Genie und äußere Reize.
Galilei, Newton, Watt
Wir müssen noch eine Gruppe psychologisch eigengearteter Menschen betrachten, von denen es nach der gegebenen, eng-umschriebenen Grenze dessen, was man Genie nennt, zweifelhaft ist, ob man sie dazurechnen soll oder nicht. Moleschott hat besonders darauf aufmerksam gemacht, und es unter die Anzeichen der Genialität gerechnet, wenn gewisse Leute, Denker, Forscher durch unscheinbarste Reize aus der Außenwelt zu Schlüssen, Folgerungen, Weiterungen, Perspektiven gebracht werden, die in ihrer Größe, Großartigkeit oder Heterogenität den ursprünglichen Reiz, den Auslösungshebel für die ganze Gedankenkette, als winzig und gegenstandslos erscheinen lassen. So kam z. B. Galilei durch Betrachten der an langen Schnüren aufgehangenen Kirchenampeln und ihrer fast unmerklichen Oszillationen auf das Gesetz der Pendelschwingungen; Newton kam durch Beobachtung eines vom Baum fallenden Apfels in seinem Garten in Woolsthorpe, als er auf der Bank saß, auf die Idee des Gravitations-Gesetzes und der Anziehungskräfte zwischen Weltkörpern und ihren Trabanten; John Watt kam durch Beobachtung des spontan sich hebenden Deckels einer siedenden Teekanne auf die Idee der Benützung des Dampfes als Motor. Der französische Komponist Auber fand beim Schaumschlagen zum Rasieren die Melodie des bekannten Marschtempos in der Ouvertüre zu seiner »Stumme von Portici«. Archimedes fand beim Einsteigen in's Bad das Gesetz der spezifischen Schwere der Körper. Der Astronom Leverier kam durch Beobachtung der Störungen in den Bewegungen des Planeten Uranus auf die Idee der Nähe eines anderen Himmelskörpers, berechnete diesen nach Größe und Stellung, und gab so Veranlassung zur Entdeckung des Planeten Neptun. — Hier haben wir eine Reihe von Geistestaten fast ausschließlich allerersten Ranges vor uns. Es scheint aber zweifelhaft, ob wir ihre Urheber unter die Genies rechnen sollen. Vom Genie verlangen wir, daß es in dem, was Geniales in ihm steckt ohne Anknüpfungspunkte mit seinen Zeitgenossen oder Vorgängern sei. Ein rein schriftstellerisches Genie soll, was Wortverbindungen, Satzstellung und die allgemeine Wirkung der Sprache angeht, unerhört sein. Dies gilt z.B. im vollsten Maaße von der Sprache Luthers und Klopstocks. Ein koloristisches Genie, wie es Makart war, lehnte sich nicht etwa an Rubens, Titian, oder die Venetianer an, sondern erfand seine eigenen Töne. Die Malweise eines Max, das was man bei einem Maler den Vortrag nennt, war absolut neu, und wirkte auf ihre ersten Betrachter wie eine Offenbarung. Was man auch über Wagner's dramatisches Talent, seine Instrumentierung und Kompositionsweise gesagt haben mag, scheint doch jenes scharf abgegrenzte Gebiet der Harmonisierung seine Haupt-Originalität auszumachen; Beweis: die fast unverkürzte Wirkung Wagner'scher Musik durch Wiedergabe auf dem Klavier, wo alle die obengenannten Momente wegfallen, und die Harmonie (nicht die Melodie) in ihr volles Recht tritt. An Wucht der orchestralen Mittel hat Wagner an Meyerbeer, an Melodiefindung in Weber, an rücksichtsloser Sprengung der überkommenen musikalischen Form an Berlioz ebenbürtige, zum Teil überlegene Rivalen; aber in der Harmonisierung, besonders in der enharmonischen Behandlung der Tongebilde, in der Verwendung der gewagtesten Dissonanzen hat Wagner Ausdrucksformen geschaffen, die man früher nicht kannte, die zum Teil unanalysierbar sind, die sich nur mit seinem Namen decken; und soweit ist Wagner Genie. —