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Eine kommunistische Pädagogik

Psychologie und Ethik sind die Pole, um die sich die bürgerliche Pädagogik gruppiert. Man soll nicht annehmen, sie stagniere. Es sind in ihr beflissene und bisweilen auch bedeutende Kräfte am Werk. Nur können sie nichts dawider, daß die Denkungsart des Bürgertums hier wie in allen Bereichen auf eine undialektische Weise gespalten und in sich zerrissen ist. Auf der einen Seite die Frage nach der Natur des Zöglings: Psychologie der Kindheit, des Jugendalters, auf der anderen das Erziehungsziel: der Vollmensch, der Staatsbürger. Die offizielle Pädagogik ist das Verfahren, diese beiden Momente – die abstrakte Naturanlage und das chimärische Ideal – einander anzupassen, und ihre Fortschritte liegen dabei in der Linie, zunehmend List an Stelle der Gewalt zu setzen. Die bürgerliche Gesellschaft hypostasiert ein absolutes Kindsein oder Jungsein, dem sie das Nirwana der Wandervögel, der Boyscouts anweist, sie hypostasiert ein ebenso absolutes Menschsein und Bürgersein, das sie mit den Attributen der idealistischen Philosophie schmückt. In Wirklichkeit sind beides aufeinander eingespielte Masken des tauglichen, sozial verläßlichen, standesbewußten Mitbürgers. Das ist der unbewußte Charakter dieser Erziehung, dem eine Strategie der Insinuationen und Einfühlungen entspricht. »Die Kinder brauchen uns nötiger als wir sie«, das ist die uneingestandene Maxime dieser Klasse, die noch den subtilsten Spekulationen ihrer Pädagogik genau so zugrunde liegt wie ihrer Praxis der Fortpflanzung. Dem Bürgertum steht sein Nachwuchs gegenüber als Erbe; den Enterbten als Helfer, Rächer, Befreier. Das ist der hinreichend drastische Unterschied. Seine pädagogischen Folgen sind unabsehbar.

Zunächst geht die proletarische Pädagogik nicht von zwei abstrakten Daten aus, sondern von einem konkreten. Das Proletarierkind ist hineingeboren in seine Klasse. Genauer in den Nachwuchs seiner Klasse, nicht in die Familie. Es ist von vornherein ein Element dieses Nachwuchses, und was aus ihm werden soll, bestimmt kein doktrinäres Erziehungsziel, sondern die Lage der Klasse. Diese Lage ergreift ihn vom ersten Augenblick an, ja schon im Mutterleibe, wie das Leben selbst, und die Berührung mit ihr ist ganz danach angetan, von früh auf in der Schule von Not und Leiden sein Bewußtsein zu schärfen. Es wird zum Klassenbewußtsein. Denn die Proletarierfamilie ist dem Kinde kein besserer Schutz vor schneidender sozialer Erkenntnis, als sein zerfranstes Sommermäntelchen vorm schneidenden Winterwind. Edwin Hoernle1 gibt Beispiele genug von revolutionären Kinderorganisationen, spontanen Schulstreiks, Kinderstreiks bei der Kartoffelernte usw. Was seine Gedankengänge noch von den aufrichtigsten und besten auf bürgerlicher Seite unterscheidet, ist, daß sie nicht das Kind, die kindliche Natur allein ernst nehmen, sondern auch die gesellschaftliche Lage des Kindes selbst, die sich der »Schulreformer« niemals wirklich kann zum Problem werden lassen. Ihm hat Hoernle den eindringlichen Schlußabsatz seines Buches gewidmet. Dieser hat es mit den »Austromarxistischen Schulreformern« und dem »Scheinrevolutionären pädagogischen Idealismus« zu tun, die gegen die »Politisierung des Kindes« Protest erheben. Aber – weist Hoernle nach – was sind Volks- und Berufsschule, Militarismus und Kirche, Jugendverbände und Pfadfinder ihrer verborgenen, doch exakten Funktion nach anderes als Werkzeuge einer antiproletarischen Schulung der Proletarier? Ihnen stellt sich die kommunistische Erziehung freilich nicht defensiv, sondern als eine Funktion des Klassenkampfes entgegen. Des Kampfs der Klasse für die Kinder, die ihr gehören und für die sie da ist.

