Der Akazienbaum
Dem Hauptmann von Capernaum waren aus seiner zweiten Ehe mit dem Fräulein von Jürgaß zwei Söhne geboren worden, von denen der jüngere den Namen des Vaters, Georg Moritz, führte. Der ältere dagegen war Otto von Rohr. Sein Gedächtnis lebt in Trieplatz in einem schönen Akazienbaume fort, der vom Park aus in das Gartenzimmer blickt.
Otto von Rohr war 1763 geboren. Er trat früh in ein Infanterieregiment und stand 1792, als der Krieg gegen Frankreich ausbrach, beim Grenadierbataillon von Kalkstein. Über die Charge, die er bekleidete, verlautet nichts Bestimmtes; wahrscheinlich war er Stabskapitän. 1793 nahm er teil an der Rheinkampagne und gehörte jenem Heeresteile zu, der im Spätherbste genannten Jahres unter dem Herzoge von Braunschweig gegen den General Hoche kämpfte. Hoche wurde den 17. November bei Blieskastel geworfen und am 28, 29. und 30. in der dreitägigen Schlacht bei Kaiserslautern geschlagen. Unter denen, die preußischerseits dieses schönen Sieges wenig froh werden konnten, befand sich auch Otto von Rohr, der gleich am ersten Tage, den 28., als er mit seinem Grenadierbataillon aus einer Waldecke vorbrach, in Gefangenschaft geraten war. Diensteifer und Herzensgüte trugen die Schuld daran. Schon war ihm der Rückzug durch einen Hohlweg geglückt, als er noch sieben seiner Leute, die das Signal überhört haben mußten, jenseits des Defilees im eifrigsten Scharmützel mit dem nachdrängenden Feinde sah. Er eilte zurück, um sie zu retten, wurde aber dabei von einem Haufen Volontärs gefangengenommen, die mittlerweile den Hohlweg besetzt hatten.
Die »Volontärs« von damals waren den »Franktireurs« von heute sehr ähnlich. Otto von Rohr hat seine Schicksale während der nächsten fünf Tage, in ebenso vielen, mir zur Benutzung vorliegenden Briefen aufgezeichnet, Aufzeichnungen, aus denen ich ersehen konnte, wie wenig achtzig Jahre jenseits der Vogesen geändert haben. Alles liest sich wie Erlebnisse von heute oder gestern. Im Guten und Schlechten, in Liebenswürdigkeit und Frivolität, in Artigkeit und Frechheit ist der nationale Charakter derselbe geblieben.
»28. November 1793. Drei oder vier Volontärs nahmen mich gefangen, zwölf oder mehr aber waren es, die mich zurückführten. Ich mochte zwei Minuten zwischen meinen Begleitern gegangen sein, als diese plötzlich einige Schritt hinter mir zurückblieben und mich allein stehen ließen. Die ganze Bande schwatzte; zugleich mußte ich wahrnehmen, daß einer von ihnen das Gewehr anlegte und auf etwa zehn Schritt nach mir schoß. Der Schuß versagte. Mein Volontär begann nun zu poltern, schüttete neues Pulver auf die Pfanne, schärfte den Stein und legte wieder an. Mittlerweile war ich von meiner ersten Betäubung zurückgekommen und hatte die klare Vorstellung eines unvermeidlichen Todes. Mich wehren, dazu fehlte mir die Waffe (meinen Degen hatte man mir abgenommen), mich durch Flucht retten, war ganz unmöglich; ich verteidigte mich also nicht, weil ich nicht konnte, und stand, weil ich mußte. Ich weiß nicht mehr, was ich tat, nur das hab ich noch in Erinnerung, daß die ganze Gesellschaft lachte. Auch der Volontär, der im Anschlage lag, lachte mit. In diesem Moment, der über mich entscheiden mußte, trat ein alter Soldat, Sergeant, wie sich später ergab, aus dem Dickicht, schlug dem Buben das Gewehr nieder und rettete mich dadurch. Die ganze Bande verlief sich nun und ich war mit meinem Retter allein. Er hieß Malwing, war ein geborener Elsässer, hatte den Siebenjährigen und dann den amerikanischen Krieg mitgemacht und vermaledeite seine eigenen Leute, die er Meuchelmörder nannte. Er hieß mich guten Mutes sein, führte mich zum