Viertes Kapitel.
[Die Idee des Guten bei Platon]
Besser ist es vielleicht auf das Universelle das Augenmerk zu richten und die Frage zu erörtern, wie dasselbe gemeint ist. Freilich fällt uns diese Untersuchung schwer, da befreundete Männer die Ideen eingeführt haben. Es dürfte aber vielleicht besser, ja Pflicht zu sein scheinen, zur Rettung der Wahrheit auch der eigenen Meinungen nicht zu schonen, zumal da wir Philosophen sind. Denn da beide uns lieb sind, ist es doch heilige Pflicht, die Wahrheit höher zu achten.
Diejenigen nun, welche diese Lehre aufgebracht haben, haben überall da keine Ideen angenommen, wo sie von einem Früher und Später redeten, daher sie auch für die Gesamtheit der Zahlen keine Idee aufgestellt haben. Nun steht aber das Gute sowohl in der Kategorie der Wesenheit als in der der Qualität und der Relation. Das »An-sich« aber und die Wesenheit ist von Natur früher als die Relation. Denn diese gleicht einem Nebenschößling und einem Zubehör des Seienden. Folglich kann für diese Kategorien eine gemeinsame Idee nicht bestehen.
Da ferner das Gute in gleich vielen Bedeutungen mit dem Seienden ausgesagt wird (denn es steht in der Kategorie der Substanz, z. B. Gott, Verstand, in der der Qualität: die Tugenden, der Quantität: das rechte Maß, der Relation: das Brauchbare, der Zeit: der rechte Moment, des Ortes: der Erholungsaufenthalt u. s. w.), so gibt es offenbar kein Allgemeines, das gemeinsam und eines wäre. Denn dann würde man von ihm nicht in allen Kategorien, sondern nur in einer sprechen.
Ferner, da es von dem zu einer Idee Gehörigen auch nur eine Wissenschaft gibt, so wäre auch nur eine Wissenschaft von allem Guten. Nun aber sind ihrer viele, selbst von dem unter einer Kategorie Stehenden. So ist die Wissenschaft des rechten Moments im Kriege die Feldherrnkunst, in der Krankheit die Heilkunst, und die Wissenschaft des rechten Maßes bei der Nahrung die Heilkunst, bei den leiblichen Anstrengungen die Gymnastik.
Man könnte aber auch fragen, was sie mit jenem »An-sich«, das sie zu allem hinzusetzen, eigentlich meinen, da doch in dem Menschen an sich und dem Menschen ein und derselbe Begriff wiederkehrt, der des Menschen. (1096b) Insofern beide Mensch sind, können sie nicht unterschieden sein. Dann gilt aber das gleiche für das Gute an sich und das Gute. Auch wird jenes Gute an sich nicht etwa darum in höherem Sinne gut sein, weil es ewig ist. Ist doch auch, was lange besteht, deshalb nicht weißer, als was nur einen Tag besteht.
Annehmbarer erscheint hier die Theorie der Pythagoreer, die das Eins in die Reihe der Güter stellen. Ihnen mag auch Speusipp gefolgt sein. Doch hiervon muß anderswo gehandelt werden.
Gegen das Gesagte könnte aber ein Bedenken laut werden, als ob nämlich jene Theorie nicht von allem Guten gelten solle, sondern ihr zufolge nur das seiner selbst wegen Erstrebte und Geliebte nach einer Idee benannt werde, während das, wodurch es hergestellt oder erhalten oder sein Gegenteil verhindert wird, seinetwegen und in anderem Sinne gut hieße. Das Gute hätte also dann zweierlei Bedeutungen: das eine wäre gut an sich, das andere gut durch jenes. Trennen wir denn das an sich Gute von dem Nützlichen und sehen wir, ob es nach einer Idee benannt wird. Welche Beschaffenheit soll es haben, um gut an sich zu sein? Soll es das sein, was auch für sich allein erstrebt wird, wie das Denken, Sehen, gewisse Freuden und Ehren? Denn wenn wir auch wohl diese Dinge wegen etwas anderem erstreben, so kann man sie doch zu dem an sich Guten rechnen. Oder wäre es schlechterdings nichts anderes als die Idee? In diesem Fälle wäre sie als Vorbild müßig. Wären aber auch die genannten Dinge an sich gut, so muß der Begriff der Güte in ihnen allen eindeutig auftreten, ganz so wie der Begriff »weiß« im Schnee und Bleiweiß. Nun ist aber bei der Ehre, der Klugheit und der Lust als Gütern dieser Begriff jedesmal anders und verschieden. Also ist das Gute nichts Gemeinsames, unter eine Idee Fallendes.
Aber inwiefern spricht man nun doch von dem Guten? Das viele Gute scheint doch nicht zufällig denselben Namen zu haben. Ist es also vielleicht darum, weil es von einem herkommt oder insgesamt auf eines hinzielt, oder heißt es vielmehr in analoger Weise gut? Nach dieser Weise ist ja was für den Leib das Auge ist, für die Seele der Verstand, und ähnliche Analogien gibt es noch viele. Aber wir müssen diesen Punkt wohl für jetzt fallen lassen, da eine genauere Behandlung desselben in einen anderen Teil der Philosophie gehört.
Ebenso ist es nicht dieses Ortes, die Ideenlehre weiter zu verfolgen. Wenn auch wirklich das gemeinsam ausgesagte Gute etwas Einzelnes und getrennt für sich Bestehendes sein sollte, so leuchtet doch ein, daß der Mensch es weder in seinem Handeln verwirklichen, noch es erwerben könnte. Um ein solches Gut aber handelt es sich grade. Nun könnte man ja denken, (1097a) die Kenntnis jenes getrennten Gutes fördere einen in bezug auf das Gute, das man erwerben und tun kann, und es wäre uns wie ein Muster, mit dessen Hilfe wir auch das für uns Gute besser erkennen, und, wenn wir es erkannt, erlangen könnten. Aber wenn auch diese Erwägung einigermaßen annehmbar klingt, so findet sie doch an den Künsten ihre Widerlegung. Denn während dieselben insgesamt nach einem Gute streben und das suchen, was daran noch mangelt, lassen sie die Erkenntnis dieses Guten außer Acht. Es hat aber doch wohl wenig Schein, daß alle Künstler ein derartiges Hilfsmittel nicht kennen und nicht einmal vermissen sollten. Auch wäre es sonderbar, was es einem Weber oder Zimmermann für sein Gewerbe nützen sollte, das Gute an sich zu kennen, oder wie einer ein besserer Arzt oder Stratege werden sollte, wenn er die Idee des Guten geschaut hat. Auch der Arzt faßt offenbar nicht die Gesundheit an sich in's Auge, sondern die des Menschen, oder vielmehr die dieses Menschen in concreto. Denn er heilt immer nur den und den. Hierüber also sei soviel gesagt.