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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Was Kandid und Martin in Frankreich erlebten

Kandid hielt sich in Bordeaux nicht länger auf, als nötig war, einige eldorado’sche Kieselsteine zu verkaufen und sich einen guten zweisitzigen Reisewagen anzuschaffen, denn sein Philosoph Martin war ihm unentbehrlich geworden. Es tat ihm nur sehr leid, sich von seinem Lama trennen zu müssen. Er überließ es der Akademie der Wissenschaften in Bordeaux, welche die Untersuchung, warum die Wolle dieses Lama’s rot sei, zur dermaligen Preisaufgabe machte. Der Preis wurde einem nordischen Gelehrten zuerkannt, der durch A + B — C : Z bewies, dass das Lama rot sein und an den Pocken sterben müsse.

Inzwischen hörte Kandid von allen Reisenden, mit denen er in den Wirtshäusern zusammentraf, Paris als das Ziel ihrer Reise nennen. Dieser allgemeine Drang nach demselben Punkte machte ihn endlich auch lüstern, die Hauptstadt zu sehen. Sie lag ihm auf dem Wege nach Venedig nicht eben allzu weit aus der Kehr.

Er hielt durch die Vorstadt St. Marceau seinen Einzug und glaubte in dem schmutzigsten Dorfe Westfalens zu sein.

Kaum im Gasthofe angekommen, wurde er in Folge seiner Strapazen von einer leichten Unpässlichkeit befallen. Da er nun einen Diamanten von seltener Größe am Finger trug und man unter seinem Gepäck eine entsetzlich schwere Schatulle ausgewittert hatte, so fanden sich alsbald ungebeten zwei Ärzte bei ihm ein, so wie auch einige vertraute Freunde und zwei Betschwestern, die ihm seine Suppen wärmten.

„Ich erinnere mich, auch krank gewesen zu sein, als ich zum ersten Mal in Paris war,“ sprach Martin; „ich hatte aber kein Geld und deshalb auch weder Freunde, noch Ärzte, noch Betschwestern um mich; und ich genas.“

In Folge der Arzneien und Aderlässe wurde indessen Kandid’s Krankheit in der Tat bedenklich. Der Pfarrgehilfe des Viertels stellte sich ein und wollte Kandid mit großer Sanftmut nötigen, einen auf Rückzahlung in jener Welt ausgestellten Einlasszettel für dieselbe zu kaufen. Kandid wollte sich auf nichts einlassen; die Betschwestern versicherten, es sei die neueste Mode; Kandid erklärte dagegen, er sei kein Mann nach der Mode. Martin wollte den Pfaffen zum Fenster hinaus werfen. Dieser schwur, man werde Kandid nicht begraben. Martin schwur, er werde ihn, den Geistlichen, begraben, wenn er sie noch länger belästigte. Der Streit wurde hitzig; Martin packte den Zudringlichen bei der Schulter und schleuderte ihn zur Tür hinaus. Das gab ein gewaltiges Skandal, worüber eine fiskalische Untersuchung angestellt wurde.

Kandid genas und hatte, so lange er noch das Haus hüten musste, stets vortreffliche Gesellschaft zum Essen bei sich. Es wurde sehr hoch gespielt, und Kandid wunderte sich, dass er nie ein As bekam. Martin fand es sehr natürlich.

Unter den Leuten, die ihm die Honneurs der Stadt machten, befand sich ein kleiner Abbé aus Perigord, einer von den feinen Leuten, die immer geschäftig und aufgeweckt, immer dienstfertig und zudringlich, schmiegsam und bartstreichlerisch den Fremden aufpassen, ihnen von den Stadtklatschereien Bericht abstatten und ihnen Vergnügungen jeder Art und zu jedem Preise anbieten. Unser Abbé führte Kandid und Martin zuerst ins Theater. Es wurde gerade ein neues Trauerspiel aufgeführt. Kandid saß in der Nähe mehrere Schöngeister. Er ließ sich dadurch nicht abhalten, bei einigen besonders rührenden und trefflich ausgeführten Szenen zu weinen.

