Sechsundzwanzigstes Kapitel
Wie Kandid und Martin mit sechs Fremden zu Abend speisten und wer diese waren
Als sich eines Abends Kandid mit Martin und einigen Fremden, die in demselben Wirtshause logierten, zu Tische setzen wollte, packte ihn plötzlich ein Mensch mit einem rußfarbenen Gesichte von hinten zu beim Arm und flüsterte ihm zu: „Halten Sie Sich reisefertig! Sie müssen mit uns fort; vergessen Sie es ja nicht!“ Kandid dreht sich um und sieht Kakambo. Nur Kunigundens Anblick hätte ihm noch überraschender und erfreulicher sein können. Er war nahe daran, vor Entzücken närrisch zu werden. Inbrünstig umarmte er seinen teueren Freund.
„Sicher ist also Kunigunde hier? Wo ist sie? Bringe mich zu ihr, dass ich in ihren Armen vor Wonne sterbe!“
„Kunigunde ist nicht hier,“ entgegnete Kakambo, sie ist in Konstantinopel.“
„Hilf Himmel! In Konstantinopel! Aber wäre sie auch in China, ich flöge hin zu ihr. Fort, fort! zu Schiffe!“
„Nach dem Essen werden wir zu Schiffe gehen,“ erwiderte Kakambo; „mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Ich bin Sklave; mein Herr wartet auf mich, ich muss ihn bei Tische bedienen. Sagen Sie kein Wort. Nehmen Sie Ihr Abendbrot ein und halten Sie Sich dann bereit.“
Freude und Schmerz stürmten mit gleicher Heftigkeit auf Kandid’s Seele ein. Entzückt, seinen getreuen Agenten wieder gesehen zu haben, bestürzt, ihn im Sklavenkleide zu erblicken, und vor Allem voll von dem Gedanken, seine Geliebte wieder zu finden, mit gepresstem Herzen und halb verwirrt im Kopfe, setzte er sich mit Martin, der allen diesen Abenteuern ganz kaltblütig zuschaute, und mit sechs Fremden zu Tische, die das Karneval in Venedig mitmachen wollten.
Gegen das Ende der Mahlzeit sagte Kakambo einem der sechs Fremden, dem er bei der Mahlzeit aufgewartet hatte, halblaut ins Ohr: „Sire, Ew. Majestät können reisen, wenn’s Ihnen gefällig ist, das Schiff ist segelfertig.“ Hierauf ging er hinaus.
Stumm vor Erstaunen sahen die Gäste einander an, als ein zweiter Bedienter sich seinem Herrn mit den Worten näherte: „Sire, die Kutsche Eurer Majestät steht zu Padua und die Barke ist bereit.“ Der Herr gab ihm einen Wink und der Diener ging fort.
Wieder sahen sich sämtliche Gäste mit großen Augen worin sich doppeltes Erstaunen kund gab, einander an. Ein dritter Diener näherte sich einem dritten Fremden und sagte: „Folgen Sie meinem Rate, Sire! Es ist für Ew. Majestät nicht ersprießlich, sich hier noch länger aufzuhalten. Ich gehe, um schleunigst Alles zur Abreise in Bereitschaft zu setzen.“ Mit diesen Worten verschwand er.
Kandid und Martin zweifelten jetzt nicht mehr, nur eine Karnevalsmaskerade vor Augen zu haben, und wurden in dieser Meinung noch mehr bestärkt, als ein vierter Bedienter seinem Herrn sagte: „Ew. Majestät können abreisen, sobald es Ihnen gefällig ist.“
Ganz dasselbe wiederholte ein fünfter.
Allein der sechste Diener sprach mit dem sechsten Fremden, der neben Kandid saß, in ganz anderem Ton. „Meiner Treu, Sire!“ sagte er, „man will weder Ew. Majestät, noch mir länger kreditieren, und ich fürchte, wir werden am Ende noch diese Nacht Beide in den Schuldturm wandern müssen. Ich gehe, um für mich selbst zu sorgen. Addio.“
Nachdem alle Bedienten hinaus waren, verharrten die sechs Fremden, Kandid und Martin im tiefsten Stillschweigen. Endlich konnte Kandid sich nicht länger halten.