kommandierenden General Hoche und übergab diesem meine Person und meine Habseligkeiten. Die letzteren stellte mir ein Adjutant des Generals sofort wieder zu. Hoche selbst unterhielt sich ein wenig mit mir, war sehr artig und überließ mich dann wiederum der Obhut Malwings. Unter den Gegenständen, die mir zurückgegeben wurden, befand sich auch mein Degen, meine Schreibtafel und Schärpe. Ich bat Malwing, die letztere anzunehmen, was er indessen entschieden ablehnte. Er sagte nur, »ich solle sie verbergen«, ein Rat, dem ich leider nicht folgte. Meine Börse mit etwa elf Dukaten nahm er. Ich besaß außerdem noch eine auf den General Möllendorf geprägte Medaille und eine kleine Schaumünze, ein Geschenk meines seligen Onkels; ich erzählte ihm, was es mit beiden für eine Bewandtnis habe, worauf er sie mir ließ. Meine Uhr war bei der Bagage. Jetzt nahm mir der Alte Wort und Handschlag ab, daß ich mich als sein Gefangener benehmen wolle, führte mich dann nach einer nahegelegenen Bauernhütte und sorgte für ein Abendbrot, wie es die Umstände gestatteten. Darauf legte er sich neben mich schlafen. Mit uns war eine Rotte von Volontärs, unsaubere, ekelhafte Kerle. Ich hoffte aber sicher, am andern Tage ausgewechselt zu werden, und so stählte mich diese Hoffnung gegen die Widrigkeit alles dessen, was mich umgab. Ich schlief ein.
Den 29. November 1793. Morgens mit dem Tage kam mein alter Malwing. Ich war froh, ihn wieder zu sehen, stand auf und ging mit ihm, wohin er wollte. Er führte mich nach dem etwa eine halbe Stunde entfernten Hauptquartier, wobei wir an Truppenteilen vorüberkamen, die sich schon zu ihrem nahen Tagewerk versammelt hatten. Dieser Gang war eine Art Spießrutenlaufen, doch waren die Bemerkungen, die fielen, mehr beißender Spott und launiger Scherz, als pöbelhafte Worte und grobe Beschimpfungen. Sie frugen mich, ob ich etwas an meine Geliebte zu bestellen hätte, sagten, ich hätte viel Republikanisches, offerierten mir eine Prise Kontenanze u. dgl. m. Endlich langten wir im Hauptquartier an. Hier waren drei Generale, ebenso viele Repräsentanten und einige andere Offiziere in eine Stube einquartiert. Malwing stellte mich den Generälen vor und verließ das Zimmer. Generäle und Packknechte, Fleischer und Repräsentanten saßen (gewiß ihrer dreizehn an der Zahl) um einen großen Kumpen Reis mit Hühnern und frühstückten. Man war allgemein äußerst artig gegen mich und forderte mich auf, mit zu frühstücken. Eine kleine Weile hatte ich es mir gut schmecken lassen, als sich jemand neben mich hinstellte, der dem Anscheine nach ebenso hungrig war als ich. Er hatte keinen Löffel, ich bot ihm also meinen an, in der Hoffnung, daß ich ihn zurückerhalten würde. Das war aber irrig. Die Gesellschaft hatte nicht Löffel genug, und gingen diese deshalb auf eine Art Pränumeration aus einer Hand in die andere. An mich kam kein Löffel wieder. Nach dem Frühstück ging alles auf seinen bestimmten Posten zur Schlacht; vorher indessen gaben mir die Generäle noch die Versicherung, sie wollten an diesem Nachmittag noch dem Herzoge von Braunschweig meine Auswechselung vorschlagen. Sie würden zu diesem Behufe das Nähere mit mir in Kaiserslautern, allwo sie ihr Hauptquartier zu nehmen gedächten, verabreden. Bis dahin möcht ich mir die Zeit nicht lang werden lassen. Diese ganze Unterhaltung und besonders der Punkt »in Kaiserslautern Hauptquartier nehmen zu wollen« war in so festem zuversichtlichem Tone gesprochen worden, daß ich jeden Glauben an das gute Glück der Preußen für diesen Tag aufgab. Ich blieb noch ein Weilchen allein, ward aber dann von einem Gendarmen abgeholt und auf die Wache gebracht.