„Sie sollten Ihre Tränen sparen,“ sprach einer der großmäuligen Kunstrichter neben ihm während eines Zwischenakts; „diese Schauspielerin ist unter aller Kritik und ihr Mitspieler ein noch elenderer Kulissenreißer. Das Stück selbst aber taugt noch weniger, als die Schauspieler. Der Verfasser versteht kein Wort Arabisch und verlegt nichts destoweniger die Handlung nach Arabien; und was noch schlimmer ist, er glaubt nicht an die angeborenen Ideen. Ich will Ihnen morgen zwanzig Broschüren gegen ihn bringen.“

„Herr Abbé,“ fragte Kandid den Mann aus Perigord, „wie viel Theaterstücke haben Sie wohl in Frankreich?“

„Fünf bis sechstausend,“ lautete die Antwort.

„Das ist viel,“ sprach Kandid; „und wie viel gute sind wohl darunter?“

„Fünfzehn oder sechzehn,“ erwiderte jener.

„Das wäre sehr viel,“ sprach Martin.

Kandid fühlte sich besonders von einer Schauspielerin angesprochen, die in einer ziemlich seichten, sich aber gleichwohl auf den Brettern behauptenden Tragödie in der Rolle der Königin Elisabeth auftrat.

„Diese Schauspielerin,“ sprach er zu Martin, „gefällt mir sehr. Sie hat eine entfernte Ähnlichkeit mit Fräulein Kunigunden. Ich möchte’ ihr gern meine Aufwartung machen.“

Der Abbé erbot sich, ihn bei ihr einzuführen. Kandid, der in Deutschland geboren und erzogen war, erkundigte sich genau, welche Etiquette er bei einer solchen Visite zu beobachten habe und wie man die Königinnen von England in Frankreich zu behandeln pflege.

„Das ist verschieden,“ versetzte der Abbé; „in der Provinz führt man sie ins Wirtshaus, in Paris bezeigt man ihnen alle mögliche Ehrerbietung, wenn sie schön sind, und sterben sie, so wirft man sie auf den Schindanger.“

„Königinnen auf den Schindanger?“ sprach Kandid.

„Allerdings,“ bekräftigte Martin; „der Herr Abbé hat Recht. Ich war in Paris, als Mamsell Monime, wie man zu sagen pflegt, das Zeitliche mit dem Ewigen vertauschte; man verweigerte ihr, was die Leute hier zu Lande ein ehrliches Begräbnis nennen, das heißt, die Ehre, mit allen Bettlern des Stadtviertels auf dem demselben elenden Kirchhofe zu verfaulen. Ihre Truppe beerdigte sie ganz allein an einer Ecke der Rue de Bourgogne, was ihr ohne Zweifel großen Kummer macht, denn sie dachte sehr edel.“

„Das ist doch höchst unhöflich!“ sprach Kandid.

„Was soll man machen?“ entgegnete Martin. „Die Leute sind hier nun einmal so. Denken Sie Sich alle möglichen Widersprüche und Ungereimtheiten bunt durch einander geworfen, so haben Sie die Regierungsform, die Gerichtshöfe, die Kirchen, die Schauspieler dieser närrischen Nation.“

„Ist es wahr, dass man in Paris beständig lacht?“ fragte Kandid.

„Das tut man,“ entgegnete der Abbé, „allein es ist ein Lachen der Wut und Verzweiflung; unter schallendem Gelächter stimmt man die bittersten Klagen an; ja, mit lachendem Munde begeht man die abscheulichsten Handlungen.“

„Wer war denn das dicke Schwein,“ fragte Kandid, „das so wütend auf das Stück loszog, wobei ich Tränen vergoss, und auf die Schauspieler, die mir so sehr gefielen?“

„Es ist ein elender Wicht,“ erwiderte jener, „der, um sein kärgliches Brot zu verdienen, auf alle Theaterstücke und überhaupt auf alle Bücher schimpft. Er hasst jeden Schriftsteller, der Beifall findet, wie der Kastrat den Liebenden am Ziel seiner Wünsche; er gehört zu jenen literarischen Reptilen, die sich von Kot und Gift nähren, ist so ein von Galle und Geifer übersprudelnder Flugblattschmierer, ein F …“.

