Sechstes Kapitel.
[Glück als die für den Menschen spezifische Tätigkeit]


Jedoch mit der Erklärung, die Glückseligkeit sei das höchste Gut, ist vielleicht nichts weiter gesagt, als was jederman zugibt. Was verlangt wird ist vielmehr, dass noch deutlicher angegeben werde, was sie ist.

Dies dürfte uns gelingen, wenn wir die eigentümlich menschliche Tätigkeit ins Auge fassen. Wie für einen Flötenspieler, einen Bildhauer oder sonst einen Künstler, und wie überhaupt für alles, was eine Tätigkeit und Verrichtung hat, in der Tätigkeit das Gute und Vollkommene liegt, so ist es wohl auch bei dem Menschen der Fall, wenn anders es eine eigentümlich menschliche Tätigkeit gibt. Sollte nun der Zimmermann und der Schuster bestimmte Tätigkeiten und Verrichtungen haben, der Mensch aber hätte keine und wäre zur Untätigkeit geschaffen? Sollte nicht vielmehr, wie beim Auge, der Hand, dem Fuße und überhaupt jedem Teile eine bestimmte Tätigkeit zutage tritt, so auch beim Menschen neben allen diesen Tätigkeiten noch eine besondere anzunehmen sein? Und welche wäre das wohl? Das Leben offenbar nicht, da dasselbe ja auch den Pflanzen eigen ist? Für uns aber steht das spezifisch Menschliche in Frage. (1098a) An das Leben der Ernährung und des Wachstums dürfen wir also nicht denken. Hiernach käme ein sinnliches Leben in Betracht. Doch auch ein solches ist offenbar dem Pferde, dem Ochsen und allen Sinnenwesen gemeinsam. So bleibt also nur ein nach dem vernunft-begabten Seelenteile tätiges Leben übrig, und hier gibt es einen Teil, der der Vernunft gehorcht, und einen anderen, der sie hat und denkt. Da aber auch das tätige Leben in doppeltem Sinne verstanden wird, so kann es sich hier nur um das aktuell oder wirklich tätige Leben, als das offenbar wichtigere, handeln.

Wenn aber das eigentümliche Werk und die eigentümliche Verrichtung des Menschen in vernünftiger oder der Vernunft nicht entbehrender Tätigkeit der Seele besteht, und wenn uns die Verrichtung eines Tätigen und die Verrichtung eines tüchtigen Tätigen als der Art nach dieselbe gilt, z. B. das Spiel des Zitherspielers und des guten Zitherspielers, und so überhaupt in allen Fällen, indem wir zu der Verrichtung noch das Merkmal überwiegender Tugend oder Tüchtigkeit hinzusetzen und als die Leistung des Zitherspielers das Spielen, als die Leistung des guten Zitherspielers aber das gute Zitherspiel bezeichnen, wenn, sagen wir, dem so ist, und wir als die eigentümliche Verrichtung des Menschen ein gewisses Leben ansehen, nämlich mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und entsprechendes Handeln, als die Verrichtung des guten Menschen aber eben dieses nur mit dem Zusatz: gut und recht – wenn endlich als gut gilt, was der eigentümlichen Tugend oder Tüchtigkeit des Tätigen gemäß ausgeführt wird, so bekommen wir nach alle dem das Ergebnis: das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit. Dazu muß aber noch kommen, dass dies ein volles Leben hindurch dauert; denn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig.


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