Das Wachthaus lag so, daß ich einen großen Teil des Schlachtfeldes übersehen konnte. Nicht mit den angenehmsten Empfindungen. Ich wußte, daß unsere Armee, besonders durch Krankheiten geschwächt, selbst unter Hinzurechnung der Sachsen kaum gegen 60000 Mann ausmachte; wenn ich nun hörte, daß die Franzosen nach Vereinigung ihrer Rhein-, Maas- und Moselarmee 150000 Mann stark seien, wenn ich sie, so unmittelbar vor mir, alle Felder und Wiesen weit umher bedecken sah, so stand meine Hoffnung niedrig und ich vergaß bei diesem Anblick alle meine eigene Not. Nachmittag brachte man einige Gefangene ein, erst einen Junker von Schulz vom Dragonerregiment Sachsen-Kurland, dann den Kapitän Wilhelmy von demselben Regiment. Auch einige Mannschaften. Wilhelmy sollte später, wie mein Unglücksgefährte so auch mein Freund werden. Wir hatten bereits eine ganze Weile miteinander gesprochen, ich meinerseits ihm schon diese und jene kleine Aufmerksamkeit erwiesen, und er hielt mich immer noch – durch meinen blauen Surtout mit weißen Aufschlägen dazu veranlaßt – für einen Volontär. Als er nun aber von seinem Irrtum zurückkam und mich als einen preußischen Offizier erkannte, da war er froh, ganz wie ich es war, einen Schicksalsgefährten zu treffen. Herzlich und gefühlvoll waren seine Äußerungen; fest war der Bund, den die neuen Bekannten schlossen; mir dünkt es ein Freundschaftsbund für die ganze Zukunft, für Zeit und Ewigkeit. Auch er war durch übereilte Hitze seiner Befehlshaber ins Mißgeschick gekommen; im übrigen unverwundet wie ich. Er war der erste, der mir sagte, daß das Grenadierbataillon von Kalkstein den vorigen Abend nah an sechzig Mann verloren habe, daß ich zu den Toten gezählt worden und daß außerdem Leutnant von Reitzenstein gefallen und zwei Offiziere blessiert seien.
Abends in der Dämmerung erschien abermals Freund Malwing. Er trat ein mit einem: à présent tout est au diable! Dies hatte zum Teil Bezug auf die mir abgenommenen Habseligkeiten. Er hatte sie zusammen in ein Papier gewickelt, in seine Rocktasche gesteckt, und diese war ihm durch eine preußische Kanonenkugel weggerissen, oder wie er sich ausdrückte »zum Teufel geschickt worden«.Er hatte dabei eine Kontusion davongetragen, weshalb er zurück in ein Lazarett gehen mußte. Ich bot ihm, da mir sein Verlust leid tat, nochmals meine Schärpe an, aber er lehnte nochmals ab und verwies mir meine Unfolgsamkeit, sie nicht nach seinem Rate besser versteckt zu haben. Dann mahnte er mich zu Geduld und Vorsicht, reichte mir seine Flasche und ging fröhlich und guter Dinge ab, mit dem Versprechen, mich wieder zu besuchen.
