Die Hausgeister
»Doch siehe! da stehet ein winziger Wicht,
Ein Zwerglein so zierlich mit Ampelenlicht,
Mit Rednergebärden und Sprechergewicht …«
Goethe
Das war so, dass Emmy die Tür zuklappte und nach hinten schlurchte. Sie ging ins Bett. Und dann war es in der großen Achtzimmerwohnung ganz still, so still, dass du die Hypotheken auf dem Dache knistern hören konntest. Die große Abzahlungsuhr im Wohnzimmer tickte. Eine Fliege, die nur wenig Pension zahlte und deshalb nicht ins Eßzimmer durfte, flog schläfrig hin und her, hin und her …
Was war das für ein Stimmlein? Wer burrte durchs Zimmer? Was klang für ein Glöckchen?
Von bläulichem Schein umflossen, stand ein winzig kleiner Gnom, noch nicht einen Bezugscheinstiefel hoch, mitten auf dem Tisch, im Marmoraschbecher neben der Zigarrenkiste, und schwang unermüdlich ein silbern zirpendes Glöcklein. Pingelingelingelingelingeling – machte das Glöcklein, und da wurde es überall lebendig.
Es schurrte hinter den Gardinen und rumorte in den Ritzen, es summte auf den Schränken und purzelte über die Simse, es kletterte an Stühlen hinauf und wieder hinunter und witschte durch die Schlüssellöcher – das ganze große Wohnzimmer war in Aufregung.
Und weil es deutsche Hausgeister waren und keine Botukuden, gruppierten sie sich artig und ordentlich um ihren Vorsitzenden, den Klingelmann, auf dem Tisch, nahmen Plätze ein und vergaben sie wieder, ordneten und teilten ein und saßen schließlich da: ein kleines zierliches Parlament. Es waren ihrer eine ganze Menge, wohl an die fünfzig, Männlein und Weiblein, und sie saßen jeweils um ihren Stubenältesten herum und trugen die Tracht ihrer verschiedenen Berufe. Wir werden bald sehen, welche.
»Pingelingeling!« machte der mit dem Glöckchen. Das Summen und Schnattern der Stimmen legte sich, man hörte nichts als das Surren der wenig bemittelten Fliege. »Pingelingelingeling!«
»Meine Damen und Herren!« sagte der Klingelmann. »Ich habe Sie durch die Mäusepost hierher gebeten, um uns wieder einmal die Freude zu machen, einander von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Die Zeiten sind ernst. Wir werden nachher unsere politischen Sachverständigen hören, den Wohnzimmermann und den WC-Mann, die ja leider Zeitungen lesen müssen – aber soviel kann ich Ihnen jetzt schon sagen: So geht es nicht weiter. Auch wir Hausgeister haben unsere Rechte (Bravo!), und wir werden sie zu wahren wissen. Ich habe Sie einberufen – (hier reckte sich der Klingelmann erheblich, und das sah sehr ehrfurchtgebietend aus) –, um einen Hausgeisterrat ins Leben zu rufen!«
Ein ungeheurer Tumult brach aus. Kleine Männer im Arbeitsanzug warfen mit Juchhe ihre Mützen in die Luft, eine dicke Badefrau hob ein wenig ihren runden Rock und walzte vergnügt ein paar Schritte, die besseren Herren saßen da und amüsierten sich mit eingeklemmtem Monokel über das harmlose Vergnügen des niederen Volkes – kurz: es war sehr heiter.
Der Klingelmann gebot Ruhe. »Pingelingelingeling!« – »Meine Damen und Herren! Bevor wir zur Konstituierung schreiten, erteile ich unseren Spezialreferenten das Wort zur Berichterstattung über die Lage der einzelnen Ressorts. Herr Salonmann von Nippes.«
Der Salonmann bestieg das Zigarrenkistenpodium. Er war sehr vornehm gekleidet: er trug blauseidenen Frack, kleines Plüschmützchen und einen Antimakassar auf dem Hintern. Er war Herr über zweihundertdreiunddreißig Nippsachen aus allerlei Materialien, die aber alle etwas anderes vortäuschten, als sie wirklich waren – und nun hub er an zu sprechen.
