Genie und Geisteskrankheit.
Melancholie


Die Verbindung von genialer Anlage mit Geisteskrankheit ist schon eine sehr alte. Und zwar deshalb, weil die meisten alten Völker Wahnsinn und Dichtkunst identifizierten. Bei den Hebräern heißt navi Prophet und Narr. Die Türken nennen die Geisteskranken »Söhne Gottes«. Die »weisen Frauen« der alten Deutschen, von deren Aussprüchen die wichtigsten politischen Entschlüsse abhingen, waren geistig alterierte Personen. Die Priesterinnen des delfischen Orakels bei den Griechen waren geisteskranke Frauen oder künstlich in Extase gebracht. Bis herauf zur Seherin von Pervorst und den hellsehenden Aussprüchen Hypnotisierter wird immer die Gabe der Weissagung mit geistiger Alteration in Verbindung gebracht. Aber auch jene griechischen Schriftsteller, die Geisteskrankheit und Dichtkunst schon sehr wohl unterschieden, bringen beide Zustände in einen gewissen Zusammenhang. Man sprach von einem göttlichen Wahnsinn des Plato. Und Aristoteles schon bemerkte, daß alle ingeniösen Leute melancholisch seien. In der Tat ist die Melancholie, wie sie sich typisch auf den Gesichtszügen eines Beethoven ausgeprägt, eine regelmäßig wiederkehrende Erscheinung bei Leuten, die fast unaufhörlich von inneren Regungen und Bildern heimgesucht werden. Nicht zufällig bedeutet das deutsche Wort »tiefsinnig« melancholisch krank und gedankenreich. Selbst ein so heller und weitblickender Kopf wie Friedrich der Große wurde zeitlebens der melancholischen Anwandlungen und Todesgedanken nicht los. Noch bevor das von ihm erbaute Schloß Sansouci fertig war, ließ er, der das 33. Lebensjahr noch nicht vollendet, sich im Garten vor dem Fenster seines künftigen Studier-Zimmers eine Gruft ausmauern, bedeckte sie, um ihren Zweck andern nicht erkennen zu lassen, mit einer Statue der Blumengöttin, und sagte im intimen Zwiegespräch mit einem Herrn seiner Umgebung; »Quand je serai là, je serai sans souci!« (Wenn ich dort drunten liegen werde, werde ich ohne Sorge sein!) Und davon hat das zwei Jahre später erbaute Schloß seinen Namen. Sonsouci war kein Lustschloß der Sorgenlosigkeit, sondern das Schloß einsamzurückgezogener, melancholischer Gedanken-Arbeit. — Die Melancholie, hat man gesagt, ist der Gedankenbringer, wie der West-Wind der Regenbringer. Beide wirken befruchtend. Aber die Melancholie ist auch der düstere Ackerboden, auf dem die bunte Blume der Sinnestäuschung so leicht gedeiht. Selbst den großen Napoleon I. hielt in seinen Jugendjahren die Brienne, Valençe und Auxonne eine melancholische Stimmung in ihrem Bann, und er, der so großes Unglück über die Menschheit gebracht, schrieb sentimentale Abhandlungen, wie »Über das Menschenglück«, »Dialog über die Liebe«, »Reflexionen über den Naturzustand.« —