Und so beschloß sich der zweite Tag meiner Gefangenschaft. Durch tausend Bemerkungen belästigt, von Ahnungen und Besorgnissen gequält, dazu von der Hoffnung einer baldigen Änderung meines Geschicks nicht mehr geschmeichelt, setzte ich mich, meinem neuen Freunde Wilhelmy gegenüber, auf einen Schemel und wünschte mir Schlaf. Doch ihn zu finden, daran war nicht zu denken. Die Stube zum Ersticken heiß und mit Menschen derart gefüllt, daß ich schlechterdings meine Füße nicht regen konnte, ohne jemanden zu treten. Meine Lage war äußerst lästig, und endlich durch die Bewegungslosigkeit, zu der sich mein Körper gezwungen sah, dem Erstarren nahe, blieb mir kein anderes Mittel, als auf den Schemel zu steigen. Hier stand ich wie ein Säulenheiliger. Alles schlief und schnarchte, nur Wilhelmy und ich nicht.
Genug, es war nicht die schmerzhafteste, aber doch die peinlichste Nacht meines ganzen Lebens. Endlich kam der so lang' ersehnte Morgen, und alles regte und reckte sich. Ach wie war ich so froh.
Den 30. November 1793. Der Morgen kam und mit ihm die Sterbestunde für so manchen, Freund wie Feind. Viele fanden ihren Tod gestern schon, viele ehegestern, noch mehr fanden ihn heute. Früh mit der ersten Morgendämmerung begann die Schlacht von neuem; das Feuer der Kanonen war dabei so heftig, wie ich es noch nie gehört hatte. Etwa um elf war die Bataille völlig zum Vorteil der Preußen entschieden. Die Franzosen machten indessen, wie bekannt, einen meisterhaften Rückzug, so daß sie trotz des schlechten Terrains, auf dem sie sich bewegten, keine Kanone verloren. Es kam ihnen dabei freilich zustatten, daß unsere Kavallerie ganz entkräftet war. Von dem Gewimmel der Zurückkommenden sahen wir nur wenig, da auch wir, als die Retirade begann, zurück mußten. Wir bildeten nur ein kleines Häuflein, Wilhelmy, ich, der Junker und etwa acht Gemeine, das war die ganze gefangene Gesellschaft, schließlich noch durch sechs oder sieben Deserteure vermehrt. Letztere höchst widriges Gesindel. Mit genauer Not bekamen wir einige von den erbeuteten Pferden; dann, bei jedem Offizier ein Gendarm, außerdem noch zwei, drei zur Eskorte der übrigen, so ging unser Zug rückwärts auf der Straße nach Homburg zu.
Ein wahrer Golgathas-Weg für uns arme Sünder. Gleich zu Anfang passierten wir einen großen Teil der französischen Armee, die auf einer weiten Ebene hielt. Hier fanden wir Truppen aller Art, auch das Proviantfuhrwesen. Wir kamen leidlich vorüber. Als wir aber eine andere Abteilung der geschlagenen Armee erreichten, bei der sich viele Hunderte von Schwerverwundeten befanden, war es mit unserer Ruhe vorbei.
Ein großer Teil dieser Unglücklichen, als sie uns sahen, gebärdete sich wie rasend, wetterte und fluchte und schien durchaus willens, es bei den insultierenden Worten nicht bewenden zu lassen. Mehr als einmal schlug man die Gewehre auf uns an, und nur der Umstand, daß wir rechts und links Gendarmen zur Seite hatten, die bei dieser Gelegenheit so gut wie wir getroffen werden konnten, rettete uns aus dieser Gefahr. Die Insulten dauerten fort, aber nach einer halben Stunde schienen auch die Lungen erschöpft und man ward still. Nochmals eine halbe Stunde später und wir wurden in einem Stall untergebracht, wo sich unser Häuflein alsbald um einen Unglücksgefährten vermehrte. Das Regiment Göcking-Husaren hatte verfolgt und bei diesen Verfolgungs-Scharmützeln war Kornett Gottschling vom genannten Regiment verwundet und dann gefangen genommen worden. Er hatte einen Hieb über den Kopf, einen andern über die Hand und war in sehr bedauernswerter Lage.