„Meine Herren,“ sprach er, „das ist ja ein seltsamer Spaß! Warum stellen Sie denn sämtliche Könige vor? Ich meinerseits gestehe, dass ich so wenig wie Martin ein gekröntes Haupt bin.“
Kakambo’s Gebieter nahm jetzt gravitätisch das Wort und sprach auf italienisch: „Ich bin nichts weniger als ein Spaßmacher: ich heiße Achmed III. und war mehrere Jahre Großsultan. Ich stieß meinen Bruder vom Throne und wurde selbst von meinem Neffen entthront. All’ meine Wesire wurden geköpft und ich bin verurteilt, meine Tage im alten Serail zu beschließen. Mein Neffe, der Großsultan Mahmud, erlaubt mir bisweilen meiner Gesundheit wegen eine Reise zu machen, und so bin ich diesmal nach Venedig gekommen, um den Karneval beizuwohnen.“
Ein Jüngling, der neben Achmed saß, hub nach ihm an zu reden. „Ich heiße Iwan,“ sprach er, „und war Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen. Schon in der Wiege wurde ich entthront. Meine beide Eltern wurden in den Kerker geworfen und ich im Gefängnis erzogen. Bisweilen erlaubt man mir, in Begleitung meiner Wächter eine Reise zu machen, und so bin ich nach Venedig gekommen, um dem Karneval beizuwohnen.“
Der Dritte sprach: „Ich bin Karl Eduard, König von England. Mein Vater trat mir seine Rechte auf dies Königreich ab und ich trat zu deren Behauptung mit bewaffneter Hand in die Schranken. Achthunderten meiner Anhänger riss man das Herz aus und schlug es ihnen um die Ohren. Ich habe auch im Gefängnis gesessen. Jetzt geh’ ich nach Rom, meinen Vater zu besuchen, der gleichfalls entthront ist, wie ich und mein Großvater, und bin vorläufig nach Venedig gekommen, um dem Karneval beizuwohnen.“
Nunmehr nahm der Vierte das Wort und sprach: „Ich bin König von Polen. Das Kriegslos, dessen Tücke auch mein Vater erprobte, beraubte mich meiner Erbstaaten. Wie der Sultan Achmed, der Kaiser Iwan und der König Karl Eduard, denen Gott ein langes Leben verleihen möge, ergebe ich mich in den Willen der Vorsehung und bin nach Venedig gekommen, um dem Karneval beizuwohnen.“
Der Fünfte sprach: „Auch ich war König von Polen. Zweimal verlor ich mein Königreich, allein die Vorsehung gab mir einen andern Staat, worin ich mehr Gutes getan habe, als alle Könige der Sarmaten zusammen genommen an den Ufern der Weichsel auch mit dem besten Willen zu tun vermocht hätten. Auch ich füge mich in den Willen der Vorsehung und bin nach Venedig gekommen, um dem Karneval beizuwohnen.“
Jetzt war an dem sechsten Monarchen die Reihe: „Meine Herren,“ sprach er, „ein so großer Herr, wie Jeder von Ihnen, war ich freilich nicht, dennoch aber bin ich so gut wie Sie König gewesen. Ich heiße Theodor und wurde zum Könige von Korsika erwählt. Sonst nannte man mich Ew. Majestät und jetzt nennt man mich kaum mein Herr. Sonst ließ ich Münzen schlagen, jetzt habe ich keinen roten Dreier. Sonst hatte ich zwei Staatssekretäre und jetzt sahen Sie, wie mir mein letzter Bedienter davon lief. Ich sah mich einst auf einem Throne und musste nachher in London geraume Zeit im Kerker auf dem Stroh liegen. Ich fürchte sehr, dass es mir hier am Ende eben so geht, obgleich ich, wie Eure Majestäten, nach Venedig kam, um dem Karneval beizuwohnen.“
Die fünf andern Könige hörten dieser Erzählung mit edlem Mitleiden zu. Jeder von ihnen gab dem Könige Theodor zwanzig Zechinen, um sich Kleider und Hemden anzuschaffen; Kandid aber schenkte ihm einen Diamanten von zweitausend Zechinen an wert.
„Was ist denn das nur für ein einfacher Privatmann,“ sprachen die fünf Könige unter einander, „der im Stande ist, hundertmal so viel wegzugeben, als Jeder von uns, und der es auch tut?“
In eben dem Augenblick, da man vom Tische aufstand kamen in demselben Wirtshause vier Durchlauchten an, die gleichfalls durch das Kriegslos ihrer Staaten beraubt waren und die jetzt den Rest des Karnevals in Venedig mitmachen wollten. Kandid achtete nicht einmal auf die Neuangekommenen. Der Gedanke, seine teure Kunigunde in Konstantinopel aufzusuchen, füllte seine ganze Seele.