Die eigentlich wissenschaftliche Verbindung von Genie und Geisteskrankheit fällt erst in unser Jahrhundert. Moreau, der bekannte französische Irrenarzt, schrieb schon 1859 ein geistvolles Buch über diesen Gegenstand. Er definierte direkt das Genie als eine Gehirn-Neurose, als »éréthisme nerveux«, der aber seinen Verlauf zum Wahnsinn oder Idiotismus nicht durchmacht, sondern stationär bleibt; also eine Art stehengebliebene Geisteskrankheit. Diese Anlage zu einer prädispositionellen Gehirnfunktion ist meist erblich; ebenso wie in bestimmten Familien immer wieder Lungen- oder Gelenk- oder Augen-Krankheiten vorkommen, so gibt es Familien, in denen das Gehirnleben nach der moralischen oder intellektuellen Seite prävaliert. Eine solche Familie hat große Chance einen geistig hervorragenden Menschen, im weiteren Verlauf aber einen Geisteskranken zu erzeugen. Von Griesinger stammt schon der bekannte Ausspruch: »Wenn ich höre, daß in einer Familie ein Genie existiert, frage ich gleich, ob nicht auch ein Blödsinniger darunter ist.« In der Tat ist der Fall außerordentlich häufig, daß wir in der Aszendenz oder Deszendenz von genialen Menschen die verschiedenen Formen von Psychosen antreffen. Nur einige ganz bekannte Beispiele: Schopenhauer's Onkel und Großmutter waren blödsinnig. Hegel's Schwester war verrückt (dieses Wort als psychiatrischen Terminus gebraucht), glaubte sich in ein Paket verwandelt, welches gesiegelt und abgeschickt werde; starb durch Selbstmord. Eine Schwester von Diderot starb irrsinnig. Richelieu's geisteskranke Schwester hielt ihren Körper von Glas und schützte ihn dementsprechend; beider Bruder, ein Priester, hatte Visionen und hielt sich für Gott Vater. Die Mutter von Karl V. blieb die letzten 50 Jahre ihres Lebens in melancholischem Stumpfsinn; Karl V. selbst war gesund; zog sich aber in dem relativ frühen Alter von 56 Jahren angeekelt von der Welt in ein Kloster zurück, wo er starb. Sein Sohn war der hochbegabte, energische Philipp II. Und dessen Sohn Don Carlos war wieder geisteskrank und mußte in Gefangenschaft gehalten werden. Der Bruder Alexander des Großen, Arrhidaios war Idiot. Ein Sohn des römischen Geschichtsschreibers Tacitus war blödsinnig. Hieher gehört auch der bekannte Ausspruch: »Große Väter, kleine Söhne.« Peter des Großen älterer Bruder Iwan war blödsinnig, seine Schwester Sophie war außergewöhnlich talentiert wie er selbst; und sein Enkel, Paul I., litt wiederum an Halluzinationen, glaubte sich in den Gassen von St. Petersburg von seinem verstorbenen Großvater verfolgt, und provozierte selbst durch sein unberechenbares, tolles und seine ganze Umgebung in Schrecken haltendes Benehmen die Verschwörung, durch die er aus dem Weg geräumt wurde. — Lombroso, der bekannte italienische Psychiater und modernste Vertreter der Lehre von der Identität von Genie und Wahnsinn geht ohne jeden voreingenommenen Standpunkt die Hauptmerkmale körperlicher und psychischer Natur bei Geisteskranken und genialen Menschen durch, findet durch Vergleichung eine große Zahl wesentlicher Symptome identisch und schließt aus der Identität dieser Symptome auf die Identität des geistigen Prozeßes. Ein etwas summarisches Verfahren, welches zunächst ein ungeheueres Material zur Stelle geschafft hat, das aber der kritischen Sichtung noch dringend bedürftig ist. Unter diese bei Geisteskranken und genialen Menschen gleichzeitig anzutreffenden Kennzeichen rechnet Lombroso in der 5. Auflage seines »L'uomo di Genio« folgende: kleine Statur, Bläße der Gesichtsfarbe, Magerheit, Verletzungen und Asymmetrie des Schädels, fliehende Stirn, Überschreiten des Mittels der Schädelkapazität, Entzündungen der Gehirnhäute, Abhäsion der letzteren an der Schädelwand, Inegalität der Gehirnhälften, Stammeln, Stottern, Frühreife, Wanderungsdrang u.a. —

Im Allgemeinen muß man nun sagen, daß der Satz: Genie ist Wahnsinn, einfach und ohne Einschränkung aufgestellt, unhaltbar ist, und zu Irrtümern verleitet. Dem gegenüber hat Lamb, der englische Psychologe, Recht, wenn er entgegnet, er könne sich bestimmte hochbegabte Männer, wie Shakespeare und Goethe, geisteskrank gar nicht vorstellen. Auch ist es bezeichnend, daß gerade hervorragende Irrenärzte, wie Hagen, energisch sich gegen die Identifizierung beider Zustände gewehrt haben. Und es ist klar, daß ein Psychiater, wie Arndt, der als das Grundwesen aller Geisteskrankheit den Schwachsinn ansieht, niemals in die Gleichstellung dieses Hemmungs-Zustandes mit der höchsten geistigen Blüte der Menschheit willigen wird. Auch liegt in dem obigen Satz: Genie ist Wahnsinn, zu nahe der Rückschluß: Wahnsinn ist Genie. Und wenn auch Lombroso ein ganzes Drittel seines Buches mit der Aufzählung von höchst merkwürdigen und originellen Begabungen bei Geisteskranken ausgefüllt hat, so darf dieser Rücksatz: Wahnsinn ist Genie, nie und nimmer praktisch aufzutreten wagen. Jeder Seifensieder kann geistig erkranken, ohne dadurch seinen Intellect um einen Gran zu erhöhen. Auch haben wir noch keine bestimmten statistischen Angaben darüber, wie viel Prozent überhaupt von der Menschheit geistig erkranken, um daran die Häufigkeit geistiger Anomalieen bei den Genies messen zu können. —


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