Der Zug setzte sich endlich wieder in Bewegung. Neue feindliche Trupps waren zu passieren, da wir aber auf dem Marsche blieben, so hatten wir weniger zu leiden; nur der arme Gottschling erhielt einen Steinwurf.
Gegen Abend rückten wir in ein Dorf ein, das nicht mehr ferne von Homburg war. Der Führer der Eskorte wollte weiter, aber die Mannschaften, die sich angeschlossen hatten, wollten bleiben oder wenigstens eine Rast machen. Der Führer mußte nun gehorchen. Ein Haus wurde ausgewählt, und wir Offiziere, der Junker, die Deserteurs und die Gendarmen kamen in ein und dieselbe Stube. Die gutmütige Wirtin schaffte Milch, wir selbst hatten Kommißbrot und so wurde denn eine Milchsuppe gekocht, die mir ganz besonders mundete, da ich seit jenem Reisfrühstück in Gesellschaft der Generalität, nichts Warmes mehr gegessen hatte.
Homburg indessen sollte noch erreicht werden, und um zehn Uhr abends rückten wir in seine Straßen ein. Quartiere erhielten wir im Ratskeller, in einem weitläufigen Gemach, das schon vorher mit vielen Verwundeten belegt worden war. Uns blieb nur, wie in der Nacht vorher, ein kleines Plätzchen zum Stehen übrig. Hart an uns vorüber trug oder führte man die Verstümmelten. Eine Hölle war uns dieser Aufenthalt; das war »gekerkert im Kerker«. Unbegreiflich und wunderbar war es uns allen und ist es mir noch in dieser Stunde, daß nicht einer dieser Unglücklichen, wütend wie sie waren, uns niedermordete oder doch mißhandelte. Wir erwarteten es jeden Augenblick, aber es blieb bei Fluch und Verwünschung. Ein oder anderthalb Stunden mochten wir in diesem Zustande zugebracht haben, bittend, flehend, daß man uns aus dieser Höhle des Jammers fortführen möge. Alles umsonst. Endlich, aufs äußerste empört, begannen wir selbst zu toben und zu fluchen. Das half. Man brachte uns in ein Wirtshaus, in dem ein französischer Artilleriegeneral logierte. Dieser teilte seine Stube mit uns und behandelte uns mit vieler Artigkeit. Wir ließen uns ein gutes Nachtmahl schmecken, legten uns auf Streu oder Stühle und vergaßen in festem Schlaf die bittern Erlebnisse des letzten Tages.
Den 1. Dezember 1793. Morgens beim Erwachen war der General fort; wir haben auch später seinen Namen nicht erfahren können. Unser Frühstück, Kaffee und Zubehör, stand bereit, wir ließen es uns schmecken und weiter ging es bis Zweibrücken. Hier führte man uns auf den Marktplatz, wo denn alsbald alles, was nur Raum finden konnte, sich an uns herandrängte. Wir fürchteten ein Dacapo des Spiels vom vorigen Tage, aber es unterblieb; teils waren hier keine Blessierten, teils war die erste Wut schon verraucht; zudem befanden wir uns hier zumeist unter Linientruppen. In ihrem Beisein waren wir in der Regel vor groben Beleidigungen sicher. Jeder von uns ward von einem ganzen Haufen umzingelt, alles schwatzte und frug auf uns ein, frug immer von neuem und immer etwas anderes, ohne unsere Antworten abzuwarten. Dabei reichten sie uns Kognak und Brot, sprachen uns Mut zu und hießen uns guter Dinge sein. Genug, das Ganze dieser Szene war menschenfreundlich und gutartig, wenn ich einige Tölpel ausnehme, die grob wurden, weil wir ihnen kein Gegenprosit mehr zutrinken wollten. Einer den ich bat, mich nicht weiter zu nötigen, erklärte laut: »ich sei ein Emigrierter, er kenne mich«. Dabei nahm er mein Pferd beim Zügel und wollte mich zum Repräsentanten abführen. Doch kam es nicht soweit, einige andere bedeuteten ihm seinen Unsinn und drängten ihn weg.
