Drei Tage
Luchon ist ein großer Badeort, besonders wenn niemand da ist.
Wie schön und erholsam sind Badestädte, die leer sind –! Die Brust der Badegöttin atmet nur leise, die Geschäfte sind zwar geöffnet, ja, ja … aber die Kaufleute haben sich satt und müde geneppt und winken nur noch schlaff mit dem Finger, wenn ein Badegast vorüberwandelt. Die Luft steht still, die Wege sind rein, und das Schönste, was es nun gibt, ist eine leere Straße. Auf dem saubern Platz am Badegebäude spielt die Kurkapelle – sie bläst und fiedelt, ohne rechte Überzeugung von ihrem Tun, denn nur drei Dackel und etliche Kinder hören ihr zu. Alle Leute machen ein Gesicht wie eine Frau in einem Zimmer ohne Spiegel und ohne Männer. Es lohnt nicht.
Das Kasino steht in seiner gebackenen Pracht da, müde hängen die Stuckornamente herab, und im Park fallen die gelben Blätter. Der ganze Ort hat sich mit einem schleierdünnen Tuch zugedeckt … gleich schläft er.
Oben, in Super-Bagnères, wohin die Zahnradbahn hinaufklettert, haben wir das Hotel – noch nicht, nicht mehr. Der Sommer ist vorbei, und die Leute vom Wintersport sind noch nicht da. Für mich ganz allein wird ein Frühstück geschlachtet, und träumerische Einsamkeit umfängt mich im weißen Lavabo.
Wenn sich der Schwarm verlaufen hat, lasset uns schwärmen.
In Foix gibt es ein trutz'ges Schloß; es ist nicht einmal so sehr hoch und nicht einmal so sehr groß – aber die Felsen mitten in der Stadt fallen so schroff ab, dass ein amerikanischer Zeichner unter sein gutes Bild gesetzt hat: ›Schloß zu Foix: Typus der Feudalherrschaft‹. Es ist Stein gewordener Wille.
Hier haben sie einmal, im Jahre 1808, eine Verrückte eingesperrt, eine Schwester Kaspar Hausers. Man fand die unbekannte Frau völlig nackt in den Bergen, rufend, kletternd wie eine Gemse, Beeren essend … sie jagte davon, als die Hirten hinter ihr her waren. Sie bekamen sie doch – sie entfloh aus dem Arrest. Sie fingen sie ein zweites Mal, nachdem sie im Gebirge überwintert hatte; niemand weiß, wo; niemand Weiß, wer ihr Nahrung gegeben hat, und sie steckten sie in das Schloß zu Foix. Der Präfekt hatte seine liebe Not mit ihr: sie war nervenkrank, das war klar, aber im Departement war keine Irrenanstalt, und die Nachbardistrikte wollten die Fremde nicht aufnehmen. Man berichtete nach Paris. Fouché war damals Polizeiminister, die Sache lief ihren Aktengang.
Da meldeten sich eines Tages zwei Gefängniswärter auf der Polizei in Foix und gaben an, die Unbekannte sei im Gefängnis ›plötzlich gestorben‹. Nun, das kommt vor … wir haben junge Beispiele.
Die Frau hatte aber in ihren Anfällen gerufen: »Was wird mein armer Mann sagen!« und ein romantisch veranlagter Unterpräfekt veröffentlichte etwas später einen langen Artikel über die ›Irrsinnige aus den Pyrenäen‹ im ›Journal de l'Empire‹ in der Nummer vom 17. Januar 1814. (Es ist dies das nachmalige ›Journal des Débats‹, das noch heute besteht.) Darin ließ er manches Geheimnis durchschimmern, ohne eines zu lüften; nun nahm die Hintertreppenliteratur die Geschichte auf und überschwemmte Frankreich mit schönen und schauerlichen Romanen von der entführten Gräfin und Räubersbraut … Sie ist nun längst tot und hat ihr gut Teil zur Unterhaltung des Publikums beigetragen. Die Irrengesetze tun es noch heute, aber das ist nicht so harmlos.
