Erstes Kapitel.
[Die Lust]


Hiernach ist die Erörterung der Lust an der Reihe. Unser Geschlecht hat nichts so eigen als die Lust, daher man die Jünglinge in der Art erzieht, dass man sie wie mit einem doppelten Steuer durch Lust und Unlust lenkt. Auch für die sittliche Tugend scheint es von der allergrößten Wichtigkeit zu sein, dass man den richtigen Dingen Liebe und Haß entgegenbringt. Denn diese Gefühle erstrecken ihren Einfluß auf alle Lebensverhältnisse, da sie für die Tugend und die Glückseligkeit so wichtig und bedeutsam sind. Man begehrt ja was Lust gewährt, und flieht was schmerzlich ist. Einen so weittragenden Gegenstand darf man daher gewiß nicht mit Stillschweigen übergehen, besonders da über ihn großer Streit der Meinungen herrscht.

Die einen nämlich setzen die Lust dem höchsten Gute gleich, die anderen behaupten umgekehrt, sie sei ganz und gar schlecht, mögen sie das nun wirklich glauben, oder mögen sie es im praktischen Interesse für besser halten, die Lust, wenn sie es auch nicht ist, als schlecht hinzustellen, da die Mehrzahl zu ihr hinneige und den Lüsten fröne, weshalb man sie nach der entgegengesetzten Seite leiten müsse, um sie so in die rechte Mitte zu bringen.

Indessen dürfte dieses schwerlich das Richtige sein. Wo Gefühle und Handlungen ins Spiel kommen, haben Worte weniger Überzeugungskraft als Werke. Wenn sie nun mit dem, was die Leute an einem beobachten, nicht übereinstimmen, bringt man sich mit seiner strengen Lehre in Mißkredit und macht sogar die Wahrheit selbst verdächtig. (1172b) Denn wenn man den Tadler der Lust sie dennoch in einem einzelnen Falle begehren sieht, meint man leicht, seine Neigung sei in jedem Falle der Lust zugewandt, als ob die eine wäre wie die andere. Denn das Unterscheiden ist nicht die Sache der Menge. Uns dünkt, wahre Grundsätze sind nicht bloß für die Wissenschaft von höchstem Werte, sondern ebenso für das Leben. Sie verschaffen sich Glauben, da sie mit den Werken im Einklang stehen, und sind für verständige Hörer ein Sporn, sich nach ihnen zu richten.

Doch genug darüber. Kommen wir jetzt zu den verschiedenen Ansichten über die Lust.


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Seite zuletzt aktualisiert: 18.10.2006 
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