So unterhielten sich Kandid, Martin und der Abbé, als das Stück aus war, auf der Treppe des Schauspielhauses und ließen die Zuschauer an sich vorüberziehen.

„Trotz meiner jedes andere Gefühl beherrschenden Sehnsucht, Fräulein Kunigunden wiederzusehen,“ sprach Kandid, „hätt’ ich doch große Lust, diesen Abend bei Fräulein Clairon zu speisen. So sehr hat sie meine Bewunderung und Neugier rege gemacht.“

Der Abbé war nicht der Mann danach, dass er sich oder Andere bei Clairon, die nur die beste Gesellschaft bei sich sah, hätte einführen können.

„Auf heute Abend ist sie versagt,“ sprach er, „ich werde aber die Ehre haben, Sie einer Dame von Stande vorzustellen, in deren Zirkel Sie Paris sollen kennen lernen, als wären Sie vier Jahre hier gewesen.“

Neugierig, wie er einmal war, ließ Kandid sich zu der Dame führen, die am äußersten Ende der Vorstadt St. Honoré wohnte. Man saß beim Pharo. Zwölf griesgrämige Pointeurs hatten jeder sein Spiel Karten in der Hand, das geöhrte [sic!] Verzeichnis ihres Missgeschicks.

Tiefes Stillschweigen herrschte im Saal; Totenblässe saß auf der Stirn des Pointeurs, Unruhe und Besorgnis auf der des Bankiers, und die Dame von Hause, die neben diesem unbarmherzigen Bankier saß, achtete mit Luchsaugen auf alle Paroli’s, auf alle Septleva’s de Campagne, die jeder Spieler in seine Karten knickte. Streng aufpassend, doch mit nie sich verleugnender Höflichkeit ließ sie die Ohren wieder ausmachen und, bange, ihre Kunden zu verlieren, hütete sie sich wohl, ungehalten zu scheinen. Die Dame ließ sich Marquise de Parolignac nennen.

Ihre fünfzehnjährige Tochter befand sich unter den Pointeurs und verriet durch einen Augenwink die Spitzbübereien, wodurch die armen Teufel jezuweilen Fortunens Grausamkeit gut zu machen versuchten.

Der Abbé aus Perigord trat mit Kandid und Martin ein. Niemand stand auf, Niemand erwiderte ihren Gruß oder sah sie nur an. Alle waren gänzlich in ihre Karten vertieft.

„Unsere gnädige Frau Baronin von Thundertentronckh war weit höflicher,“ Kandid.

Indessen näherte sich der Abbé dem Ohr der Marquise Sie erhob sich ein wenig, beehrte Kandid mit einem graziösen Lächeln, Martin mit einem hochadligen Kopfnicken und ließ Ersterem einen Stuhl und ein Spiel Karten reichen. Er verlor in zwei Taillen 50,000 Franken, worauf man sich in der heitersten Stimmung zu Tische setzte. Jedermann war höchlich verwundert, dass Kandid sich aus seinem Verlust gar nichts zu machen schien, und die Bedienten sprachen unter einander in ihrer Bedientensprache: „Das muss jedenfalls ein englischer Mylord sein.“

Das Souper unterschied sich in nichts von den meisten Pariser Souper’s. Erst war Alles stumm, bis die Stille allmählich einem allgemeinen lauten Geschwätz wich, wobei keiner sein eigen Wort verstand. Sodann erschöpfte man sich in Späßen, die nicht frostiger und abgeschmackter sein konnten; man brachte falsche Neuigkeiten und schiefe Räsonnements aufs Tapet, weihte der Politik einen kleinen und der Verleumdung einen ansehnlichen Teil der Unterhaltung und sprach endlich sogar von neuen Büchern.

„Haben Sie schon den neuen Roman des Doktor Theologiä Gauchat gelesen?“ fragte der Abbé.