Wenn man von dem dickgemauerten Schloß heruntersteigt und zum Beispiel ins Rathaus zu Foix geht, so kann man, wenn es sich grade trifft, Zeuge eines Schulexamens sein, das da abgehalten wird. An diesem Tage standen die kleinen Mädchen mit hochroten Köpfen auf den Korridoren herum und tuschelten sich die Ergebnisse und ihre Befürchtungen ins Ohr. Milde Lehrer stellten in einer Stube Fragen – sie halfen nach, aber die jungen Damen schwitzten Blut und Wasser vor Angst.
Ich saß noch ein Stündchen bei den Rathausbüchern in der kleinen Munizipalbibliothek.
Und dann ging ich durch die Straßen und sah alles an und guckte überall hinein und freute mich des Glücks der Fremden: dabei zu sein, ohne dabei zu sein. Ein paar Wegstunden von Luchon, in der Ebene, steht die Kirche und das Kloster von St.-Bertrand-de-Comminges. Die hat die schönsten Holzschnitzereien, vor denen ich gestanden habe.
Es ist eine alte Kirche mit einem verwitterten Portal; die Pförtnersfrau, die mich herumführt, ist so asthmatisch, dass ich Luftbeklemmungen habe, wenn sie lange Sätze in Angriff nimmt. Aber als sie die innere Gittertür aufschließt, höre ich gar nicht mehr zu, was sie betet – ich sehe nur.
Innen in der Kirche steht ein Chor mit Holzstühlen und einer rechteckig herumlaufenden Holzwand. Es ist unfaßbar, was sie da gemacht haben.
Es wimmelt von Figuren, Emblemen, Wappen, Köpfen, Körpern, Blumen und Gruppen. Keine Verzierung wiederholt sich auch nur ein Mal; alles ist bis ins letzte durchgearbeitet. Ein verrückter Bildhauer hat einmal seinem Arzt erklärt: »Ich sehe das Holz an, und dann sagt es mir, was es werden will«; so etwas ist auch hier vorgegangen. Es gibt da wilde Anhäufungen: indische Reminiszenzen; zwei Mönche, die sich um einen Bischofsstab streiten, sie haben Affenzüge und zerren am Stock, als ob sie damit sägen wollten; hervorragend unanständige Details; Apostel. Klappt man die Sitze hoch, so zeigt sich ein kleiner Untersitz, der aus einem Kopf besteht, und jeder Sitz hat seinen besondern – es ist ganz erstaunlich. Adam und Eva sind zu sehen: man möchte die Konturen der Körper nachfühlen, so laufen die Linien. Ein Holzwunder, den Altar, haben sie farbig zugerichtet; es soll zwanzigtausend Francs kosten, die Kolorierung und Vergoldung wieder abzukratzen.
So lange habe ich da herumgestanden, dass ich schnellen Schrittes gehen mußte, um nach Gargas zu kommen. Zur Höhle von Gargas. Nun, es ist eine Höhle wie andere auch.
Aber der neue ›Pitaval‹ kennt den Ort, und auch ich kannte ihn: Blaize Ferrage, der Menschenfresser, hat da gewohnt. Das war ein kleiner, übermenschlich starker Bursche, ein Maurer, der sich 1779 vom Leben der Menschen losgelöst hatte und einsam in dieser Höhle wohnte. Sie war wohl damals nicht so zugänglich wie heute; er hauste da, ganz für sich, stahl ab und zu, was er sich allein nicht herstellen konnte, und fraß Menschen. Er stieg wahrhaftig in den Bergen umher, und wenn ihm junge Frauen in die Hände fielen, schlachtete er sie. Männer fraß er nur, wenn er Hunger hatte, Kinder mochte er besonders gern.
Die Gegend flammte in Entsetzen. Schließlich fingen sie ihn – sie hatten ihm einen Sträfling heraufgeschickt, der sich die Begnadigung verdienen wollte, mit dem schloß er Freundschaft, der Freund verriet ihn. Am 13. Dezember 1782 wurde er gerädert.
Und nun werde ich ja wohl vom Reichsverband Deutscher Menschenfresser einen Prozeß angehängt bekommen: wegen Berufsstörung.