung des guten Namens (Ehre) höher zu achten, als die Eroberung des bösen Namens, wenn Letzteres mit Ruhm und Machtgefühl verträglich ist; oder den ständischen Vorurteilen und Glaubensartikeln Treue zu halten, wenn sie verhindern könnten, ein Tyrann zu werden. Denn dies ist das unedle Geheimnis jedes guten griechischen Aristokraten: er hält aus tiefster Eifersucht jeden seiner Standesgenossen auf gleichem Fuße mit sich, ist aber jeden Augenblick wie ein Tiger bereit, auf seine Beute, die Gewaltherrschaft, loszustürzen: was ist ihm dabei Lüge, Mord, Verrat, Verkauf der Vaterstadt! Die Gerechtigkeit wurde dieser Art Menschen außerordentlich schwer, sie galt beinahe für etwas Unglaubliches; „der Gerechte“ — das klang unter Griechen wie „der Heilige“ unter Christen. Wenn aber gar Sokrates sagte: „der Tugendhafte ist der Glücklichste“, so traute man seinen Ohren nicht, man glaubte etwas Verrücktes gehört zu haben. Denn bei dem Bilde des Glücklichsten dachte jeder Mann vornehmer Abkunft an die vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen, der seinem Übermute und seiner Lust Alles und Alle opfert. Unter Menschen, welche im Geheimen über ein solches Glück wild phantasierten, konnte freilich die Verehrung des Staates nicht tief genug gepflanzt werden, — aber ich meine: Menschen, deren Machtgelüst nicht mehr so blind wütet, wie das jener vornehmen Griechen, haben auch jene Abgötterei des Staats-Begriffes nicht mehr nötig, mit welcher damals jenes Gelüst im Zaume gehalten wurde.