Nach einer halben Stunde führte man uns auf die Hauptwache. Hier wiederholten sich die Szenen vom Marktplatz, aber schon nach kürzester Frist wurden wir weiter geschleppt, und zwar in das Gefängnis der Stadt; wir drei Offiziere kamen in die Armesünderstube. Wohl allenthalben sind sich diese Lokalitäten so ziemlich ähnlich. Das erste, was mir ins Auge fiel, war eine mit Kohle an die Wand geschriebene Zeile: »Der nächste Gang von hier geht zum Galgen.« Nun durften wir zwar annehmen, diesen Gang nicht tun zu dürfen, nichtsdestoweniger wirkte diese Zeile sehr unangenehm auf meine Empfindung und stand mir immer vor Augen. Sie war ein häßliche und beständige Mahnung an das höchst Kritische unserer Lage. Der Gefangenenwärter frug, »ob wir Geld hätten, um uns durch seine Vermittelung Lebensmittel kaufen zu können«, eine Frage, die wir leider verneinen mußten. Er schüttelte den Kopf, setzte einen Krug mit Wasser hin und wies auf einen andern größern Kübel; zugleich versprach er Brot und Streustroh zu bringen. Wir waren wie versteinert; doch kam ich mit Hilfe eines listigen Schurken von Gendarmen, deren zwei bei uns geblieben waren, bald zu mir selbst. Freilich nicht auf angenehme Weise. Der Gendarm redete mich an: »Monsieur, il y a bien log temps que je désire à avoir un souvenir d'un officier prussien. Vouz avez là quelque chose, dont vous ne pouvez plus faire usage: votre escarpe: en faite moi présent.« Ich band meine Schärpe ab, erinnerte mich, leider zu spät, der guten Lehren des alten Malwing, schwieg und gab dem Buben, was er spottend von mir erbat. Zugleich mein Letztes. Mit ironischer Höflichkeit bedankte er sich und schritt unter vielen Kratzfüßen zur Tür hinaus. Sein Spießgesell hatte es mit Gottschling ebenso gemacht.
Der Gefangenwärter erschien nun wieder, brachte Streustroh und Leuchtung, fragte nochmals, »ob wir wirklich kein Geld hätten« und bedauerte uns herzlich, als wir ihm unser Nein wiederholten. Der gute, christliche Deutsche beklagte uns sehr und schien in Mitleiden für uns aufzugehen; nichtsdestoweniger vergaß er, uns unser Deputat Brot für den Nachmittag und Abend zu geben. Nur ein Weilchen noch blieb er, um uns Trost und Mut einzusprechen, wünschte uns dann eine wohlzuruhende Nacht und – ging. Das Letzte, was er uns hören ließ, war das Rasseln und Klirren der Schlösser und Riegel.
Nun waren wir mit uns und unserm Elend allein. Mein alter Wilhelmy erlag fast seinem Schicksal: er schwankte zur Streu und wünschte sich laut die ewige Ruhe. Gottschling litt heftige Schmerzen, legte sich auch und hoffte Linderung vom Schlaf. Ich folgte seinem Beispiel. Ein paar Stunden mocht' ich geschlafen haben, als Wilhelmy mich weckte; ihm brannten Kopf und Körper, Gottschling erwachte ebenfalls im heftigsten Wundfieber. Beide lechzten nach Wasser und – Gott! der Krug war leer, ebenso der Kübel. Ich lief in der Stube umher, rief und schrie nach Hilfe; umsonst, unser Kerker war zu abgelegen, als daß irgendwer hören konnte. Ich stieß gegen die Tür, in der Hoffnung, sie zu sprengen, aber Schloß und Riegel waren zu fest. Hinweg, selbst von der bloßen Erinnerung an diese Unglücksnacht.