„Ja, aber nicht zu Ende,“ erwiderte einer der Gäste. „Es kommt viel jämmerliches Zeug heraus, aber nichts, was sich mit den Produktionen des Doktors Gauchat an Jämmerlichkeit nur entfernt messen könnte. Ich bin der Unmasse nichtswürdiger Bücher, womit wir überschwemmt werden, so satt und müde, dass ich mich aufs Pointieren gelegt habe.“

„Und was sagen Sie zu den Miscellen des Archidiakonus T ….?“ fragte der Abbé weiter.

„Ach, der langweilige Mensch!“ sprach Frau von Parolignac; „mit welcher Wichtigtuerei er die abgedroschensten Dinge vorbringt! Wie schwerfällig er Gegenstände ins Breite tritt, die noch nicht einmal einer beiläufigen Bemerkung bedürfen! Wie unverschämt er sich, ohne selbst nur ein Fünkchen Witz zu besitzen, den Witz anderer Leute zueignet und dabei das gestohlene Gut durch seine Zutaten ungenießbar macht! Wie entsetzlich der Mann mich anekelt. Doch er soll mir keine Langeweile mehr verursachen. An ein paar Seiten von dem Herrn Archidiakonus hat man übergenug.“

Ein Mann von Gelehrsamkeit und gediegenem Geschmack, der sich mit bei Tische befand, bekräftigte das Urteil der Marquise. Man kann jetzt auf Trauerspiele zu sprechen. Die Dame warf die Frage auf, woher es wohl käme, dass manche Trauerspiele sich auf der Bühne hielten und dabei doch gänzlich unlesbar wären?

Der Mann von Geschmack setzte in sehr einleuchtender Weise aus einander, wie ein Stück etwas Anziehendes haben und dabei doch wenig oder nichts taugen könne. Er bewies mit wenigen Worten, dass es nicht genug sei, eine oder ein paar jener Situationen herbeizuführen, die man in allen Romanen findet, und wodurch sich die Zuschauer so leicht bestechen lassen, sondern dass man originell sein müsse, ohne zu phantastischen Unsinn seine Zuflucht zu nehmen, oft erhaben, aber dabei immer natürlich, das menschliche Herz kennen und es reden lassen, großer Dichter sein, ohne dass aus irgend einer Person des Stücks der Dichter zu sprechen scheint, seine Sprache gründlich kennen, mit Leichtigkeit beherrschen und mit größter Reinheit reden, niemals endlich den Wohlklang vernachlässigen, ohne je den Gedanken dem Reim zu opfern. „Wer nicht alle diese Regeln beobachtet,“ setzte er hinzu, „kann allenfalls ein oder ein paar Trauerspiele verfertigen, die auf der Bühne einigen Beifall finden; niemals aber wird man ihn zu den klassischen Schriftstellern zählen. Gute Trauerspiele haben wir nur sehr wenige Einige Tragödien sind regelrecht geschrieben und gut versifizierte Idyllen in dialogischer Form, andere bestehen größtenteils aus politischem Geschwätz, wobei man einschläft, oder aus hochtrabendem Bombast, wobei einem übel und elend wird; wieder andere endlich sind wahres Töllhäuslergewäsch in barbarischem Stil, unzusammenhängende Reden, lange Deklamationen an die Götter, da die Herren nicht menschlich zu sprechen wissen, falsche Maximen, hochgeschraubte Gemeinplätze.“

Kandid hörte diese Lehren aufmerksam an und fasste von dem Redner eine hohe Meinung. Da die Marquise Sorge getragen hatte, ihm neben sich seinen Platz anzuweisen, nahm er sich die Freiheit, ihr die Frage ins Ohr zu flüstern, wer der Mann wäre, der so vortrefflich redete.