»Verehrte Anwesende!« sagte er. »Ich komme geradeswegs aus dem Salon und muß Ihnen sagen, dass es so nicht weitergeht. Der Staub türmt sich in meinem Reiche meterhoch. Die Abfuhr ist ganz ungenügend. Es wachsen Geister auf in meinem Salon, die überhaupt nicht wissen, was ein Staublappen ist. Auch ist der Salon in der letzten Woche zweimal benutzt worden! Ist der Salon vielleicht ein Wohnraum? Der Salon ist von je in der deutschen Familie das unumstrittene Reich der Hausgeister gewesen und soll es auch bleiben fürderhin. Herrscht Wohnungsnot? Haben die Menschen Platzmangel? (Der Salonmann war ein ausgezeichneter Redner, er las gern feingeistige und daher goldgeschnittene Bücher, die auf dem Mitteltisch lagen, und wendete sein Wissen gut an.) Mangelt es den Menschen an Platz? Dann sollen sie anbauen, für sich und ihre Kinder. Der Salon aber – den Hausgeistern!«
Donnernder Applaus lohnte den Redner. »Pingelingelingeling!« machte der Glockenmann. »Das Wort«, sagte er, »hat der Wohnmann, Herr Schaukel. Ich bitte.«
Der Wohnmann Schaukel betrat das Podium. Er war ein fetter, mürrisch dreinschauender Mann, der immer beleidigt war, denn er beherbergte zumeist die gesamte Familie in seinen Räumen.
»Meine Herren!« brummte er. (Von den Damen wollte er offenbar nichts wissen.) »Mir paßt es nicht mehr. Hier ist das historische Sofa, auf dem Tante Julla saß und übelnahm – niemand sitzt mehr drauf. Tante Julla ist zerplatzt, und nur das jüngste Kindermädchen und Erwin sind manchmal die einzigen, die abends zu Hause bleiben. Und wie lange kann auch das noch so gehen? Dann kommt die Geschichte heraus, das Mädchen fliegt und Erwin kommt in eine Pension. Er hat zwar erzählt, sie hätten in der Schule jetzt Aufklärung, und wenn sie ihn erwischten, wollte er sagen, er mache gerade seine Schularbeiten – aber was hilft das? Und alle anderen liegen in den Kinos, im Theater, im Klub und in Betriebsversammlungen. So geht das nicht weiter. Es muß etwas geschehen. Es muß etwas geschehen!«
Gemurmel erhob sich. Manche Damen bargen ihr Gesicht hinter ihrem Fächer. Dann aber wurde es still, und es erhielt das Wort der Eßmann Wurstmax.
Der Wurstmax sprach etwas Berlinisch, hielt aber auf feine Ausdrücke. »Indem«, so führte er etwa aus, »nu doch det Essen imma schlechta werden dut, weil die Schiebapreise nich zu bessahlen sin, beantrage ick, det uns zehn Prozent von die Reste missen schtantepeh aufbewahrt wern. Indem wir sonst wie Bolle aufm Milchwagen dasitzen un gucken inn Rauch! Diss wollte ick jesagt haben!«
Die Versammlung stimmte zu.
Es sprach nunmehr der Kindermann, der Beherrscher des Kinderzimmers. Er war unzufrieden wie sein Vorgänger. So ginge es nicht weiter. Ebenso der Fremdenmann. Und es sprachen die Männer aus dem Zimmer des ältesten Sohnes, der nachts manchmal nicht nach Hause kam, weil er geschäftlich in der Stadt zu tun hatte – dann schlief er gewöhnlich von morgens acht Uhr bis mittags um eins –, und es sprach der Hausgeist der ältesten Tochter, die unter ihrem Kopfkissen den Casanova liegen hatte und am Fußende des Bettes »Was muß ein junges Mädchen von der Ehe wissen?«. (Dieses Buch war unter den Hausgeistern von Hand zu Hand gegangen.) Und sie sagten alle, alle dasselbe. So ginge es nicht mehr weiter!