Den 2. Dezember 1793. Morgens, vielleicht acht Uhr, saß ich an dem Lager meiner beiden Gefährten, vertieft und verloren in unser trübes Geschick. Wilhelmy und Gottschling, trotz Fieber und Durst, waren eben wieder eingeschlafen, als plötzlich die Tür aufging und einige junge Frauenzimmer, deren Bekanntschaft Gottschling vor acht oder zehn Tagen gemacht hatte, mit Kaffee und Semmel bei uns eintraten. Diese gutmütigen Magdalenen, die vielleicht durch den Gefängniswärter von ihm gehört haben mochten, hatten sich mit Mühe und Schwierigkeiten einen Weg zu uns gebahnt und leisteten nun soviel Hilfe, wie in ihren Kräften stand. Auch einen Stadtwundarzt brachten sie mit, um Gottschlings Wunden zu verbinden. Ich weckte nun meine beiden Kranken jubelnd auf, und beide labten und erquickten sich an dem Frühstücks, das ihnen geboten wurde. Unsere barmherzigen Samariterinnen standen uns gegenüber und freuten sich herzlich, daß uns ihre Gabe so vortrefflich mundete; ebenso herzlich war unser Dank. Während des Frühstücks fand sich allerlei Gesellschaft ein: der gute christliche Kerkermeister, dessen Ehegespons, einige Gendarmen, schließlich auch einige Offiziere. Man kam und ging, alle waren voller Mitleid, aber dabei hatte es sein Bewenden.
Im Laufe des Vormittags erschienen: ein Generaladjutant namens Bertrand, mehrere junge Leute von der Adjutantur, endlich auch ein Sekretär, um unsere Charaktere und Namen aufzunehmen. Alle diese Herren, besonders sichtbar und auffallend aber der Erstgenannte (Bertrand), waren äußerst betreten, uns so gemißhandelt zu finden. Der Umstand, daß die Zweibrücker Mädchen uns ein Frühstück und zwar als ein Almosen gereicht, dazu auch einen Arzt uns zugeführt hatten, brachte die Herren vorzugsweise in Verlegenheit. Sie waren Zeugen, daß wir unsere Wohltäterinnen mit einem einfachen »Gott vergelts Euch« bezahlen mußten. Einige der jungen Offiziere versuchten auf mancherlei Art die Sache zu entschuldigen, doch ging es ihnen dabei nur schlecht von statten. Der Umstand, daß man uns in drei Tagen noch kein Zehrungsgeld, am Nachmittag und Abend kein Brot und auf die letzte Nacht auch nicht einmal Wasser, Heizung und Licht zur Genüge gegeben hatte, war nicht wohl zu entschuldigen. Alles, was man für uns getan, war, daß man uns unsere Schärpen geraubt hatte. Bei Aufzählung aller Unbill, die wir erfahren, traten mir die Tränen in die Augen. Bertrand, als er dessen gewahr wurde, trat zu mir heran und hatte freundliche Worte für mich. Es tat mir wohl und ich vermochte mich wieder zu fassen. Nachdem man unsere Namen und Charakter aufgeschrieben, schenkte uns Bertrand unter dem großmütigen Vorwande, »daß es die rückständige Gage sei«, anderthalb Karolin; auch wurde ein Mittagbrot für uns besorgt. Ein Bekannter Wilhelmys, ein verabschiedeter Soldat, der jetzt in Zweibrücken lebte und vor einigen Wochen erst als Handelsmann Wein und andere Lebensmittel ins Lager geliefert hatte, erschien ebenfalls. Dieser verschaffte einem jeden von uns ein Hemd. Infolge davon wurde nun zwar unsere Kasse so gut wie wieder gesprengt, aber dennoch erkauften wir die Glückseligkeit des Wäschewechselns damit nicht zu teuer.