„Er ist ein Gelehrter,“ entgegnete die Dame, „der nicht pointiert und den der Abbé bisweilen zum Abendessen mitbringt. Er versteht sich aus dem Fundament auf Trauerspiele und Bücher, wie er denn auch selbst eine Tragödie geschrieben hat, die ausgepfiffen wurde, und ein Buch, wovon kein Exemplar weiter aus seines Verlegers Laden gekommen ist, als eins, das er mir dedizierte.“

„Der große Mann!“ sprach Kandid; „er ist wahrscheinlich ein anderer Pangloß.“ Und sofort wandt’ er sich mit der Frage an ihn: „Vermutlich glauben Sie doch auch, mein Herr, dass in der physischen wie in der moralischen Welt Alles aufs beste eingerichtet ist und dass nichts anders sein könnte, als es ist?“

„Nichts weniger, mein Herr,“ erwiderte der Gelehrte, „ich glaube von alle dem kein Wort. Ich finde vielmehr, dass Alles bei uns verquer geht, dass Niemand weiß, was seines Rangs und seines Amts ist, was er tut, noch was er tun soll, und dass, mit Ausnahme des Soupers, wo ziemliche Heiterkeit und dem Anschein nach auch ziemliche Eintracht herrscht, die Menschen ihr ganzes übriges Leben mit den nichtswürdigsten Zänkereien vergeuden. Jansenisten ziehen gegen Molinisten zu Felde, Parlamentsglieder gegen Literaten, Hofschranzen gegen Hofschranzen, Finanzpächter gegen das Volk, Weiber gegen ihre Männer, Verwandte gegen Verwandte; kurz es ist ein ewiger Krieg.“

„Ich habe wohl schlimmere Dinge gesehen,“ antwortete Kandid; „allein ein weiser Mann, der nachher das Unglück hatte, aufgehängt zu werden, lehrte mich, dass das Alles übervortrefflich und nichts Anderes sei, als was die Schatten in einem schönen Gemälde sind“.

„Ihr Gehängter hatte die Leute zum besten,“ sprach Martin; „diese sogenannten Schatten sind abscheuliche Flecken.“

„Die Menschen machen die Flecken,“ wandte Kandid ein, „das ist nun einmal ihre Bestimmung.“

„Und somit nicht ihre Schuld,“ sprach Martin.

Die meisten der Pointeurs, denen dies Griechisch war, hielten sich an die Flasche. Martin philosophierte mit dem Gelehrten, und Kandid erzählte der Dame vom Hause einen Teil seiner Abenteuer.

Nach dem Souper führte die Marquise Kandid in ihr Cabinet und nötigte ihn neben sich aufs Sofa.

„Nun,“ fragte sie, „Ihre glühende Leidenschaft für Fräulein Kunigunde von Thundertentronckh ist also noch immer dieselbe?“

„Noch immer, Madame,“ erwiderte Kandid.

„Sie antworten mir da wie ein junger Westfale,“ versetzte die Marquise mit zärtlichem Lächeln, „ein Franzose würde gesagt haben: ›Allerdings, Madame, liebte ich Fräulein Kunigunden, allein seit ich Sie gesehen, bin ich sehr besorgt, meiner alten Flamme untreu geworden zu sein.‹“

„Ach, Madame,“ sprach Kandid. „ich will Alles sagen was Sie befehlen.“

„Ihre Leidenschaft für die Baronne begann also damit, dass Sie ihr Taschentuch aufhoben, jetzt sollen Sie mir mein Strumpfband aufheben.“

„Herzlich gern,“ sprach Kandid und hob es auf.

„Aber jetzt müssen Sie mir’s auch wieder umbinden,“ befahl die Dame; und Kandid gehorchte.

„Gehen Sie?“ fuhr jene fort; „Sie sind ein Fremder; meine Pariser Anbeter lass’ ich mitunter vierzehn Tage schmachten und Ihnen ergeb’ ich mich gleich in der ersten Nacht, weil es gilt, einem jungen Westfalen die Honneurs des Landes zu machen.“ — -

Die Schöne pries hierauf so treuherzig die Schönheit zweier kolossalen Brillantringe, die sie bei dem jungen Fremden wahrgenommen, dass beide alsbald Kandid’s Fingern an die der Marquise wanderten.

