Viertes Kapitel.
[Lust als Vollendung der Tätigkeit]
Da jeder Sinn sich mit bezug auf sein Objekt betätigt, und zwar vollkommen dann, wenn er selbst in guter Verfassung und sein Objekt das schönste und angemessenste ist, das er wahrnehmen kann – so etwas ist doch wohl wesentlich die vollkommene Tätigkeit; ob wir aber sagen, der Sinn sei tätig oder das Wesen, das ihn hat, steht uns gleich –, so ist also bei aller Tätigkeit diejenige die beste, bei der das Tätige in bester Verfassung und das Objekt das Vollkommenste ist, das in den Bereich der betreffenden Tätigkeit fällt. Diese beste Tätigkeit muß wie die vollkommenste so auch die genußreichste sein. Jeder Sinn hat nämlich seine Lust, und ebenso gibt es eine Lust des Denkens und Betrachtens, und die höchste Lust liegt in der vollkommensten Tätigkeit, und am vollkommensten ist die Tätigkeit eines in guter Verfassung befindlichen Tätigen gegenüber seinem vornehmsten Gegenstand. Die Lust ist demnach der Tätigkeit Vollendung. Freilich bringt die Lust die Vollendung nicht in dem Sinne, wie die letztere unter den erforderlichen Bedingungen von dem Objekte und den Sinnen kommt, wie ja auch die Gesundheit nicht in demselben Sinne Ursache des Gesundseins ist wie der Arzt.
Dass aber jeder Sinn seine Lust hat, ist klar. Wir nennen ja Gesichts- und Gehörswahrnehmungen lustbringend. Klar ist auch, dass die Lust am größten ist, wenn der Sinn die beste Verfassung hat und sich gegenüber einem Objekt der besten Art betätigt. Entsprechen das wahrgenommene Objekt und das wahrnehmende Subjekt diesen Bedingungen, so wird sich immer Lust einstellen; denn dann ist ebensowohl was sie hervorrufen als was sie empfinden kann, vorhanden. Jedoch vollendet die Lust die Tätigkeit nicht wie eine habituelle Form, sondern wie etwas, was zur Form hinzutritt, wie die Schönheit sich im Gefolge der vollkommenen körperlichen Entwicklung einstellt. Solange nun das geistig gedachte oder sinnlich wahrgenommene Objekt in der erforderlichen Verfassung bleibt und das sinnlich unterscheidende oder verständig denkende Subjekt desgleichen, (1175a) solange wird die Tätigkeit mit Lust verpaart sein. Denn solange Leidendes und Tätiges sich gleich bleiben und sich gleichmäßig zueinander verhalten, erfolgt naturgemäß die gleiche Wirkung.
Wie kommt es nun, dass niemand beständig Lust empfindet? Nicht etwa von der Ermüdung? Kein menschliches Vermögen kann ja beständig tätig sein, und so bleibt denn auch die Lust, als welche der Tätigkeit folgt, aus. Manches ergötzt uns auch, weil es nun ist, und später eben deshalb nicht mehr. Denn zuerst wird die Aufmerksamkeit davon in Anspruch genommen und beschäftigt sich lebhaft damit, wie man z. B. einen Gegenstand, der in die Augen trifft, angestrengt betrachtet. Danach aber ist die Tätigkeit keine solche mehr, sondern sie läßt nach, und dadurch wird denn auch die Lustempfindung geschwächt.
Man kann wohl sagen, wo alles zu leben begehre, verlange auch alles nach der Lust. Das Leben ist nämlich eine Tätigkeit, und jeder ist in dem und durch das tätig, was er am meisten liebt. So ist der Freund der Musik mit dem Gehör in dem Bereich der Töne tätig, der Lernbegierige mit dem Verstand im Bereich der Erkenntnisse, und so die Übrigen alle. Es hat also seinen guten Grund, dass man auch nach der Lust strebt, da aus ihr einem jeden für das Leben, dieses begehrenswerte Gut, die Vollendung erwächst.