Gegen Mittag brachen wir aus der Zweibrückener Armesünderstube auf und kamen um drei Uhr in Blieskastel an. Man war unschlüssig, wohin mit uns. Nachdem wir wieder dreiviertel Stunden lang auf freier Straße zur Schau ausgestellt gewesen waren, brachte man uns endlich in den »Turm«. Sergeanten und Gemeine bekamen den Raum unterm Dach; wir Offiziere und der Junker aber wurden in die Stube des Stockmeisters einquartiert. Hier fanden wir bereits zehn oder zwölf Geiseln vor, die die französische Armee bei ihrer Retirade aus der umliegenden Gegend mitgenommen hatte.
Hier brechen die Briefe ab. Was ich noch zu erzählen haben werde, steht räumlich in keinem entsprechenden Verhältnis zu dem bis hierher Mitgeteilten. Otto von Rohr samt seinen Leidensgenossen, die wir aus vorstehenden Briefen kennengelernt, wurde nach Frankreich abgeführt und in Nogent sur Seine, etwa siebzig Kilometer von Paris, interniert gehalten. Hier lebte er, ein Jahr lang und darüber, in ungetrübtem Glück, soweit das Leben eines Gefangenen überhaupt ein glückliches sein kann. Die große Zeit störte nicht seine Kreise. In Paris die Schreckensherrschaft, in Nogent Friede. Auf dem Eintrachtsplatze (furchtbare Ironie) fiel Dantons Haupt, und sein blutiger Schatten ging um, bis das Haupt dessen, der ihn stürzte, dem seinen nachgefallen war, – in Nogent aber, als wäre die Welt so klar wie die Sommernacht, die sich jetzt über ihm wölbte, saß Otto von Rohr unter dem Gezweig einer mächtigen Akazie und neben ihm saß Jacqueline, die Tochter des Hauses, halb Kind noch, und hörte ihm zu, wenn er von seiner Heimat erzählte, von den weiten Strecken Sand und der Sumpfniederung, in der ein Fluß laufe, »schilfbestanden und tief und schwarz wie der Styx, der um das Reiche des Todes schleicht«. Dann fragte Jacqueline, »ob dort auch Menschen wohnen?«
»Kaum«, antwortete der Gefangene voll übermütiger Laune, »Halbwilde nur, die schwarzes Brot essen und einen bräunlichen, immer schäumenden Saft trinken, den sie Bier nennen. Und zur Winterzeit machen sie Löcher ins Eis und springen hinein oder jagen tagelang durch den Wald, um Füchse zu fangen und mit dem wilden Eber zu kämpfen. Und wenn sie dann heimkehren, können sie oft ihr Dorf nicht finden, weil es in Schnee versunken ist.« Dann fragte Jacqueline: »Und wie sehen diese Menschen aus?«, worauf dann Otto von Rohr erwiderte: »Genau wie ich, Jacqueline.« Und dann lachten sie beide und hörten nicht, daß ein leises Rauschen, wie ein Klageton, durch den Wipfel der alten Akazie ging.
Denn der alte Baum, der das Leben kannte, wußte, was bevorstand: Trennung. Sie kam; der Baseler Frieden machte den Gefangenen frei. Wieviel Schwüre wurden laut, wieviel Tränen fielen. Eines Tages aber lag alles zurück wie ein Traum, und nur zweierlei war noch wahr und wirklich: das Leid im Herzen Jacquelines und eine kleine seidengestickte Henkelbörse, die sie dem Scheidenden zum Abschiede gereicht hatte. Darin befand sich eine Schaumünze mit ihrem Lieblingsheiligen darauf, und – ein Samenkorn von dem Akazienbaum, unter dem sie so oft gesessen.
Dies Samenkorn ist in Trieplatz aufgegangen. Es ist derselbe Baum, der (womit wir diese Erzähung einleiteten) vom Park aus in das Gartenzimmer blickt.