Auf dem Heimwege fühlte Kandid einige Reue über die Untreue, die er an Kunigunden begangen hatte. Der Herr Abbé nahm an seinem Kummer Teil. Er hatte an den 50,000 Livres, die Kandid im Spiel verloren, und dem Betrage der beiden halb geschenkten, halb abgedrungenen Brillantringe nur geringen Anteil. Er fasste den Beschluss, Kandid’s Bekanntschaft so gut, als immer möglich, auszubeuten. Er schwatze ihm viel von Kunigunden vor, und Kandid versicherte, er wolle ihr seine Untreue fußfällig abbitten, sobald er sie in Venedig sehen werde.

Der Mann aus Perigord verdoppelte seine Höflichkeit und Aufmerksamkeit und bezeigte die wärmste Teilnahme an Allem, was Kandid sagte, tat und tun wollte.

„Sie haben also ein Rendezvous in Venedig mit ihr verabredet?“ fragte er.

„Ja wohl, Herr Abbé,“ antwortete jener; „ich muss notwendig Fräulein Kunigunden aufsuchen.“ Und das Vergnügen, von seiner Geliebten zu sprechen, riss ihn hin, dem Abbé nach seiner löblichen Gewohnheit einen Teil seiner Abenteuer mit der erlauchten Westfalin zu erzählen.

„Ich kann nicht anders denken,“ sprach der Abbé, „als dass Fräulein Kunigunde viel Geist hat und charmante Briefchen schreibt.“

„Ich habe nie einen von ihr bekommen,“ versetzte Kandid; „denn Sie müssen bedenken: als ich wegen meiner Liebe zu ihr aus dem Schlosse gejagt war, konnt’ ich ihr unmöglich schreiben; bald darauf hört’ ich, sie sei tot; später fand ich sie nur wieder, um sie mir abermals entrissen zu sehen, und jetzt hab’ ich ihr anderthalb tausend Meilen von hier einen expressen Boten gesandt, dessen Antwort ich noch erwarte.“

Der Abbé hörte aufmerksam zu und schien ein wenig nachdenkend. Bald darauf nahm er mit zärtlichen Umarmungen von den beiden Fremden Abschied.

Am folgenden Morgen beim Erwachen erhielt Kandid einen Brief Inhalts: 

„teurer Geliebter! seit acht Tagen lieg’ ich hier krank. Jetzt eben erfahr’ ich erst, dass Sie hier sind. Ich flöge ungesäumt in Ihre Arme, wenn ich mich nur von der Stelle rühren könnte. In Bordeaux vernahm ich, wohin Sie Sich gewandt hätten. Ich ließ dort die Alte und den treuen Kakambo zurück, doch bald werden Beide hier eintreffen. Der Statthalter von Buenos Aires hat Alles genommen; doch mir bleibt ja Ihr Herz. Kommen Sie, Teuerster! Ihr Anblick wird mich neu beleben, wenn mich nicht etwa die Freude tötet.“

Kandid geriet außer sich vor Wonne über diesen entzückenden, unverhofften Brief, und doch quälte ihn zugleich Sorge und Schmerz um die Krankheit seiner Geliebten. Zwischen beide Empfindungen geteilt, nahm er sein Gold und seine Diamanten und ließ sich nebst Martin in das Hotel führen, wo Kunigunde logierte.

Am ganzen Leibe zitternd vor innerer Aufregung, mit hochklopfendem Herzen und bebender Stimme trat er in ihr Zimmer, wollte die Bettvorhänge aufziehen, wollte Licht haben. „Ums Himmelswillen nicht!“ schrie die Wärterin; „das Licht tötet sie!“ und schnell zog sie die Vorhänge wieder zu.

„Angebetete Kunigunde, was machen Sie?“ fragte Kandid schluchzend; „da ich Sie nicht sehen darf, lassen Sie mich wenigstens Ihre Stimme hören.“

„Sie darf nicht sprechen,“ sagte die Wärterin.

Die Dame streckte jetzt eine fette, fleischige Hand zum Bette hinaus, die lange Kandid mit Tränen benetzte und sodann mit Diamanten füllte. Auf den Stuhl vor ihrem Bette hatte er einen Gold strotzenden Beutel gelegt.

Da wird sein Entzücken plötzlich durch die Ankunft eines Polizeisergeanten unterbrochen, den der Abbé aus Perigord und einige Mann Wache begleiten.