Erziehung ist Funktion des Klassenkampfes, aber nicht nur das. Sie stellt dem kommunistischen Credo nach die restlose Auswertung der gegebenen Umwelt im Dienst der revolutionären Ziele dar. Da diese Umwelt nicht nur Kampf ist sondern Arbeit, stellt die Erziehung sich zugleich als revolutionäre Arbeitserziehung dar. In deren Programm gibt die Schrift ihr Bestes. Sie führt damit zugleich in das der Bolschewisten an einem sehr entscheidenden Punkte ein. In Rußland hat in der Ära Lenin die bedeutungsvolle Auseinandersetzung der mono- und der polytechnischen Bildung stattgefunden. Spezialisierung oder Universalismus der Arbeit? Die Antwort des Marxismus lautet: Universalismus. Nur indem der Mensch die verschiedensten Milieuveränderungen erfährt, in jeder Umwelt von neuem seine Energien im Dienst der Klasse mobil macht, kommt er zu jener universalen Aktionsbereitschaft, die das kommunistische Programm dem entgegenstellt, was Lenin als den »widerlichsten Zug der alten bürgerlichen Gesellschaft« bezeichnet: dem Auseinanderklaffen von Praxis und Theorie. Die kühne, unberechenbare Personalpolitik der Russen ist gänzlich das Erzeugnis dieser neuen, nicht humanistischen und kontemplativen, sondern aktiven und praktischen Universalität; der Universalität des Bereitseins. Die unabsehbare Verwendungsmöglichkeit der nackten menschlichen Arbeitskraft, die das Kapital dem Ausgebeuteten allstündlich zum Bewußtsein bringt, kehrt auf höchster Stufe als polytechnische Durchbildung des Menschen im Gegensatz zur spezialistischen wieder. Das sind Grundsätze der Massenerziehung, deren Fruchtbarkeit für die der Heranwachsenden mit Händen zu greifen ist.

Trotzdem ist es nicht leicht, Hoernles Formulierung, daß die Erziehung der Kinder sich in nichts Wesentlichem von der erwachsener Massen unterscheide, ohne Vorbehalt hinzunehmen. So gewagte Erkenntnisse bringen es zum Bewußtsein, wie wünschenswert, ja nötig es gewesen wäre, das politische Expose, das hier vorliegt, durch ein philosophisches zu ergänzen. Aber freilich: alle Vorarbeiten zu einer marxistischen, dialektischen Anthropologie des proletarischen Kindes fehlen. (Wie denn auch das Studium des erwachsenen Proletariers seit Marx nichts Wesentliches gewonnen hat.) Diese Anthropologie wäre nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit der Psychologie des Kindes, an deren Stelle die ausführlichen, nach den Prinzipien materialistischer Dialektik durchgearbeiteten Protokolle derjenigen Erfahrungen zu treten hätten, die in den proletarischen Kindergärten, Jugendgruppen, Kindertheatern, Wanderbünden gemacht worden sind. Das vorliegende Handbuch ist baldmöglichst durch sie zu ergänzen.

Ein Handbuch in der Tat, aber mehr als das. In Deutschland gibt es außerhalb des politischen und ökonomischen Schrifttums keine orthodox-marxistische Literatur. Das ist die Hauptursache von der erstaunlichen Unwissenheit der Intellektuellen – mit Einschluß der linken – in marxistischen Dingen. Die Schrift von Hoernle belegt an einem der elementarsten Stoffe, der Pädagogik, mit autoritativer Schärfe, was orthodox-marxistisches Denken ist und wohin es führt. Man soll sie zu Herzen nehmen.



  1. Edwin Hoernle, Grundfragen der proletarischen Erziehung. Berlin: Verlag der Jugendinternationale (1929). 212 S.