Nun traten auf, mit großer Spannung erwartet, der Schlafmann und seine Frau – die Beherrscher des ehelichen Schlafzimmers, zu dessen Bewirtschaftung ein Hausgeist nicht ausreichte – dazu waren zwei nötig. Und sie erstatteten ihren Bericht. Und es sprach die Frau:
»Meine Damen und Herren! Wenn wir so abends in den Betten liegen und das mit anhören, was sich unser Ehepaar erzählt, da muß ich denn doch sagen: So geht das nicht weiter! Wo ist die alte Zucht und Sitte geblieben? Das war ja nun früher immer so, dass sie Männe fragte, was denn das für ein unanständiger Witz gewesen sei, den Herr Fritschke heute bei Tisch erzählt habe, und dann versuchte er, ihn ihr zu erklären – und dann schwieg sie und verstand ihn nicht und sagte: Pfui – und dann hatte er es, und dann schliefen sie ein … Aber heute! Das wird Ihnen mein Mann auseinanderdefendieren. Meine Zunge vermag es nicht.«
Und der Schlafmann setzte es auseinander. Er schilderte – aber das könnte Ihnen so passen, dass ich das alles aufschreibe, wie? Er schilderte Szenen, wie man sie nur in Aufklärungsfilms für Jugendliche zu sehen bekommt; ich werde rot und blaß, wenn ich nur daran denke. Pfui –! Aber es war ganz interessant, und wenn Sie, freundliche Leserin, an den Herausgeber des »Almanachs« eine Postkarte mit bezahlter Rückantwort schreiben, wird er Ihnen gewiß sagen, wo Peter der Panter wohnt, und dann ließe sich vielleicht … Aber das nur nebenbei. Und als der Schlaf-mann ausgeschildert hatte, da ging ein Schauer durch die Versammlung über die große Verderbnis der Zeiten, und ein gewaltiges Kopfschütteln und Händeschwenken hob an, bis das Glöcklein um Ruhe rief. »Pingelingelingeling!«
Das Wort hatte der Mädchenzimmermann. Er sagte: »Ich kenne keine Dienstmädchen mehr, ich kenne nur noch Aushilfen!« Und er sagte, er könne ja nicht klagen – er hätte es ganz gut; bei ihm sei den ganzen Tag Fröhlichkeit und eitel Freude und viel Geld, und die Mädchen hätten offenbar einen Schatz, der hieße Achtstundentag, und …
Und dann sprang die Versammlung auf und warf den zufriedenen Hausgeist von dem Zigarrenkistendeckel herunter.
Und es stieg auf die Schachtel der Bademann. Der Bademann war in ein kleines Stückchen Frottiertuch gehüllt, das er irgendwo entwendet haben mochte – und seine Haare fielen ihm in nassen Strähnen ins Gesicht.
»Hadschi!« machte er. »Wenn die Menschen innen so sauber wären wie außen, dann mags angehen. Baden baden sie ja, und doch geht das nicht so weiter. Die Seife ist ja besser geworden – aber was ich da alles sehen muß – na, ich danke!«
Und es erschien der Speisekammermann und sagte, er wolle nun bald nichts mehr mit der ganzen Wirtschaft zu tun haben. Zucker habe er schon seit Wochen nicht mehr gesehen, und zum Totlachen sei es mit den Lebensmitteln überhaupt nicht, und er müsse bessere Verpflegung beantragen, und er wolle versetzt werden!
Und es erschien zum Schluß der WC-Mann, und er sah die Versammlung lange an und sagte dann endlich: »Meine liebe Versammlung! Das Leben ist kurz und … !«
Und das konnte ihm ja von seinem Standpunkt aus niemand verdenken.
»Pingelingelingeling!« machte der Glockenmann und erhob sich zu voller Höhe.
»Wir wollen uns nunmehr zusammentun, um zu einem Ziele zu kommen!« sagte er. »Mit den Menschen ist es nichts mehr. Wir werden unsere angestammten Rechte nur wahren, wenn wir geeint vorgehen. Wir verlangen:
Freie Liebe,
1/2 Pfund Zucker wöchentlich,
Badezimmerbenutzung,
freie Kleidung,
Erhöhung der ethischen Forderung (des sogenannten früheren ›Trinkgeldes‹) auf 20 Prozent,
Abschaffung der Mausefallen, die unsere Postverbindungen stören,
Anerkennung des großen Hausgeisterrates.« –
Und bei diesen Worten erhob sich die ganze Versammlung wie ein Mann und defilierte an einer Streichholzschachtel vorbei, und jeder nahm ein Streichholz hinaus und steckte es an, und dann formierten sie sich zu einem Fackelzug und gingen dreimal langsam und feierlich um den Tisch herum, bis die Streichhölzer abgebrannt waren. –
Und dass die Geschichte wahr ist, könnt ihr daraus ersehen, dass die Streichhölzer bei meinem Onkel Julius immer noch auf dem Teppich liegen. Denn die heutigen Mädchen … aber das ist ein anderes Kapitel.
Die Hausgeister aber sind seit jener Nacht streng organisiert, und wenn ihr im Leben Glück haben wollt und zu Hause Frieden und Ordnung, dann rate ich euch sehr, ihre Forderungen zu erfüllen.
Peter Panter
Almanach 1920, Verlag Rudolf Mosse,
Berlin 1919, S. 252.