„Das sind also die beiden verdächtigen Fremden?“ fragte der Polizist und befahl seinen Packan’s, Kandid und Martin ohne Weiteres festzunehmen und ins Gefängnis zu schleppen.

„So begegnet man in Eldorado den Fremden nicht,“ sprach Kandid.

„Ich bin mehr Manichäer als je,“ rief Martin.

„Aber, Herr, wohin führen Sie uns?“ fragte Kandid.

„Ins Hundeloch,“ antwortete der Sergeant.

Martin, der seine ganze Kaltblütigkeit wieder gewonnen hatte, schloss, die vorgebliche Kunigunde sei eine Spitzbübin, der Herr Abbé aus Perigord ein anderer Spitzbube, der sich Kandid’s arglose Unschuld flink zu Nutze gemacht, und Herr Polizeisergeant endlich ein dritter Spitzbube, den man sich leicht vom Halse schaffen könnte.

Ehe Kandid es zu gerichtlichen Weitläufigkeiten kommen ließ, bot er auf Martin’s Rath und gedrängt durch seine eigene Ungeduld, die wahre Kunigunde wieder zu sehen, dem Sergeanten drei kleine Diamanten, jeder ungefähr 3000 Pistolen wert.

„O mein Herr,“ sprach der Mann mit dem elfenbeinernen Stabe, „hätten Sie auch alle denkbaren Verbrechen begangen, so sind Sie doch der rechtschaffenste Mann auf Gottes Erdboden. Drei Diamanten! jeder dreitausend Pistolen wert! Herr, ich will mich eher für Sie totschlagen lassen, als Sie ins Gefängnis führen. Man arretiert zwar alle Fremden, aber lassen Sie mich nur machen! Zu Dieppe in der Normandie hab’ ich einen Bruder; dahin will ich Sie bringen, und sollten Sie etwa noch so ein kleines Diamantchen für ihn haben, so wird er sich Ihrer annehmen, als wär’ ich’s selbst.“

„Und warum arretiert man alle Fremden?“ fragte Kandid.

Der Abbé aus Perigord nahm das Wort, ihn darüber zu belehren: „Weil ein Lump aus dem Lande Atrebatien sich allerlei dummes Zeug hat vorschwatzen lassen und dadurch auf den Einfall gekommen ist, einen Mord zu begehen, zwar nicht ganz so schlimm, wie der im Mai 1610 begangene, aber doch ungefähr, wie jener im Dezember 1549 und wie wohl noch manche andere, die von andern Lumpen, die sich Dummheiten hatten sagen lassen, in andern Monaten und andern Jahren ersonnen wurden“.

Der Sergeant erklärte mit deutlichen Worten, wovon die Rede sei.

„Ha! Die Ungeheuer!“ rief Kandid aus. „Wie! solche Gräuel werden unter einem Volke verübt, das beständig tanzt und singt? Dass ich nur eher je lieber aus diesem Lande komme, wo Affen Tiger necken und hetzen! Bären sah ich in meinem Vaterlande, Menschen nur in Eldorado. Um Gottes Willen, Herr Sergeant, schaffen Sie mich nur schnell nach Venedig, wo ich Fräulein Kunigunden erwarten will.“

„Ich kann Sie nur nach der Niedernormandie bringen,“ entgegnete der Barigello. Sogleich ließ er ihm die Fesseln abnehmen, sagte, es wäre ein Versehen, schickte seine Leute fort, brachte Kandid und Martin nach Dieppe und überließ hier die weitere Sorge für seinen Bruder.

Auf der Reede lag ein kleines holländisches Schiff vor Anker. Der Normann, der mittelst dreier fernerweiten Diamanten die Dienstfertigkeit selbst geworden war, mietete Kandid und seine Leute auf diesem Schiffe ein, das nach Portsmouth in England unter Segel ging. Das war zwar nicht der nächste Weg nach Venedig, aber Kandid dankte Gott, nur erst aus jener Hölle erlöst zu sein, und nahm sich vor, den Weg nach Venedig bei erster Gelegenheit wieder einzuschlagen.